Hanna Bloch Kohner opferte ihr ungeborenes Kind, um im Vernichtungslager Auschwitz zu überleben. Jahre später brachte sie in Los Angeles eine Tochter auf die Welt, die von ihr einen Auftrag erhielt: die Erinnerung an den Holocaust weiterzugeben…
Von Bettina Mikhail
Sie war zu jung für die ganze Wahrheit. Wenn die kleine Julie ihre Mutter fragte, warum sie keine Großeltern habe, antwortete die nur: „Sie sind vor langer Zeit gestorben, Julie.“ Erst als Julie immer wieder nachhakte, antworteten die Eltern schließlich: „Oma und Opa sind im Krieg umgekommen.“ Mehr verrieten sie zunächst nicht. Als Julie ihren Onkel fragte, was denn die eintätowierten Zahlen auf seinem Arm bedeuteten, wich auch er aus. „Das ist meine Telefonnummer, Julie.“
Erst als sie älter wurde, erfuhr Julie Kohner Einzelheiten über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, die ihre Mutter traumatisiert hatten und durch die ein Teil ihrer Familie ums Leben gekommen war. In Julies Zuhause wurde nun offen über den Holocaust geredet. Es gab sogar ein ganz besonderes Ritual: Am Vorabend des jüdischen Pessachfestes, bei dem an die Knechtschaft und den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnert wird, half Julie Kohner jedes Jahr ihrem Vater Walter, einen 16-Millimeter-Filmprojektor auf dem Tisch aufzubauen. Ihre Mutter Hanna zog sich währenddessen lieber in die Küche zurück und wusch leise das Festtagsgeschirr ab.
Der Film lief, Julie hörte gebannt zu, die Worte brannten sich in ihre Erinnerung: „Bei Ihrer Ankunft in Auschwitz gab man Ihnen Seife, und Sie gingen zu den Duschen“, sagte der Moderator der Sendung „This is your life“ („Das ist Ihr Leben“) zu einer jungen Frau, die am 27. Mai 1953 auf einer TV-Bühne in Hollywood Platz genommen hatte. „Sie hatten das Glück, dass aus Ihrer Dusche Wasser kam – anders als Ihre Mutter, Ihr Vater und Ihr Mann Carl. Sie alle ließen ihr Leben in Auschwitz.“ Normalerweise widmete sich die Unterhaltungsserie einem Prominenten. Doch an diesem Tag präsentierte die NBC-Sendung zum ersten Mal im US-Fernsehen die persönliche Geschichte einer Holocaust-Überlebenden. Und der Gast war Hanna Bloch Kohner – Julies Mutter.
Hanna Kohner als Ehrengast der NBC-Sendung „This is your life“ („Das ist Ihr Leben“) am 27. Mai 1953. Das war der erste Auftritt einer Holocaust-Überlebenden im US-Fernsehen. Zum Ablauf der Sendung (www.archive.org) gehörte es, den Ehrengast mit Personen zu überraschen, die in der eigenen Lebensgeschichte eine Rolle gespielt haben. Hier tritt US-Offizier Harold Shucart auf die Bühne, der Hanna im Mai 1945 bei der Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen unter seine Obhut genommen hatte. Links daneben Moderator Ralph Edwards.
Ein Lebensthema
„Frage die früheren Generationen … sprechen sie nicht zu dir?“ Diese Aufforderung aus dem Buch Hiob im Alten Testament mag Julie Kohner als Erwachsene aufgegriffen haben: Seit 1991 hat sie in den USA das Projekt „Voices of the Generations“ („Stimmen der Generationen“) aufgebaut, eine gemeinnützige, spendenfinanzierte Gesellschaft zur „Holocaust-Education“. In Deutschland als „Holocaust-Erziehung“ übersetzt, ist dies ein hierzulande noch relativ neues Konzept. Es geht nicht nur um historisches Wissen, sondern auch um die systematische Vermittlung von moralischen Werten wie Toleranz und Gewaltlosigkeit. Immer mehr US-Bundesstaaten, Kanada und andere Länder entwickeln bereits Lehrpläne.
Die ehemalige Lehrerin Julie Kohner weiß, dass sich gerade Kinder mit persönlichen Schicksalen identifizieren müssen, um zu begreifen, was Millionen von Menschen in den NS-Vernichtungslagern erlitten haben. Doch Julie Kohner tritt auch vor erwachsenem Publikum auf. Die Geschichte, die sie erzählt, ist mehr als nur Programm. Es ist die Geschichte ihrer Mutter, die zu ihrem eigenen Lebensthema wurde.
Hanna Bloch wuchs als Kind jüdischer Eltern in Teplitz-Schönau im Sudetenland auf. Dort verliebte sie sich 1935 in Walter Kohner. Als die Wehrmacht 1938 das Sudetenland besetzte, flüchtete Walter vor den Nazis und emigrierte in die USA, weil seine älteren Brüder dort lebten. Seine Verlobte Hanna wollte er nachholen. Als ihm das nicht gelang, floh Hanna nach Amsterdam. Doch Hitlers Truppen marschierten 1940 auch dort ein. Hanna gab die Hoffnung endgültig auf, Walter jemals in Amerika heiraten zu können.
Zunächst war Hanna zwar noch vor Verhaftungen sicher, weil sie als Schreibkraft beim Jüdischen Rat arbeitete. In Amsterdam lernte sie Carl Benjamin kennen, einen deutschen Flüchtling, den sie 1942 heiratete. Dadurch rettete sie sich kurzzeitig vor der Deportation. 1943 aber wurden auch Hanna und Carl verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork gebracht – nur eine Zwischenstation für ihre Deportation 1944 nach Theresienstadt und weiter in das Vernichtungslager Auschwitz.
Heimliche Abtreibung
Ausgerechnet jetzt war Hanna schwanger. Sie ahnte, dass das in Auschwitz ein sicheres Todesurteil sein würde. Man sagte ihr, dass sie mit einer heimlichen Abtreibung eine Überlebenschance hätte. Das war nur mit Hilfe ihres Bruders möglich, einem ausgebildeten Arzt, der ebenfalls in Auschwitz interniert war. Ende Oktober 1944 überzeugte er eine Ärztin im Lager, die Abtreibung durchzuführen. Es war nicht das einzige Mal, dass Hanna Bloch knapp dem Tod entkam.
Im November 1944 wurde Hanna in das KZ Mauthausen bei Lenzing in Österreich gebracht. Als die Amerikaner Anfang Mai 1945 das Todeslager befreiten, war Hanna eine der Insassen, die als Zwangsarbeiterin in einer Fabrik der Ermordung entkommen war – wieder einmal.
Bevor die US-Soldaten weiterzogen, boten sie den Überlebenden an, Freunden oder Verwandten in den USA eine Nachricht zu schreiben. „Ich habe einen Freund in Kalifornien“, sagte Hanna in ihrem stockenden Schulenglisch zu einem Offizier. „Er wohnt in Los Angeles, Sunset Boulevard.“ Und tatsächlich: Walter Kohner erhielt den Brief über Umwege, und zwar in Luxemburg. Er war mit einer US-Spezialeinheit nach Europa zurückgekehrt und arbeitete als Nachrichtensprecher bei Radio Luxemburg. Als er erfuhr, dass Hanna lebte, brach er sofort auf und versuchte, sie zu finden. In Deutschland, der Tschechoslowakei, überall in Europa. Er fand sie in Holland.
Narben der Vergangenheit
Schon im Oktober 1945 heirateten Hanna und Walter in Luxemburg, 1946 zog das Paar nach Los Angeles. Bei der heimlichen Abtreibung in Auschwitz war Hanna erklärt worden, dass sie nie ein Kind werde bekommen können. Sie wollte sich damit nicht abfinden. Nach acht Fehlgeburten brachte Hanna am 4. Juli 1955 dann doch eine Tochter auf die Welt: Julie. Doch das lang ersehnte Kind erinnerte die Mutter auch stets daran, was sie verloren hatte. „Warum habe ich überlebt? Warum gerade ich?“ Nagende Fragen, auf die sie nie befriedigende Antworten finden konnte – und die auch Julie bewegen sollten.
Hanna und Walter Kohner am Tag ihrer Hochzeit in Luxemburg am 24. Oktober 1945
Dass Hanna überlebt hatte, war Glück und Zufall. Und ohne die körperliche und moralische Unterstützung ihrer Freundinnen und anderer KZ-Insassen, erzählte Hanna später, hätte sie es nicht geschafft. Das alles half ihr nach dem Krieg wenig: Lebenslange Schuldgefühle den Ermordeten gegenüber waren für Hanna der Preis, der Hölle entkommen zu sein.
Das Trauma des Holocausts prägt auch die Nachkommen der Überlebenden. Die Eltern waren vom Feuer verschont geblieben, doch ihre Kinder wuchsen in der Nähe der Hitze seiner Flammen auf, sagte die Holocaust-Psychologin Florabel Kinsler einmal. Julie Kohner fühlte sich sehr eng mit ihrer Mutter verbunden. Bald bekam sie ihre eigenen Schuldgefühle und litt zeitweise unter Angststörungen. An jedem Muttertag besuchte die Familie den Friedhof, auf dem Walter Kohners Mutter beerdigt ist. An diesem Tag sprach Hanna Kohner oft von den Kindern, die sie verloren hatte. Julie wurde daran erinnert, dass sie beinahe Brüder und Schwestern gehabt hätte. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie alle diese Kinder ersetzen musste.
Hanna Kohner (rechts) und ihre Tochter Julie im Jahr 1988
Das Programm „Stimmen der Generationen“, das Julie Kohner entwickelt hat, ist somit auch ein klein wenig Selbsttherapie. Es basiert auf Hannas Geschichte, der Aufzeichnung der Fernsehshow, in der ihre Mutter auftrat, und auf dem Buch „Hanna and Walter – A Love Story“, das ihre Eltern zusammen mit Julies Onkel 1984 in USA veröffentlichten. Wenn Julie Kohner ihren Zuhörern vom Terror der Nazi-Zeit und den Todeslagern in Europa erzählt, hat sie stets ein blaues Schmuckkästchen bei sich. Darin bewahrte ihre Mutter das goldene Bettelarmband mit zehn kleinen Anhängern auf, das man ihr am Ende der Fernsehshow geschenkt hatte. Motive auf den Anhängern wie die Freiheitsstatue oder der Davidstern sollten jeweils an eine Station ihrer bewegten Vergangenheit erinnern. Doch Hanna trug das Armband selten. Vielleicht, weil für sie das eigentliche Symbol ihres Überlebens immer in ihrer Nähe war: Julie, die von ihr den unausgesprochenen Auftrag erhielt, die Erinnerung an den Holocaust weiterzugeben.
Erinnern in Zeiten des Web 2.0
1990 starb Hanna Kohner im Alter von 70 Jahren an einem Herzinfarkt – womöglich eine Spätfolge der unmenschlichen Lebensbedingungen in den KZs. Ein Jahr danach begann Julie Kohner mit dem Programm „Stimmen der Generationen“. Sie möchte es nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, und vor allem in Deutschland, präsentieren. Um Hannas Geschichte amerikanischen Schulkindern zu vermitteln, hat Julie Kohner einen Lehrplan entwickelt – und geht noch einen Schritt weiter. Mit einem Projektpartner plant sie, eine Web-2.0-Plattform aufzubauen, wo Kinder und Enkel der Opfer der Shoah mit Videobeiträgen ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen darstellen können. „Echos der Vergangenheit“ soll das Forum heißen – und als Archiv für schulische Bildungsarbeit und für kommende Generationen dienen.
Es gibt immer weniger Zeitzeugen und Überlebende des Holocaust. Ihre Söhne und Töchter hat die Psychotherapeutin Dina Wardi einmal „lebende Gedenkkerzen“ genannt. Julie Kohner ist eine von ihnen.
Dieser Artikel erschien zuerst bei http://einestages.spiegel.de.
Frau Julie Kohner bietet in USA seit fast 20 Jahren Vortragsveranstaltungen über die Überlebensgeschichte ihrer Mutter sowie seit neuestem Lehrerfortbildungen zur „Holocaust-Education“ an. Sie plant den Sprung über den großen Teich und steht in Zukunft auch in Deutschland für Vortragsveranstaltungen und Lehrerfortbildungen zur Verfügung. Weitere Informationen über „Voices of the Generations“ unter www.vogcharity.org. Kontakt: vog@vogcharity.org.