„Mein Brief gerät etwas kunterbunt“

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Letzter Teil der Briefe von Oswald L., die wir aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Kibbutzbewegung dokumentieren…

Daganiah, 20. Oktober 1920.

Wundervolle Mondnacht über dem Jordantal, die Bäume still und unbewegt wie die Berge ringsum, nur der See rauscht; wovon? was wühlt ihn auf?

Es ist mir fast schwer geworden, mich von dem Bild zu lösen, aber vom Schauen und Denken ist mir bewußt geworden, daß ich Euch schon lange nicht geschrieben habe, und Ihr könntet in Unruhe sein meinetwegen, der seine Tage so schön in aller Ruhe verbringt. Immer schöner wird mir das Leben hier, je mehr ich Herr über das werde, was mir Aufgabe ist, je mehr ich meinen Leib gewachsen und gestärkt fühle für meine Arbeit. So vergehen die Tage, einer um den andern, ehe man es merkt, nur der Sabbath bildet immer wieder einen Merkstein, als Ruhetag, als Tag der Einkehr, des Überschauens und nun auch des Wanderns. Die erste Zeit nämlich hatte ich eine Scheu, am Sabbath herumzupilgern wie die andern, wußte nicht Bescheid über das Ausmaß meiner Kräfte und mußte daher mit ihnen aushalten. Und dann hatte ich keinen rechten Wandergefährten. Aber seit 14 Tagen hab ich einen lieben Gefährten hier, Irma S., da ist es lieb mit dieser lebens- und erlebensfrohen,  allweil glückbereiten jugendfrischen Seele zu wandern und zu singen. Sie ist hier als Arbeiterin und nimmt die Müdigkeit unentwegt mit frohem Herzen auf sich. Am ganzen Hof, soviel hier auch unter und nach der Arbeit gesungen wird, ist doch keiner, der soviel zwitschern würde wie sie. Dazu hat sie noch ein schlechtes Gehör und singt grundfalsch. Aber in ihrer Seele ist es sicherlich schön und das ist die Hauptsache.

Mein Bett steht, wenn ich’s noch nicht erzählt hab, draußen auf der Terrasse oder Balkon dem See zu und es ist gewöhnlich so belagert, daß für mich schon kein Platz ist. Manchmal muß ich erst eine der Genossinnen aus dem Schlaf wecken, wenn ich mich niederlegen will. Kommunismus bis aufs Bett, etwas was ich früher nur witzweise als Übertreibung gesagt habe, in Daganiah stimmt es fast tatsächlich. Eine besondere Kommune innerhalb der allgemeinen ist die der Raucher. Das ist hier alles so natürlich und selbstverständlich, wie daß wir an einem Tische sitzen und gemeinsam essen, abwechselnd jeden Tag ein anderer den Kellner abgibt usw. — Wie lange wird die Herrlichkeit noch dauern? Ella freut sich schon so auf Daganiah, aber wir werden hier nur als Gäste weilen können. Wohin wird mich das Schicksal dann verschlagen? Ich sorge nicht, vertraue meinem guten Stern. In Momenten wiege ich mich sogar in der Hoffnung, daß sie mich doch hier behalten werden, solange es mir gefällt.

22. X. Heute kam Gordon von der Nationalversammlung aus Jerusalem über Jaffa zurück und brachte mir Euern Brief. Ich war mitten in der Arbeit, als ihn mir ein Kamerad extra auf meine Arbeitsstätte brachte, ich konnte mich nicht enthalten, eine kleine Pause einzuschalten um ihn schnell durchzufliegen, dann aber steckte ich ihn in die Hosentasche und arbeitete weiter an den Gruben, in die dann die Baumstämme eingelassen werden für einen neuen Hühnerhof (übrigens eine Arbeit, die ich bei allem Schweiß, der in die Gruben rinnt, mit einer seltsamen außerordentlichen Liebe verrichte; ich bemühe mich, alles so gut und fest wie nur möglich zu machen, und denke immer wieder im geheimen, daß das ein bleibendes Andenken an mich sein soll, wenn ich nicht mehr in Daganiah sein werde). Als ich dann endlich mittags nach dem Bad im Jordan mit erfrischten Gliedern ans Lesen schritt, siehe da war er ganz schweißdurchdränkt. Ist Euch das eine häßliche Vorstellung? Ästhetisch ist der Gedanke daran ja sicher nicht, aber mir hat es die Freude zumindest nicht gestört, die mir in hellen Fluten aus Euer aller Worten zuströmte, tausend Dank jedem einzelnen.

Da hab ich meinen Brief unterbrechen müssen. Rahel, eine Freundin Gordons, kam mit diesem vom Balkon (von meinem Bett natürlich) und ich mußte ihr vorlesen. Zum Dank dafür bat sie mich, einen Gruß an Euch schreiben zu dürfen. Dann kam noch Chadja, die Frau eines der Gründer von Daganiah, die Euch Grüße von den Feldern Daganiahs sendet. Die beiden sind die einzigen, die gegenwärtig mit dem Spaten arbeiten u. zw. im Gemüsegarten. Rahel,  gelernte Blumenzüchterin, läßt sich außerdem die Blumen hier angelegen sein, die ich sehr vernachlässigt vorgefunden habe. Sie ist neben Gordon wohl die geistig regste und die einzige, die mich immer wieder aus meiner Einsamkeit hervorholt, trotzdem es nach ihrem Geständnis für sie gräßlich ist, meine elende Aussprache des Hebräischen zu hören.

Mein Brief gerät etwas kunterbunt, Ihr müßt schon verzeihen, aber es fehlt mir an der Zeit, Umschau zu halten nach einer gewissen Ordnung und Reihenfolge, und müßt es selbst mit in den Kauf nehmen, daß, wenn ich einen Brief weggeschickt habe, mir hundert Dinge einfallen, die ich nicht geschrieben habe. Z. B. über den Gesundheitszustand Daganiahs. Daganiah war einmal ein berüchtigter Malariaherd und wer hierher ging, konnte totsicher mit dem Fieber rechnen. Aber die Entsumpfung des Jordans, die wir unserm schönen Eukalyptushain verdanken, ist so weit gediehen und die Chininprophylaxe ist so gut durchgeführt, daß schon ein Jahr lang kein Malariafall vorgekommen ist. Jeden Abend beim Nachtmahl bringt unsere Chowescheth (Feldscherin) die Chininbüchse und an der Geschicklichkeit, mit der es die einzelnen verschlucken, oder an ihrer Unbeholfenheit kann man die Dauer ihres Hierseins ermessen. Dann glaube ich auch, daß die Arbeit und gesunde Lebensweise und Nahrung den Krankheiten gut vorbeugen. Eines hat allerdings Daganiah unabänderlich vor allen anderen jüdischen Siedlungen voraus: daß es fast das heißeste Klima in Erez Israel hat; darauf hab ich aber schon die Probe gemacht und glücklich bestanden. Die schönste Zeit steht vor mir: der Winter, die Regenzeit, die Zeit wo die jetzt kahlen Berge sich mit grünen Wiesen bedecken und tausend und abertausend Blumen mit den reichsten Farben aufsprießen. Wie schön muß das sein, wo ich mir’s doch jetzt schon nicht schöner vorstellen kann! Wer nicht die Farben gesehen hat, die hier Luft und Licht schaffen, weiß nicht, was Farben sind, und sonderbarerweise teilt sich das allem mit, sogar den Zapfen an den Zypressen, dem kahlen Gestein der Berge und am Meeresgrund den Muscheln und Steinen. Heute nachmittag haben wir in Semach, unserer Bahn- und Schiffsstation, am Seeufer Dünger aufgeladen. Da, als die Sonne untergehen wollte, leuchtete plötzlich der Hermon auf, und wie ihn mein Blick umfaßte, sah ich zum erstenmal auch einen großen Teil des Libanonzuges. Ein imposantes Bild in seiner plötzlichen unerwarteten Erscheinung. Zur rechten Hand vom Hermon, aber sind zwei Bergkuppen, die ein liebes Bild aus der Karlsbader Umgebung aufsteigen lassen, einen Bergrücken zwischen Medschirihöhe und Engelhaus, den man gegenüber dem Predigtstuhl sieht.

Auch die Wünsche der andern, die mich vor Enttäuschung gewahrt wissen wollen, haben mir wohl getan, insbesondere im Bewußtsein, daß ihr Wunsch erfüllt werden wird; mögen die Zeiten hier noch schwer sein, die Menschen sind mir eine Bürgschaft, stärker als jede andere. Ich komme mir neben ihnen nur wie ein Dilettant vor. Gefreut hat mich innig die warme Teilnahme,  die sich in Karls Betrachtungen über das traurige Los der Chaluzim ausdrückt. Letzten Samstag auf einem Ausflug nach Tiberias lernte ich sie in ihrem Heim in ihren Zelten kennen. Da hättest Du sie singen hören sollen! Es ist ja wahr, daß sie an Landarbeit gedacht haben und auch jetzt noch sich zu ihr hinsehnen als dem eigentlichen Ziel, aber auch sie sind zum größten Teil von dem Bewußtsein getragen und gestützt, daß sie dem Lande hervorragenden Dienst in seinem Aufbau leisten. Uebrigens fand ich dort eine ganze Gruppe von Burschen, die freiwillig die Landwirtschaft verlassen haben, um sich diesem harten Dienst zu widmen. Das kann man erst recht verstehen, wenn man selbst einmal die holperigen alten Landstraßen gerollt oder gepilgert ist. Dort, wo die Schwefelquellen zu Tage treten, in Bassins gesammelt, für Bäder benützt, in einem Hause, in dem ich auch Stücke der Ausgrabungen fand (Säulenkapitäle aus der griechischen Zeit und Wasserkrüge usw.), haben die Chaluzim bereits eine Bibliothek eingerichtet, in einem Zimmer, durch dessen Fenster man den See in seiner schönen Harfenform (Kinor, daher Kinereth) überschauen kann.

Ein Kamerad mahnt mich, daß es morgen wieder Dünger aufzuladen gibt, und daß es noch heißer als heut sein wird, ich solle schlafen gehen. Soll ich ihm folgen? Das Herz sagt nein, die Vernunft ja, also?

23. X. Sabbath. Die Sonne stand heute schon ziemlich hoch, als ich mich aus dem Leintuch herauswickelte und die geblendeten Augen über die Seelandschaft wandern ließ. Es war mir süß und traurig zugleich zu Mute, denn ich fühlte gleich auch, daß der Abschied von diesem Stück Land nahe ist. Gegen Mitternacht, als ich von einem kleinen Ausflug entlang des Jordan zurückkam, hab ich’s von Sahwah erfahren. E. hätte mir einen Brief geschrieben, den ich aber nicht erhalten, daß Leute von der „Awodah“ gekommen wären, und er für uns eine gemeinsame Arbeitsstätte in Juda, Chederah, erwirkt hätte, ich solle nach Jaffa kommen zur Besprechung. Wie hätte ich mich ungeteilt gefreut über dies Ereignis, wäre mir Daganiah nicht schon fast ans Herz gewachsen, denn das ist ja der nächste Schritt zur Verwirklichung unseres Zieles. Hier bin ich zu einer bereits fest gefügten Gemeinschaft gekommen, jetzt gilt es die eigene erstehen zu lassen oder zu schaffen, und gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der sie hier gelebt wird, ist mir bewußt geworden, daß es für uns westliche Juden, die zu lange im Individualismus verstrickt waren, ungleich schwerer sein wird. Und es ist mir auch fühlbar geworden, daß nun auf mir, der ich in Daganiah bescheiden und demütig bis zur Unbemerktheit im Hintergrund geblieben bin, viel Verantwortung ruhen wird. Vielleicht wird es nicht nötig sein, werde ich auch hier mich in eine natürliche Ordnung nur einzureihen brauchen und mich zu ihr erziehen, wie in Daganiah. Komme, was kommen mag, ich hoffe bereit zu sein. Freilich glaube ich mich dahin kennen gelernt zu haben, daß es meiner Art entsprechender ist, mich wenn möglich einzuordnen als selbst die Initiative zu ergreifen. Hierzu ist mein Selbstbewußtsein nicht stark genug, ich müßte dann einmal ganz die Wahrheit und unbedingte Richtigkeit meiner Überzeugung fühlen und erkennen.

Mein Brief beginnt ins ungeheure zu wachsen und aus dem Kreise des Privaten, Intimen hinauszugeraten. Jetzt kann ich wirklich nicht mehr auch davon anfangen, Euch die lieben, kleinen Bilder zu entwerfen, zu denen mich Eure Bitte angeregt hat, von den Kindern und Müttern, von Ehegatten und Brautleuten, von Hühnerhof und Kuhstall, von Feld und Garten. Vielleicht ein andermal.

Abends. Die Versuchung ist an mich herangetreten. Einer von der Genossenschaft frug mich, ob ich hier Genosse werden will. Es war ein schwerer Kampf, daß ich ihm nicht zusagte, daß ich mein Bündnis mit der „Awodah“ aufrecht erhielt. Doch freute mich die Frage, als Zeichen, daß mich diese Menschen nicht als wertlos für ihr Leben halten. Wir brauchen frisches Blut, neue Ideenträger, Menschen mit ungebrochener Hoffnungskraft, sagte er.

Ein Wort Gordons von heut abend: Die Menschen werden nicht früher aufhören einander zu befeinden, bis sie aufhören werden, Fleisch zu essen. Die Hälfte der Kwuzah besteht aus Zimchonisten, Vegetarier. Gordon meinte heute: Wer Fleisch ißt, handelt noch schlechter, als der das Tier tötet. Und ich habe gerade vorgestern zum erstenmale in meinem Leben ein Huhn geschlachtet!

Die Briefe wurden erstmals in der von Martin Buber herausgegeben Zeitschrift “Der Jude”, Heft 7, 1921/1922, veröffentlicht. Einleitend heißt es dazu: “Die nachstehenden Briefe an Verwandte und Freunde stammen von Dr. Oswald L., einem geborenen Karlsbader, der, als Konzipient in Wien tätig, den Entschluß faßte, als landwirtschaftlicher Arbeiter nach Palästina zu gehen, sich der sozialistischen Genossenschaft “Awodah” anschloß, sich (…) praktisch ausbildete und im Sommer 1920 zu Schiff ging. Seine Frau Ella folgte ihm im Dezember. Er arbeitete in der ersten Zeit in Daganiah A, in der Kwuzah A. D. Gordons, von dessen wirkender Gegenwart man in den Briefen etwas verspüren wird.” –> Zum ersten Teil der Briefe