Nachruf zum Tode von Heiner Lichtenstein

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»Ein großer Chronist und Aufklärer der Zeitgeschichte. … Die schweren juristischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre sind Lichtensteins Thema geworden. Ohne seine Bücher und Prozessberichte hätte man einen Teil der deutschen Geschichte willkürlich in den Abgrund verstoßen. « So bezeichnete Robert M. W. Kempner, eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Nachkriegsjustiz, schon vor 20 Jahren den am 4. Juli plötzlich verstorbenen Heiner Lichtenstein…

Von Otto R. Romberg

Der Journalist, der 78 Jahre alt wurde, hat sich bereits in seiner Jugend mit der NS-Zeit beschäftigt. Am Rande der NS-Prozesse organisierte er die Betreuung von den aus aller Herren Länder angereisten Überlebenden, als sie ihre grausamen Erlebnisse vor deutschen Gerichten bezeugen mussten und dadurch von den Schrecken der Vergangenheit wieder eingeholt wurden. Für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) berichtete Lichtenstein über Prozesse wegen der Ermordung von Millionen von Juden, Sinti und Roma, über die Auschwitz-, Majdanek-, Treblinka-, Sobibor-Prozesse, die über Deutschland hinaus Schlagzeilen machten. 

Mit seinen Bücherveröffentlichungen (»Mit der Reichsbahn in den Tod«, »Massentransporte in den Holocaust 1941-1945«, »Angepasst und treu ergeben. Das Rote Kreuz im Dritten Reich«, »Raoul Wallenberg, der Retter von hunderttausend Juden, ein Opfer von Himmler und Stalin«, »Warum Auschwitz nicht bombardiert wurde«, »50 Jahre Israel – Vision und Wirklichkeit«, »Täter – Opfer – Folgen«, um nur einige zu nennen) hat Heiner Lichtenstein viele Themen aufgegriffen, die damals von der Öffentlichkeit peinlich vermieden wurden. Damit hat er sich so viele Feinde gemacht, dass er zeitweise unter Polizeischutz gestellt werden musste.

Für seine unermüdliche Versöhnungsarbeit erhielt der Journalist 1990 den Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Laudatio hielt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Johannes Rau. Er bezeichnete Lichtenstein als »nicht gefällig, sondern sperrig« und erinnerte an die in Deutschland immer noch vorhandene Grundstimmung, dass man die schreckliche Vergangenheit »von den Schultern schütteln möchte«. Weiter hob Rau hervor: »Es gibt keine Zukunft ohne Vergangenheit. Es kann kein Vertrauen geben ohne die Wahrheit. Es gibt keinen Raum für das Gute, wenn das Böse nicht entlarvt und bei seinem Namen genannt wird. Er [Heiner Lichtenstein] hat ja gekämpft, nicht damit die Namen in Stein gemeißelt werden, sondern damit es nicht neue Opfer des Vergessens gibt, damit nicht Verdrängung unsere Grundmelodie wird und neuer Ungeist entstehen kann. … Ohne ihn wären Namen wie Majdanek, Sobibor und Treblinka in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bei Nachgeborenen nicht so bekannt geworden. Bequem war das nicht. Heiner Lichtenstein hat Konflikte durchgestanden und Enttäuschungen erlebt. Er hat Beschimpfungen und Drohung aus rechtsradikalen Ecken bekommen. «

In seiner Dankesrede verwies Heiner Lichtenstein in der ihm eigenen Bescheidenheit auf den privilegierten Stand der Journalisten und betonte, er nehme die Auszeichnung auch im Namen seiner Zunft entgegen. Dass im Wiedervereinigungsvertrag kein eindeutiges Bekenntnis zur NS-Gewaltherrschaft enthalten ist, hielt er für ein schweres Versäumnis. Kritisch setzte er sich auch schon seinerzeit mit Überlegungen auseinander, den 9. November zum Nationalfeiertag zu erklären. Es sei vergeblich, in der deutschen Geschichte nach einem unbelasteten Datum zu suchen. Über die Situation in der ehemaligen DDR stellte er klar fest: »Dort muss mit der Aufarbeitung der Verbrechen an den Juden überhaupt erst begonnen werden. Ein Blick in die Geschichtsbücher dieses Staates zeigt das. Opfer des Nazi-Terrors waren nach dem DDR-Geschichtsverständnis fast ausschließlich Antifaschisten. … Wir können uns nicht einfach aus unserer Geschichte verabschieden. Das ist zwar x-mal gesagt worden, es wird aber nicht weniger wahr. Ich denke, viele von uns haben aus der Vergangenheit gelernt. Dieser Lernerfolg muss anhalten. … Das sind wir allen Opfern und ihren Angehörigen schuldig, für immer. «

Anlässlich des Neujahrsempfangs der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf 1999 wurde Heiner Lichtenstein in Anwesenheit von Bundespräsident Johannes Rau mit der Josef-Neuberger-Medaille ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der spätere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. Er hob hervor: »Du hast der Welt davon berichtet, was dem Jüdischen Volk durch die Hand dieser Mörder geschah. Mit unbestechlichem Blick und der Dir eigenen Kraft der Darstellung hast Du die Welt wissen lassen, was in den Todeslagern und dem Apparat der Nazis geschah. Es ist Dir dabei um die Täter gegangen, aber Du hast auch die Erinnerung an diejenigen wachgehalten, die Helfer und Retter von Juden waren, so etwa der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg, der in Ungarn tausende von Menschenleben gerettet hat, bis er in einem Kerker eines anderen Unrechtsregimes verschwand: in der Sowjetunion des Josef Stalin. … Heiner Lichtenstein hat stets angemerkt, dass er sich parteiisch auf die Seite der Überlebenden gestellt habe, auf die Seite ihrer entsetzlichen Erinnerungen, auf die Seite ihres Leids. « In seiner kurzen Dankesrede zog Heiner Lichtenstein eine nüchterne Bilanz unter dem Motto »Gegen den Schlussstrich«.

Die engagierte Arbeit Heiner Lichtensteins wurde von vielen Instituten und Verbänden beachtet. Deshalb erhielt er auch unter anderem den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfahlen, die Yad-Vashem-Medaille der Holocaustgedenkstätte in Jerusalem und die Medaille der polnischen Hauptkommission zur Verfolgung von Hitlerverbrechen. Jüngst wurde er 2009 vom Verein für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit den Giesberts-Lewin-Preis ausgezeichnet. Bis zuletzt engagierte sich Heiner Lichtenstein als Mitglied des Vorstands im »Verein wider das Vergessen«.

Für uns in der TRIBÜNE-Redaktion und ganz besonders für mich und meine Frau ist es schwer, nicht mehr auf Heiner Lichtensteins Rat als Kollege und Freund zurückgreifen zu können. Er hat sich nie gescheut, Position zu beziehen. Das machte ihn zu einem manchmal unbequemen, aber immer verlässlichen Ratgeber im privaten wie journalistischen Umfeld. Dass er in der Öffentlichkeit vor allem als streitbarer Kritiker wahrgenommen wurde, der auch schon mal vor Gericht landete, lag an seinem Kampf gegen das Vergessen und zeigt, wie nötig solche Anstrengungen waren und sind. Wir von TRIBÜNE werden den gemeinsamen Kampf fortführen.

Erschienen in: TRIBÜNE, Heft 195, Sept. 2010. Wir danken für die Nachdruckgenehmigung.