Marc Chagall – Lebenslinien

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Eine Ausstellung des Bucerius Kunst Forums vom 8. Oktober 2010 bis 16. Januar 2011…

Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen haben unmittelbar Eingang in die Kunst Marc Chagalls (1887 – 1985) gefunden. Die Ausstellung Marc Chagall. Lebenslinien stellt ihn als einen Maler vor, der seine Erinnerungen als künstlerisches Material einsetzte. Chagall verlieh der traditionell bilderlosen jüdischen Kunst ein Bildgedächtnis und verknüpfte sie mit der Formensprache der Moderne. Die Sammlung des Israel Museums in Jerusalem, das über zahlreiche Gemälde, Zeichnungen und Graphik Chagalls verfügt, wird in dieser Ausstellung zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Für die Präsentation im Bucerius Kunst Forum werden die Bestände des Israel Museums durch zahlreiche Leihgaben aus der Familie des Künstlers sowie weitere internationale Leihgaben ergänzt.

Marc Chagall hat mit seiner Autobiographie einen Schlüssel zu seinem Werk hinterlassen. 1921/22 niedergeschrieben, reflektierte er darin die Formierungsphase seines OEuvres aus der Begegnung mit der französischen Avantgarde und legte die Quelle für jene Bildthemen offen, die er in den westlichen Kunstbetrieb eingebracht hatte: die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend in Witebsk. Die illustrierenden Radierungen boten erste Hinweise, welche konkreten Erinnerungen der Künstler schon zu diesem Zeitpunkt in seine Bilder einfließen und mit der Formensprache der westlichen Moderne verschmelzen ließ. An dieser Verbindung sollte er sein Leben lang weiterarbeiten. Die Stadt Witebsk mit ihren Kirchen und Brücken, die jüdischen Feste und Riten, die Familie – sie erscheinen in seinerMalerei kubistisch fragmentiert, in die leuchtenden Farben des Fauvismus getaucht, im Sinne des Expressionismus mit Gefühl aufgeladen oder futuristisch dynamisiert.


Marc Chagall, Über Witebsk, o. J.
Bleistift, indische Tinte, Gouache, Wasserfarbe, Graphit und Kreide auf Karton, 51,5 x 64,3 cm
Israel Museum, Jerusalem, © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

Die westlichen Künstler seiner Generation suchten nach neuen Maßstäben für ihre Kunst und fanden sie an fernen Sehnsuchtshorizonten. Gauguin und Nolde ließen sich von den Farben und Landschaften der Südsee inspirieren. Matisse studierte in Russland die Ikonenmalerei. Picasso schuf mit seinen Desmoiselles d’Avignon das zentrale Bild einer Epoche, die sich von fremden Kulturen erneuern ließ. Als Chagall in Paris auf diese Stimmung einer über die engen Grenzen der westeuropäischen Hochkunst hinausweisenden Kreativität traf, wurden ihm zwei Dinge bewusst: Er erkannte den Exotismus seines persönlichen Hintergrundes und seinen Wert für die künstlerische Entwicklung. Er realisierte, welches Potenzial darin lag, die jüdischen Bildthemen in das größte Formexperiment seit der Renaissance einzubeziehen. Nach kurzer Zeit war ihm die Bewunderung des Pariser und Berliner Publikums gewiss, das die Radikalität seiner Position und den Reichtum seiner formalen Ausdrucksmöglichkeiten schätzte.

Doch während die westlichen Künstler in die Ferne schauten, brachte Chagall das Fremde mit, trug es in sich. Frida Kahlos Lebenswerk, dem das Bucerius Kunst Forum im Jahr 2006 eine Ausstellung widmete, ist ähnlich eng mit der Vita der Künstlerin verbunden. Das Außergewöhnliche dieses künstlerischen Verfahrens war Chagall Anlass genug, im Alter von 35 Jahren seine Autobiographie Mein Leben zu schreiben.  Dieses Buch und die zugehörigen Radierungen bilden den Ausgangspunkt für die Ausstellung Marc Chagall. Lebenslinien. Chagalls Texte lassen seine Selbstbildnisse in neuem Licht erscheinen. Dazu treten die Texte aus den Erinnerungsbüchern Brennende Lichter und Erste Begegnung von Chagalls erster Frau Bella, die er mit über 80 Tuschezeichnungen illustrierte. Text und Bild sind hier Ausdruck einer ungewöhnlichen künstlerischen Zusammenarbeit auf der Grundlage der gemeinsamen Erinnerungen an Witebsk, wo auch Bella geboren und aufgewachsen war.


Marc Chagall, Selbstportrait mit Pinseln, 1909/10
Öl auf Leinwand, 57 x 48 cm
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Foto: bpk, © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

Bella beendete ihre Erinnerungen im amerikanischen Exil kurz vor ihrem Tod im Jahr 1944. Die völlige Zerstörung der Heimatstadt während der Kriegshandlungen im gleichen Jahr gaben der gemeinsamen Erinnerungsarbeit eine bestürzende Aktualität, denn während sie in der Rückschau ihrer vitalen und prägenden Erlebnisse das Schtetl wieder auferstehen ließen, ging es unwiederbringlich verloren. Die Ausstellung Marc Chagall. Lebenslinien gibt Einblicke in diese verlorene Welt und verknüpft Chagalls Zeichnungen mit den Gemälden, die er diesen Themen widmete. Sie dokumentiert auch Chagalls Reaktionen auf Holocaust und Vertreibung. Chagall hat die Verfolgung der Juden in Europa seit den frühen dreißiger Jahren bis zu seinem Lebensende in seinen Bildern thematisiert.

Den Abschluss bildet mit den Illustrationen zum Buch der Bücher jener Text, mit dem sich Chagall in seiner zweiten Lebenshälfte intensiv beschäftigte – die Bibel. Seit 1931 hatte Chagall an den Bibelillustrationen gearbeitet. Die Ausstellung versammelt sie in einer repräsentativen Auswahl und zeigt sie zusammen mit Gemälden, die Chagalls anhaltende Auseinandersetzung mit biblischen Themen belegen.

Marc und Bella Chagall haben die Literatur geliebt und um eigene Texte bereichert. Ihre Erinnerungsbücher sind für die Deutung der Bildwelt Chagalls von unschätzbarem Wert. Das Konzept der Ausstellung, das von Meira Perry-Lehmann, Michael Bromberg Senior Curator of Prints and Drawings am Israel Museum in Jerusalem, und Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forums, entwickelt wurde, stellt die Texte von Bella und Marc Chagall in Beziehung zu den Illustrationen und erläutert die Bildwelt der Gemälde aus den hier angesprochenen Kontexten heraus – Chagall wird mit Chagall gedeutet.

Die Kuratorinnen haben für die Ausarbeitung dieser Ausstellungsidee von dem Zusammentreffen international renommierter Chagall-Expertinnen profitiert, das am 1. Juli 2010 in Hamburg stattfand. Die Beiträge von Ljudmila Chmelnizkaja, Direktorin des Marc Chagall-Museums in Witebsk, Angela Lampe, Kustodin am Centre Pompidou, Paris, und von der Chagall-Biographin Jackie Wullschlager aus London können neben den Beiträgen von Meira Perry-Lehmann und Ortrud Westheider in dem vorliegenden Ausstellungskatalog nachgelesen werden.

Die Ausstellung ist vom 8. Oktober 2010 bis zum 16. Januar 2011 täglich von 11 bis 19 Uhr geöffnet, donnerstags bis 21 Uhr. Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Hirmer Verlag, München (232 Seiten mit farbigen Abbildungen aller ausgestellten Werke, 24,80 € in der Ausstellung). Weitere Informationen unter www.buceriuskunstforum.de.

Die Ausstellung steht unter der gemeinsamen Schirmherrschaft des Bürgermeisters von Jerusalem Nir Barkat und des Ersten Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg Christoph Ahlhaus. Gemeinsam gestalten der deutsche Verein zur Förderung des Israel Museums in Jerusalem e.V. und das Bucerius Kunst Forum das reiche Begleitprogramm zur Ausstellung. Neben Vorträgen, Konzerten, Lesungen und Diskussionen umfasst es auch die Dialogreihe Bridging the Gap. Sie trägt den Namen des arabisch-jüdischen Jugendkunstprogramms am Israel Museum in Jerusalem. Ausgehend von diesem Programm nimmt die Dialogreihe die Ausstellung zum Anlass, im Gespräch mit kompetenten Persönlichkeiten wie Avi Primor, Sari Nusseibeh oder Michael Blumenthal aufzuzeigen, dass ein Dialog über Grenzen hinweg möglich ist.

Bucerius Kunst Forum gemeinnützige GmbH
Rathausmarkt 2, D-20095 Hamburg
Telefon  +49 (0)40/36 09 96 0
Telefax  +49 (0)40/36 09 96 36
E-Mail: info@buceriuskunstforum.de
www.buceriuskunstforum.de

Rahmenprogramm:

Vortrag
Mittwoch, 13. Oktober 2010, 20 Uhr
Marc Chagall – Autobiographie als künstlerisches Material
Dr. Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forums und Co-Kuratorin der Ausstellung

Literatur
Mittwoch, 20. Oktober 2010, 20 Uhr
Grundschriften der europäischen Kultur
Thomas Morus: Utopia
Friedhelm Ptok (Lesung) und Hanjo Kesting (Kommentierung)

Konzert
Freitag, 22. Oktober bis Sonntag, 24. Oktober 2010
2. Internationales Klezmerfest Hamburg
Veranstaltungsort: Bucerius Kunst Forum; www.klezmerfest.de

Diskussion
Dienstag, 26. Oktober, 20 Uhr
Kulturdiskurs. Vom Verschwinden der Musik
Hanno Müller-Brachmann, Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller, Prof. Dr. Karl-Jürgen Kemmelmeyer und Christoph Lieben-Seutter;
Moderation: Stephan Lohr
In Kooperation mit NDR Kultur

Literatur
Mittwoch, 3. November 2010, 20 Uhr
LiteraturCafé: Der Geiger auf dem Dach. Eine literarische Erkundung zu Chagalls Schtetl-Bildern
Wolf-Dietrich Sprenger (Lesung) und Brigitte van Kann (Kommentierung)

Symposium
Donnerstag, 4. November 2010, 10–17 Uhr
William Turner. Maler der Elemente
James Hamilton, Birmingham; Inés Richter-Musso, Cagliari; Barry Venning, Oxford; Monika Wagner, Hamburg u. a.
Veranstaltungsort: Warburg-Haus, Heilwigstraße 116

Konzert
Sonntag, 14. November 2010, 20 Uhr
Mitglieder des NDR Sinfonieorchesters
Chagall und die Musik
Werke von Strawinsky, Ravel, Poulenc

Diskussion
Dienstag, 16. November 2010, 20 Uhr
Bridging the Gap
In achtzig Jahren um die Welt. Mein Leben
Prof. Dr. W. Michael Blumenthal und Dr. Theo Sommer;
Einführung: Sonja Lahnstein-Kandel

Literatur
Mittwoch, 17. November 2010, 20 Uhr
Grundschriften der europäischen Kultur
Michel de Montaigne: Essays
Peter Matić (Lesung) und Hanjo Kesting (Kommentierung)

Diskussion
Dienstag, 23. November 2010, 20 Uhr
Kulturdiskurs
Im Dickicht der Sprache oder „Du, Sprache Deutschlands, bist Dein Hauptwerk“
Prof. Dr. Reiner Lehberger, Georges-Arthur Goldschmidt und Prof. Dr. Christina Weiss;
Moderation: Stephan Lohr
In Kooperation mit NDR Kultur

Kunstgeschichte
Mittwoch, 24. November 2010
Grundzüge der europäischen Kunst
Echnaton – Ramses – Kleopatra. Kunst und Kultur des alten Ägypten
Fritz Lichtenhahn (Lesung) und Prof. Dr. Wilhelm Hornbostel (Kommentierung)

Diskussion
Donnerstag, 25. November 2010, 20 Uhr
Bridging the Gap
Juden und Palästinenser heute. Perspektiven eines schwierigen Verhältnisses
Avi Primor und Prof.Dr. Sari Nusseibeh;
Einführung: Sonja Lahnstein-Kandel

Zu Gast
Mittwoch, 1. Dezember 2010, 20 Uhr
Meret Meyer
Das Erbe Marc Chagalls
Die Enkelin des Künstlers und Vizepräsidentin des Comité Marc Chagall, Paris, im Gespräch mit Dr. Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forums

Vortrag
Mittwoch, 8. Dezember 2010, 20 Uhr
Marc Chagall. Die Pariser Jahre 1911–1914
Dr. Angela Lampe, Centre Pompidou, Paris

Familientag
Sonntag, 12. Dezember 2010
Vom Dreidel zum Davidstern
Ein Familientag zu jüdischer Kultur
Eintritt frei

Diskussion
Montag, 13. Dezember 2010, 20 Uhr
Bridging the Gap
Kunstfreiheit und ideologische Fesseln
Bundesminister a.D. Prof. Dr. Dres. h. c.Manfred Lahnstein

Literatur
Mittwoch, 15. Dezember 2010, 20 Uhr
Grundschriften der europäischen Kultur
William Shakespeare: Hamlet, Prinz von Dänemark
Jens Harzer (Lesung) und Hanjo Kesting (Kommentierung)

Diskussion
Freitag, 7. Januar 2011, 20 Uhr
Bridging the Gap
Juden und Araber in Israel. Erfahrungen und Möglichkeiten eines komplizierten Verhältnisses
Prof. Dr. Majid Al-Haj und Prof. Dr. Dan Diner; Einführung: Sonja Lahnstein-Kandel

Konzert
Montag, 10. Januar 2011, 20 Uhr
Singende Farben, gemalte Klänge
Daniel Hope (Violine) und Sebastian Knauer (Klavier) Werke von Bach, Mozart, Ravel u. a.