Rechilut: Zunge im Zaum

0
36

Die jüdische Tradition verbietet es, Schlechtes von anderen weiterzuerzählen – selbst wenn es stimmt…

Von Rabbiner Tom Kucera, Jüdische Allgemeine

Die Paraschat Chaje Sara, das Leben Saras, ist dem Namen ein Widerspruch, weil sie gleich in den ersten zwei Sätzen von Saras Tod spricht. Als ob das Leben und der Tod auf eine geheimnisvolle Weise verbunden wären. Dieses möglicherweise entfernt philosophische Thema stellt auf eine praktische Weise der Midrasch Tanchuma dar. Er füllt eine Lücke in der Tora aus und beantwortet die Frage, warum Sara gestorben ist.

Paraschat Chaje Sara
Der Wochenabschnitt Chaje Sara beginnt mit dem Tod Saras und dem Kauf der Grabstätte »Mearat Hamachpela« durch Awraham. Dieser Kauf wird sehr ausführlich geschildert. Später beauftragt Awraham den Knecht Elieser, für seinen Sohn eine geeignete Frau zu suchen. Elieser findet in Riwka die richtige Partnerin für Jitzchak. Auch Awraham bleibt nicht allein, er heiratet eine Frau namens Ketura. Schließlich stirbt er und wird in der Höhle begraben, in der auch Sara beigesetzt ist.
1. Buch Moses 23,1 – 25,18

Der Midrasch führt uns geradewegs zu dem Augenblick, als Awraham die Hand mit dem Messer gegen seinen Sohn erhebt und der Bote (Malach) ihn anhält. Just in diesem Moment kommt im erwähnten Midrasch der Widersacher (Satan) zu Sara und zeigt ihr ein Bild von Jitzchak. Sara fragt bestürzt: »Mein Sohn, was hat dein Vater mit dir gemacht?« Und Jitzchak erzählt seiner Mutter lebhaft und hemmungslos: »Mein Vater hat mich auf eine Reise mitgenommen, wir sind durch Berge und Täler gegangen, bis wir einen hohen Berg erreicht haben. Da hat er einen Altar aufgebaut, Holz darunter- und mich daraufgelegt, hat das Messer genommen und wollte mich töten. Doch dann hörten wir eine Stimme, die ihm sagte, er solle es nicht tun. Ansonsten wäre ich tot.« Der kleine Jitzchak erzählt und möchte weiter erzählen, doch Sara ist in dem Augenblick dem Midrasch zufolge umgefallen und gestorben.

Geheimnisse
Der Midrasch klärt gern über versteckte Verbindungen auf oder stellt mögliche Zusammenhänge her. Dadurch werden uns ethische Überlegungen angeboten, besonders wenn wir daran denken, warum der Widersacher Sara Jitzchaks Bild gerade in dem kritischen Augenblick zeigt. Satan hat genau gewusst, wie sich kleine Kinder verhalten: Hemmungslos und naiv plappern sie Geheimnisse und Details aus, die wir lieber nicht erwähnt haben wollen.

Aber hat das Kind etwas Falsches gesagt? Auf keinen Fall. Jitzchak hat lediglich seine wirklichen Eindrücke beschrieben, obwohl er gar nicht voraussehen konnte, welche Katastrophe das bei seiner Mutter bewirkt. Doch gerade damit hat der Widersacher gerechnet und sehr klug, wenngleich sehr falsch, gehandelt. Was lernen wir daraus? Dass wir die Wahrheit oft nicht sagen können, besonders wenn wir ahnen oder sogar wissen, welche negativen Folgen dies hätte.

Dass unter Umständen eine Wahrheit nicht ausgesprochen werden soll, hat in unserer Tradition auch einen Namen: Rechilut. Ins Deutsche wird dies oft mit »Verleumdung« übersetzt, doch das trifft es nicht. Denn bei Rechilut wird im Grunde etwas Wahres erzählt. Zu erwähnen, dass eine Person faul ist, nicht gut kochen kann oder in der Vergangenheit irgendjemand betrogen hat, gehört aber nach der jüdischen Tradition nicht an die Öffentlichkeit. Vielleicht wäre es besser, statt von Verleumdung eher von Diskreditierung oder Ehrverletzung zu sprechen.

Talmud
Rechilut geschieht fahrlässig, nebenbei. Wenn dahinter eine Absicht steckt, spricht man von »Laschon hara«, übler Nachrede. Sowohl Rechilut als auch Laschon hara verbreiten eine wahre Nachricht. Dem Talmud nach ist es eines der größten Verbrechen, das die drei Kapitalverbrechen Götzendienst, Mord und sexuelle Immoralität sogar noch übertrifft. Trotzdem behauptet der Talmud, kein Mensch entgehe dieser Sünde.

Es ist ein eindringlicher und aktueller Imperativ an uns alle. Wir alle mögen Rechilut und versuchen, sie immer zu rechtfertigen. Im Talmud wird auf dieses Thema immer wieder hingewiesen: Rechilut (oder Laschon hara) ist schlimmer als die Waffen, die nur am unmittelbaren Ort töten. Doch wenn ein Verleumder in Rom spricht, tötet er in Syrien. Oder anders ausgedrückt: Er schreibt eine E-Mail in Berlin und tötet in Freiburg. Dem Talmud nach gleicht Rechilut einem Schlangenbiss, der an einem Glied geschieht, den aber alle anderen Glieder als Schmerz wahrnehmen. Eine Person äußert ganz unauffällig eine Rechilut – und wirbelt damit die halbe Gemeinde auf.

Rechiles trajbn, wie man auf Jiddisch sagt, bedeutet, dass jemand eine verletzende Anmerkung über irgendjemanden hört und sie der betreffenden Person weitererzählt. Es scheint oft berechtigt zu sein: Sie sollte doch wissen, was er über sie denkt, weil sie sich so gut kennen. Gerade diese Annahme stimmt nicht. Wenn wir die gehörten Worte weitererzählen, trajbn wir rechiles – und können Wirbel, Sturm oder Zerstörung bewirken. Mark Twain sagte einmal trefflich: »Dein größter Feind und dein bester Freund können dich tief im Herzen verletzen – der eine durch die ausgedachte Verleumdung, der andere durch die gehörte Nachricht.«

Ausnahmen
Bezüglich der erschütternden Missbrauchsskandale des vergangenen Jahres muss eine der zwei Ausnahmen im jüdischen Gesetz erwähnt werden, in denen wir eine Person doch ins Gerede bringen sollen: Wenn eine andere Person die Information braucht und ohne dieses Wissen materiell oder emotionell beschädigt würde. Zum Beispiel, wenn jemand dieser Person einen Job anbietet und ohne die relevante Information über diese Person Schaden nehmen würde. Die zweite Ausnahme bezieht sich auf die Heirat eines Paares und eine wichtige Information, die nicht zu verheimlichen ist.

Unabhängig von diesen zwei Ausnahmen überwiegt die Überzeugung, die in einer chassidischen Geschichte beschrieben wird. Ein Rebbe hat seinem Schüler einen Korb mit Vogelfedern gegeben und ihn gebeten, eine Feder vor jede Tür im Dorf zu legen. Am nächsten Tag kommt der Schüler wieder und der Rebbe fordert von ihm: Jetzt gehe und sammle die Federn alle wieder ein. »Das geht doch nicht, sie sind schon längst weg.« – »Siehst du«, sagt der Rebbe, »so ist es auch mit den Worten. Wenn sie einmal heraus sind, kann man sie nie mehr zurückbekommen.« Wenn die Information heraus ist, fliegt sie wie ein Raubvogel, um sich auf ihr Opfer zu stürzen und mit den Krallen zur Atemnot zu bringen.

In den Sprüchen (18,21) lesen wir: »Mawet wechajim bejad laschon«, das heißt auf Deutsch: »Leben und Tod sind in der Macht der Sprache.« Die Zunge kann töten. In jeder Gruppe, in jedem Kollektiv, in jeder Gemeinde ist die Macht unserer Zunge größer, als wir denken. Auch wenn sie nicht tötet, kann sie trotzdem verärgern, entmutigen oder bewirken, dass man sich zurückzieht.

Warum benutzen wir alle diese negative Macht unserer Zunge? Weil wir verletzt sind? Weil wir unzufrieden sind? Weil wir nachtragend sind? Weil wir uns unterschätzt fühlen? Leben und Tod sind in der Macht der Zunge. Damit wird der Widerspruch zwischen dem Namen unseres Wochenabschnitts und ihren ersten Sätzen deutlich. Leben und Tod sind tatsächlich ohne jede große Philosophie miteinander eng verbunden, mit weitgehenden Folgen für das zwischenmenschliche Miteinander.

Der Autor ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.