Wer Hilfe von der Gesellschaft braucht, muss sie auch bekommen

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In letzter Zeit wird in Deutschland intensiv, ja hitzig, über den Sozialstaat debattiert. Im Grundsatz ist gegen eine sachliche Aussprache nichts einzuwenden: Das richtige Gleichgewicht zwischen Eigenverantwortung und Solidarität muss in jeder Generation im Einklang mit den Bedürfnissen der Menschen, dem ökonomischen Entwicklungsstand und dem finanziell Machbaren justiert werden…

Das Gebot der Menschenwürde:
Das Judentum hält wirtschaftliche Unabhängigkeit für wichtig – wer aber Hilfe von der Gesellschaft braucht, muss sie auch bekommen

Von Stephan J. Kramer

Allerdings arten manche Diskussionsbeiträge heute in herzlose Polemik gegen die Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aus. Da wird Hartz-IV- Empfängern empfohlen, aus Sparsamkeit kalt zu duschen, werden diejenigen, die ihre persönliche Situation nur bedingt selbst beeinflussen können, als „Sozialschmarotzer“ verunglimpft. Das können Betroffene bestenfalls als Hohn empfinden, zumal diejenigen, deren Suche nach Beschäftigung an einem unflexiblen Arbeitsmarkt, ebenso mut- wie hilflosen Arbeitsvermittlungsagenturen oder an Lohnverhältnissen scheitert , die kaum ein Überleben sichern. Mit der Diffamierung der schwächsten Glieder der Gesellschaft – egal in welche hehren Floskeln sich diese Diffamierung kleidet – wird die soziale Sicherung an sich in Frage gestellt und die Grenze legitimen Debattierens überschritten.

Der Streit tangiert auch die jüdische Gemeinschaft, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen ist Armut unter Juden in Deutschland keine Seltenheit. Zahlreiche Mitglieder unserer Gemeinden sind auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Für viele, insbesondere Zuwanderer, ist wirtschaftliche Not eine neue, belastende Erfahrung, und zwar eine, auf die sie – oftmals hoch qualifiziert – bei der Übersiedlung nach Deutschland nicht vorbereitet waren. Soziale Abhängigkeit vom Staat und häufig auch Perspektivlosigkeit sind Erfahrungen, die weite Teile der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland machen mussten. Hier wurde die Lage durch die jahrelang verschleppte Anerkennung der im Ausland erworbenen Berufs- und Ausbildungsabschlüsse zusätzlich erschwert. Zwar wurde diese nun nach langwierigen Gesprächen endlich erreicht, doch kommt das spät. Für viele viel zu spät.

Zum anderen müssen wir als Juden unseren Beitrag zu einer sachlichen Diskussion über das wichtige Thema leisten. Über seine unverzichtbare Rolle als Vertreter jüdischer Interessen hinaus nimmt der Zentralrat auch aktiv an der öffentlichen Meinungsbildung zu Fragen teil, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Das gilt auch für Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die einen wichtigen Aspekt jüdischer Lehrmeinung bildet. Gewiss, der Tanach ist kein Sozialgesetzbuch, und doch postuliert er eine Reihe von Prinzipien, die Fürsorge für die Schwachen und Fairness im Wirtschaftsleben als Grundlage menschlichen Zusammenlebens im ökonomischen Lebensbereich begründen.

Zur Menschenwürde gehört unter anderem, dass der Mensch die Möglichkeit erhält, sich selbst zu ernähren. In diesem Zusammenhang ist die biblische Vorschrift richtungsweisend, wonach im Brachjahr auch Schulden zu erlassen sind. Wer nämlich seine Schulden binnen einer vernünftigen Zeitspanne nicht begleichen konnte, drohte, in eine Existenz gefährdende Krise zu geraten. Heute würde man von der Armutsfalle sprechen. Das sollte durch den Schuldenerlass verhindert werden. Damit wird auch klar: Soziale Hilfe ist subsidiär. Im Schulchan Aruch finden sich beispielsweise Diskussionen darüber, wie viel dem Einzelnen an Aufwendungen für seine ärztliche Versorgung zugemutet werden könne und wann die Gesellschaft verpflichtet sei, hier unterstützend einzugreifen, ohne jedoch den Einzelnen als Gebenden zu überfordern oder andererseits ein Ausruhen auf Kosten der Gemeinschaft zu fördern. In jedem Fall ist es besser, Armut zu verhindern.

Wo Hilfe aber nötig ist, muss sie geleistet werden – und zwar unter Wahrung der Menschenwürde des Empfängers. Als höchste Form der Spende gilt diejenige, bei der de Geldgeber und der Geldempfänger einander unbekannt bleiben. Damit wird verhindert, dass der Empfänger sich wie ein Bittsteller vorkommt und sichergestellt, dass der Spender seine gute Tat um ihrer selbst willen vollbringt. Nicht zu vergessen ist auch, dass Hilfe für die Bedürftigen den besser Situierten als Pflicht auferlegt wurden. Deshalb heißen milde Gaben „Zedaka“, abgeleitet vom hebräischen Wort „Zedek“, zu Deutsch: Gerechtigkeit. Daher gilt: Aus jüdischer Sicht ist der Ausstieg aus sozialer Solidarität kein akzeptabler Weg. Eine Abwägung verschiedener Argumente ist zwar eine Selbstverständlichkeit: Die Darstellung unterschiedlicher Standpunkte ist ein untrennbares Element talmudischen Denkens. Indessen zeigten gerade auch unsere großen Weisen, dass eine noch so scharfe intellektuelle Auseinandersetzung ohne Diffamierung geführt werden kann. Das sollte auch ein Maßstab für unsere Zeit sein.

Der Autor ist Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland

1 Kommentar

  1. Ein soziales System nach Vorbild des Tempels(alle zahlen ein,um den bedürftigen zu helfen),ist ja im allgemeinen eine gute Sache,aber ganze Bibliotheken mit Gesetzeswerken drumherumzuschustern,kann keine Früchte tragen,jedenfalls keine geniessbaren.

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