Es gibt wohl kaum ein historisches Ereignis, das besser dokumentiert wurde als die Schoa: Die Nazis hatten einen gigantischen Bürokratieapparat, der ihre Gräueltaten bis ins kleinste Detail widergab. Und auch nach der Schoa haben sich unzählige Geschichtsbücher, Forschungsarbeiten und Dokumentarfilme, vor allem Claude Lanzmanns „Shoa“, mit sämtlichen Aspekten dieser Zeit beschäftigt…
Von Benjamin Rosendahl
Auch Spielfilme, seien sie auf wahren Ereignissen beruhend (wie „Schindlers Liste“) oder komplette Fiktion (wie „Inglorious Basterds“) widmen sich häufig dem Holocaust, und seit Neuestem gibt es sogar einen Comicbuch-Trend zum Thema – die Comic-Version des „Tagebuchs der Anne Frank“, an der gerade gearbeitet wird, wird wohl nicht das letzte Werk dieser Art sein. Alles schon gehabt also? Nicht unbedingt, wie „La Rafle“ und „A film unfinished“ zeigen.
Frankreich hat sich lange Zeit als ein Volk von Widerstandskämpfen während der Nazizeit präsentiert: Die glorreiche „Resistance“, bei der auch der mythologische Charles de Gaulle Mitglied war, habe das Vichy-Regime in alle Ferne vertrieben. Dieser Mythos wurde bis 1995 aufrecht erhalten, als Jacques Chirac die Schuld Frankreichs an der Judenvernichtung anerkannte. Es war ein spätes Schulderkenntnis, zu spät nach Ansicht vieler, too little too late. Jetzt kommt mit „La Rafle“ (dt.: „Die Razzia von Paris“) ein Film in die Kinos, der sich der Mittäterschaft Frankreichs ausführlich widmet: Er zeigt, dass es französische Gendarme waren, die die Juden des Landes verhafteten, abführten, einsperrten und schlußendlich nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportierten.
Eine der schrecklichsten Episoden war „la Grande rafle du vel de l’Hiv“ (daher der Filmtitel): Im Radstadium“ Vélodrome d’Hiver“ wurden ca. 13.000 französische Juden, darunter 4.000 Kinder, für fünf Tage ohne Verpflegung, ohne Toilette und – bei Hitze – ohne Wasser gehalten, bevor sie in die Vernichtungslager deportiert wurden. Diese Razzia wird im gleichnamigen Film hautdicht nachgestellt: Als Zuschauer fühlt man in langen Minuten des Filmes, wie sich einem die Luft zuschnürt, etwas, was die betroffenen Personen tagelang verspürten. Es ist eine kaum erzählte Episode französischer Geschichte, die bis dato in lediglich einem Film kurz gezeigt wurde („Monsieur Klein“, mit Alain Delon in der Hauptrolle), aber nie zentrales Thema war.
Der Film ist ansonsten ein „typischer“ Holocaust-Film (wenn es das gibt), was die Kameraführung, Erzählweise, Einsatz der Musik etc. betrifft. Jedoch war man als Zuschauer gewöhnt, dass Deutschland oder Osteuropa den Hintergrund lieferte, nicht das edle Frankreich der „Resistance“ (man denke nur an „Casablanca“). Interessant ist hier, dass sowohl die Regisseurin (Roselyne Bosch) als auch die Hauptdarsteller, allen voran Jean Renot (der einen jüdischen Arzt spielt), nicht jüdisch sind – die Botschaft soll hier sein, dass die Geschichte Frankreichs erzählt wird, und insbesonders die der französischen Kollaboration mit den Nazis, und nicht nur die Geschichte der Juden Frankreichs. Das sagte Rose Bosch auch bei der Premiere des Filmes beim Jerusalemer Filmfestival. Die (jüdische) Schauspielerin Melanie Laurent, die wir noch aus „Inglorious Basterds“ kennen, spielt hier eine protestantische Krankenschwester, die versucht, den Kranken im Vel de l’Hiv zu helfen, der aber die Hände gebunden sind. Man wünscht sich fast, dass sie die Identität der Shoshana von „Inglorious Basterds“ wieder annimmt und eigenhändig Rache an den Nazigrößen verübt. Das ist der Unterschied zwischen der Phantasie der Überlebenden und der so lange verleugneten Realität: Letztere endete auch bei den Juden Frankreichs vor den Toren Auschwitz, ohne dass sie je von der „Resistance“ hörten.
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Über einen falschen Mythos erzählt auch Yael Hersonski „A film unfinished“, auch bekannt als „Shtikat ha-Archion“ („Das Schweigen des Archivs“) und „Geheimsache Ghettofilm“. Der Dokumentarfilm, der bei der letzten Berlinale seine Premiere hatte, zeigt Aufnahmen eines Nazi-Propagandafilms aus dem Warschauer Ghetto. Dort wurde einerseits ein vermeintliches Luxusleben der Juden nachgestellt (alle Darsteller waren jüdische Einwohner des Ghettos, die zu den Filmaufnahmen gezwungen wurden), andererseits aber wahre Szenen der Armut und jüdische Rituale gezeigt. Der Hintergrund des Filmes ist bis heute nicht klar – Hersonski befragt dazu Augenzeugen, liest aus Tagebucheinträgen und versucht sich, uns, ein Bild zu geben, was die Meister der Propaganda versuchten zu erreichen. Es bleiben die Fragen, die wir uns stellen: Ist ein Film, der im Warschauer Ghetto gedreht wurde, dokumentarisch, auch wenn er von den Nazis gestellt wurde? Wieweit erfasst er das tatsächliche Leiden der Juden, inwieweit dient er der Nazi-Propaganda?
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Wie sollen wir uns den historischen Quellen stellen? Gibt es wirklich eine Geschichte der Schoa – oder ist es vielmehr ein Puzzle, zu dem noch heute neue Teile hinzukommen? Heute, mehr als 60 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, nachdem die meisten Zeitzeugen nicht mehr leben? Es ist dies wohl ein Puzzle, das niemals komplett sein wird, und das, selbst wenn wir die meisten Teile haben, uns ein Bild zeigt, das wir nicht verstehen.