Ich entdeckte Kurt Tucholsky erst nach meiner Rückkehr Ende 1951 nach Österreich. Damals publizierte der Rohwolt Verlag einige seiner Bücher im preiswerten rororo Taschenbuchformat. Nach der Lektüre der ersten beiden rororo-Taschenbücher von Tucholsky wußte ich wie verlogen das damals allgemein vorgebrachte Argument war, „uns hat ja niemand gewarnt“, „wir konnten ja nicht wissen“ was auf uns zukommt…
Von Karl Pfeifer
Doch die meisten Deutschen (und Österreicher) wollten nicht auf linke, »jüdisch-zersetzende« Schreiber der Zeitschrift »Die Weltbühne« hören. Selbst Thomas Mann, wahrlich kein Linker, sprach 1931 deutlich aus, daß Deutschland »stündlich bereit« sei, wieder in den Krieg zu ziehen, »und zwar in einen, der an geistiger Verworfenheit den vorigen notwendig bei weitem übertreffen, den keine Tragik mehr entschuldigen und verschönen würde, sondern der nichts wäre als wissentliche Lasterhaftigkeit und der Zynismus des Untergangs«.
Tucholsky ließ sich zwar irgendwann mal taufen, aber er wurde trotzdem von den Rechten als Jude und Linker geschmäht. Nach seiner Flucht nach Schweden mußte er erkennen, dass die meisten Deutschen mit dem „Dritten Reich“ gut leben konnten. Vor 75 Jahren am 21. Dezember 1935 starb Kurt Tucholsky in Schweden unter bis heute nicht geklärten Umständen.
Hätte mir jemand gesagt, dass ich wegen Kurt Tucholsky 60 Jahre nach seinem Tod in österreichischen Gerichten als Angeklagter stehen würde, dann hätte ich das nicht geglaubt, doch es geschah trotzdem. Als ich 1995 kurz vor meiner Pensionierung als Redakteur der offiziellen Zeitschrift der IKG Wien einen nichteinmal zwei Spalten Raum in der Zeitschrift füllen mußte, kam mir die Idee dort eine Rezension des von Andreas Mölzer, Lothar Höbelt und Brigitte Sob redigierten Freiheitliche Jahrbuch 1995 zu publizieren.
Ich blätterte den ca 850 Seiten umfassenden Sammelband durch und fand in einem 52seitigen Aufsatz des österreichischen Politikwissenschaftlers Dr. Werner Pfeifenberger den folgenden Absatz:
Auf der Gegenseite sah es ungefähr zur selben Zeit nicht anders aus. Der internationalistische Hasser, Kurt Tucholski meinte, den Menschen seines deutschen Gastlandes gesamthaft den Gastod wünschen zu müssen, weil sie ihm viel zu nationalistisch dachten: „Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, daß sie einen bitteren, qualvollen Tod finden, alle zusammen… Wer aber sein Vaterland im Stich läßt in dieser Stunde, der sei gesegnet.“3 Wie aus dem Text ersichtlich ist, ging es Tucholsky eigenartigerweise gar nicht so sehr darum, seine unmittelbaren Feinde vergast zu wissen, sondern deren nächste Angehörige. Es ist ein Kennzeichen ideologischer Hasser, daß sie ihr Feindbild nicht auf ihre Gegner beschränken, sondern großen Wert auf Sippenhaftung legen, die sich durchaus auch über nachwachsende Generationen erstrecken kann.
In meiner kurzen Rezension, die in der Gemeinde im Februar 1995 erschien schrieb ich dazu: „Der Autor lügt aufgrund von sinnwidrigen, aus dem Kontext gehobenen Zitaten: ”Der internationalistische Hasser, Kurt Tucholski (sic!) meinte, den Menschen seines deutschen Gastlandes gesamthaft den Gastod wünschen zu müssen, weil sie ihm viel zu nationalistisch dachten.” Das ist Nazidiktion. Die Nazis haben die Bücher des deutschen Schriftstellers Kurt Tucholsky verbrannt, sie haben behauptet Juden können keine Deutschen sein.“ Und wurde prompt von Dr. Pfeifenberger dem ich auch vorwarf, „die alte Nazi-Mär von der jüdischen Weltverschwörung langatmig“ aufzuwärmen wegen „übler Nachrede“ geklagt. Richter Dr. Werner Röggla meinte, man könne ihm nicht zumuten über Tucholsky Bescheid zu wissen und so wurde Univ.Prof. Dr. Rudolf Ardelt zum Experten bestimmt.
Dieser stellte in seinem 1997 vorgelegten gerichtlichen Gutachten zum Thema Kurt Tucholsky fest:
„2. Zur Frage der sinnwidrigen Zitierung von Kurt Tucholsky
Der PA [Privatankläger Dr. Werner Pfeifenberger] stellt auf den Seiten 520-521 zwei Zitate als „Aussagen zweier antagonistischer Hasser“ (S. 520) einander gegenüber – das eine aus Adolf Hitlers „Mein Kampf, das andere aus einem Artikel des Schriftstellers Kurt Tucholsky, „Dänische Felder“ aus der pazifistischen Zeitschrift „Die Weltbühne“ (1927, Nr. 30, S. 152f.).
Das zweite Zitat leitet der PA folgendermaßen ein:
„Der internationalistische Hasser, Kurt Tucholski meinte, den Menschen seines deutschen Gastlandes gesamthaft den Gastod wünschen zu müssen, weil sie ihm viel zu nationalistisch dachten.“ (S. 521)
Der Beklagte [Karl Pfeifer] stellt in seinem Artikel dazu fest:
„Der Autor lügt aufgrund von sinnwidrigen, aus dem Kontext gehobenen Zitaten.“
Tatsächlich gibt der PA den Kontext des Zitates sinnwidrig und aus dem Kontext herausgelöst wieder:
Erstens ist festzuhalten, daß Kurt Tucholsky als einer der schärfsten Kritiker der illegalen Wiederaufrüstung der Reichswehr war und gegen die militaristische Aufrüstungspropaganda in der Weimarer Republik neben anderen Autoren in der Zeitschrift „Weltbühne“ auftrat, weiters ist festzuhalten, daß Kurt Tucholsky einen radikal pazifistischen Standpunkt vertrat, der den Krieg in jeder Form ablehnte, vor allem aber das Grauen des Krieges auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges – vor allem im Zusammenhang mit der Verwendung von Giftgas in der Kriegsführung – bewußt zu machen versuchte.
Der Artikel „Dänische Felder“ schildert eine dänische Landschaft in ihrer Idyllik, die auch während des Ersten Weltkrieges vom Krieg verschont geblieben war. Dem stellt er den Krieg gegenüber als „Mord“ – „ein von den Schmöcken, den Generälen und den Feldpredigem besungenes Pflichtereignis.“ Im folgenden geht Tucholsky darauf ein, daß das Ende des Krieges kein Ende eines bestimmten Denkens darstellte:
„Und so selbstverständlich wie die Mücken tanzen, so selbstverständlich ist den Mördern und ihren Kindern Untat Fortsetzung der Untat und Propagierung der Untat. Es geschieht so viel für die Erotik. Es gibt Anreiz, Mode und Tanz, bunte Farben und Pornographie. Es geschieht so wenig gegen den nächsten Krieg…“
Kurt Tucholsky wendet sich als nicht nur gegen die von ihm als militaristisch gesehene Propaganda der „Rechten“ der Weimarer Republik, sondern auch gegen den Mangel an Widerstand gegen diese Propaganda, gegen die Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr eines ..nächsten Krieges“. Um die nächsten Passagen zu verstehen, ist es wichtig im Auge zu behalten, daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches während des Ersten Weltkrieges selbst nicht unter direkten Kriegseinwirkungen zu leiden hatte und daher auch keine Erfahrungen hinsichtlich der Realität eines „Krieges“ besaß.
Tucholsky setzt den letzten Satz folgendermaßen fort:
„Es geschieht so wenig gegen den nächsten Krieg, bei dem euch die Gedärme, so zu hoffen steht, auch in den Städten über die Stuhllehnen hängen werden. Es müßte jeden Abend in den Films (sic!) laufen, wie es gewesen ist das mit dem Sterben.“
Dann folgt die vom PA zitierte Passage bezüglich des Gases – analog der Verwendung von Giftgas an den Fronten des Ersten Weltkrieges.
Darauf fahrt Tucholsky fort (beim PA durch „…“ gekennzeichnet):
„…daß sie einen bittern qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie so wollen. ohne es zu wollen. Weil sie faul sind. Weil sie nicht hören und nicht sehen und nicht fühlen…. Wer aber sein Vaterland im Stich läßt in dieser Stunde, der sei gesegnet. Er habe seine schönsten Stunden in einer dänischen Landschaft“
Es handelt sich also hier um eine Polemik gegen die Gleichgültigkeit gegenüber der Propagierung eines „nächsten Krieges“, die mit äußerst drastischen Bildern arbeitet, die man geschmacklos bis verwerflich finden kann. D. h. er wünscht Menschen, die die Erfährung des Gaskrieges nicht gemacht haben, ihn aber propagieren oder gleichgültig gegenüber der erneuten Gefahr eines solchen Krieges sind, eben diese Erfährung. Dahinter steht aber sehr deutlich, daß erst ein solches Erleben dazu führt könnte, daß die Menschen „hören“, „sehen“ und „fühlen“. Daß Tucholsky jeweils die Angehörigen nennt, wird verständlich durch die vom PA ausgelassenen drei Sätze, da er auch eben diesen Menschen Gleichgültigkeit vorwirft – und sie daher an ihre Mitverantwortung erinnert.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß ohne Berücksichtigung der anderen Teile des Textes und ohne Berücksichtigung des historischen Kontextes der Ausführungen Kurt Tucholskys der „Sinn“ des Zitates vom PA entstellt wird.
Tatsachenwidrig ist die Behauptung des PA, daß Tucholsky in diesem Artikel „den Menschen seines deutschen Gastlandes gesamthaft den Gastod wünschen zu müssen“ meinte, d.h. also, daß Tucholsky allen Deutschen den Gastod gewünscht habe. Ein sicher dem PA unverdächtiger Autor wie Ernst Nolte schreibt (im Zusammenhang mit dem sogenannten „Historikerstreit“), daß Kurt Tucholsky „den Frauen und Kindern der deutschen Bildungsschicht in plastischen Wendungen des Gastod“ wünscht.
(Ernst Nolte, Die Sache auf den Kopf gestellt Gegen den negativen Nationalismus in der Geschichtsschreibung, in: „Historikerstreit*‘. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München-Zürich 1987, S. 228 Original in : Die Zeit, 31. 10.1986)
Nolte schränkt also den Adressatenkreis von Tucholskys Wunsch wesentlich ein. Nolte weist außerdem darauf hin, daß ihm die Äußerungen Tucholskys in der „rechtsradikalen Literatur“ begegnet seien und bemerkt dazu: „Allerdings sollten sie nicht in solcher Isolierung zitiert werden, wie es dort durchwegs geschieht, und darin würde eben der angemessene Unterschied zwischen den beiden Arten der Literatur evident werden.“ (Als zweite Art der Literatur meint Nolte die zeitgenössische völkische Presse und deren Sprache) Dieses Urteil trifft auch auf die Ausführungen des PA zu.
Der PA behauptet außerdem, daß es Tucholsky „eigenartigerweise gar nicht so sehr darum, seine unmittelbaren Feinde vergast zu wissen, sondern deren nächste Angehörige,“ gegangen sei. Auch dies ist eine tatsachenwidrige Behauptung, die durch den Text in keiner Weise zu belegen ist:
Tatsächlich schreibt Tucholsky in keinem Teil seines Artikels von „Vergasung“ – was eine eindeutige Assoziation zu den nationalsozialistischen Verbrechen im Rahmen des Tötungsprogrammes T4 gegen Behinderte sowie in den Vernichtungslagern gegen Juden, Roma und Sinti herstellt -, sondern ganz eindeutig vom Gastod in Form der Erfahrung des Gaskrieges. Es ist in keiner Weise gerechtfertigt, Kurt Tucholsky explizit oder implizit als Propagandisten einer „Vergasung“ von politischen Gegnern und ihren Angehörigen oder gar „der Menschen“ seines „Gastlandes“ „gesamthaft“ darzustellen.
Zusammenfassend ist daher festzustellen: Die Ausführungen des PA zu Kurt Tucholsky lösen die Ausführungen aus ihrem textlichen und historischen Kontext und geben sie daher sinnwidrig wieder. Darüber hinaus stellt der PA außerdem eindeutig tatsachenwidrige Behauptungen über die Äußerungen Kurt Tucholskys und dessen Intentionen auf, die durch den Text nicht zu belegen sind bzw. dem Text widersprechen. Von dem PA als Wissenschaftler ist jedoch zu erwarten, daß er entsprechend dem „wissenschaftlichen“ Anspruch seiner Ausführungen zumindest die von Ernst Nolte genannten Kriterien einhält.“
Soweit Univ¬.Prof. Dr. Rudolf Ardelt
1998 wurde ich vom Wiener Oberlandesgericht in letzter Instanz freigesprochen. Es sollte noch vier Prozesse wegen dieser Angelegenheit geben und ich mußte ein Verfahren gegen die Republik Österreich beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof [EMGR] einleiten. Am 15. Februar 2008 wurde das Urteil des EMGR zu meinen Gunsten rechtskräftig.
Wie man daraus ersehen kann, noch sechzig Jahre nach seinem Tod blieb Kurt Tucholsky auch in Österreich aktuell.