Für die meisten Menschen ist ein Ereignis, das sich vor dreieinhalbtausend Jahren zugetragen hat, nicht unbedingt ein wichtiger Teil ihres Lebens. Für Dieter Graumann schon. Auf die Frage, was ihn zur Kandidatur für das Amt des Zentralratspräsidenten bewogen habe, antwortet er ohne Zögern: „Jeder Jude hat auch die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Kette der Generationen, die vor dreieinhalbtausend Jahren am Berg Sinai begonnen hat, niemals abreißt. Das ist die Herausforderung von Juden in jeder Generation, immer wieder aufs Neue“…
Ein Porträt des neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland
Damit ist Graumann fest in der Vorstellungswelt des Judentums verwurzelt: Nach jüdischer Tradition waren die Seelen aller Juden, jener die damals lebten wie jener, die in allen künftigen Generationen geboren werden sollten, bei der g’ttlichen Offenbarung am Berg Sinai zugegen. Das ist ein Bild, das die Generationen nicht nur in chronologischer Abfolge anordnet, sondern sie auch in einer ideellen Gleichzeitigkeit vereint. Für den nicht orthodoxen, aber gläubigen Juden Graumann ist jener Moment Teil seiner Gegenwart.
Dass Graumann sein neues Amt übernimmt, entbehrt übrigens nicht eines paradoxen Elements. Seine Eltern, beide in Polen geboren, hatten den Holocaust in Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern der Nazis überlebt. Nach dem Krieg verschlug es beide in das unweit von Frankfurt gelegene DP-Lager Zeilsheim. Dort lernten sie sich kennen und heirateten. Als die Mutter, Czesia (Czeslawa), schwanger war, verließen die Eltern Deutschland, um ein neues Leben in Israel aufzubauen. So kam ihr kleiner Sohn im Jahre 1950 in Ramat-Gan zur Welt. Dort kam der gesundheitlich nach der KZ-Zeit schwer angeschlagene Vater Salomon (Schlomo) aber nicht mit der Hitze zurecht. Nach anderthalb Jahren ging es deshalb wieder Richtung Europa, zuerst kurz nach Frankreich und dann zurück nach Deutschland. Wenngleich die Deutschland-Reise nur von kurzer Dauer sein sollte, blieb die Familie letztendlich in Frankfurt.
Nicht ohne Ängste. Als der Sohn eingeschult werden sollte, wollten ihn die Eltern vor antisemitischen Anfeindungen schützen und schärften ihm ein, seinen hebräischen Namen – David – gegenüber der Schulobrigkeit und den Mitschülern zu verschweigen. Von heute an, ermahnten sie ihn, werde er Dieter heißen. Das Manöver misslang auf der ganzen Linie. Als die ABC-Schützen nämlich nach ihrer Religionszugehörigkeit gefragt wurden, antwortete der frischgebackene Dieter: „jüdisch“. So war das vermeintliche Geheimnis noch am selben Tag gelüftet. Der Name aber blieb, obwohl der Junge ihn gar nicht mochte und auch heute nicht sonderlich schön findet. „Als ich groß genug war, um ihn ändern zu können“, zuckt er mit den Schultern „war es dafür schon zu spät“.
Das Zuhause der Graumanns war nicht religiös. Dennoch schickten die Eltern Dieter mit neun Jahren auf ein streng orthodoxes jüdisches Internat in der Schweiz. Dort verbrachte er anderthalb Jahre. „Danach habe ich versucht, meine Eltern von einem orthodoxen Lebenswandel zu überzeugen“, erinnert er sich. Es blieb beim Versuch, doch ist Graumann bis heute für das umfassende jüdische Wissen dankbar, das ihm damals vermittelt wurde. Derweil konnte die Familie in Frankfurt Fuß fassen. Salomon Graumann eröffnete ein Imbissrestaurant und war später auf dem Immobilenmarkt erfolgreich. Dieter absolvierte das Gymnasium, studierte Volkswirtschaftslehre und promovierte auch in dem Fach. Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Deutschen Bundesbank machte er sich mit einer eigenen Immobilienverwaltung selbständig. Die Firma führt er bis heute. Mit seiner Frau, Simone, einer gelernten Apothekerin, hat er zwei Kinder.
Graumanns wichtigstes Hobby, neben seiner Leidenschaft für den Fußball, ist das Lesen – oft mehrere Bücher zur gleichen Zeit. Einer seiner Lieblingsautoren ist der jiddischsprachige Literaturnobelpreisträger Jitzchak Baschewis Singer. Wie kein Anderer habe Singer in seinen Werken die untergegangene jüdische Welt Osteuropas verewigt. Zu Jiddisch hat Graumann ohnehin ein liebevolles Verhältnis. „Meine Eltern haben mit mir eine spezielle Mischung aus Jiddisch und Deutsch gesprochen, doch bin ich vor allem mit Jiddisch aufgewachsen. „Wenn man so will, war Deutsch meine erste Fremdsprache“.
Das Verhältnis zu den Eltern war und ist sehr eng. Der erste Gang eines jeden Tages führt Graumann auch heute zu ihnen. Allerdings sind Vater und Mutter von der neuen Position des Sohnes nicht begeistert und fürchten, er exponiere sich zu sehr – eine Haltung, die in der Generation der Überlebenden keineswegs selten ist. Für den nachgeborenen Sohn jedoch ist jüdisches Engagement eine Selbstverständlichkeit. Bereits seit vielen Jahren ist Graumann in der jüdischen Gemeinde in Frankfurt aktiv. Im Jahre 1985 nahm er am Protest gegen Rainer Werner Fassbinders antisemitisches Theaterstück „Die Stadt, der Müll und der Tod“, das in Frankfurt aufgeführt werden sollte, teil. Dafür musste er sich von linken Gegendemonstranten als „Feind der Freiheit der Kunst“ beschimpfen lassen. Davon freilich ließ er sich nicht beirren und glaubt auch heute, dass die damalige Protestaktion ein Wendepunkt im Leben der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland war. „Damals begehrten Juden als selbstbewusste Bürger mit einer Demonstration gegen antijüdische Hetze auf“, resümiert Graumann: „Es war ein Akt der Emanzipation“.
Emanzipiertes jüdisches Leben in Deutschland ist das Modell, für das Graumann bis heute eintritt. Wenn nötig, so seine Philosophie, müssen sich Juden gegen Antisemitismus in all seinen Formen energisch zur Wehr setzen und ihre Belange energisch und offensiv vertreten, und zwar ohne sich auf welche Art und Weise auch immer zu verstecken. Das hat er in seiner Rede zum Jahrestag der „Reichskristallnacht“ in der Frankfurter Paulskirche betont. „Wir setzen uns kämpferisch und energisch und konsequent, mit Feuer und Leidenschaft für all das ein, was wir für richtig halten“ verkündete er und fügte nicht ohne Ironie hinzu; „Niemand möge fürchten, oder gar hoffen, dass unsere Konfliktbereitschaft verloren ginge“. Gleichzeitig aber ist jüdisches Leben im demokratischen deutschen Staat für ihn nicht nur legitim, sondern inzwischen ein fester Teil der jüdischen wie der deutschen Realität. Das sagt er genauso eindeutig, wie er Kritik zu üben versteht. „Noch niemals“, erklärte er denn auch in der Paulskirche „haben Juden hier so frei und so gut leben können wie gerade jetzt“. In vielen jüdischen Kreisen außerhalb, in dem einen oder anderen Fall vielleicht auch innerhalb der Bundesrepublik löst solches Lob an die Adresse Deutschlands noch immer Unbehagen aus. Das weiß der neue Zentralratspräsident und respektiert es auch. Ein Grund, mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten, ist das für den emanzipierten, engagierten Bürger Graumann jedoch nicht.
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