Steine zum bleibenden Gedächtnis – in Berlin und anderswo

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„‚Lasst uns nicht alleine hier…‘ – Das war das Letzte, was ich von ihr hörte.“ Abgehackte Sätze, unter Tränen von einer Mutter gesprochen. Aus einem Telefonat zwischen Mutter, Vater und Tochter. Die Tochter kurz vor der Abreise nach Palästina, die Eltern in Berlin. Oktober 1940…

Von Manuela Petzoldt

9. April 2010. Berlin-Wilmersdorf. „…und im Garten Eden ihre Ruhestätte, und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden…“ Zwei Zeilen aus einer deutschen Übersetzung des traditionellen jüdischen Gebets zum Gedenken an die Verstorbenen, verlesen von einem aus dem Staat Israel angereisten Urenkel, auf Ivrith.

Der Urenkel steht im Kreis einer kleinen Gruppe, die sich an einem der großen Boulevards des Berliner Westens zu einer denkwürdigen Aktion versammelt hat. In ihrer Mitte am Boden glänzen zwei, auf Quadratsteinchen aus Beton ruhende Messingplatten, in die Namen und Daten eingraviert sind. Eben erst wurden sie in das Straßenpflaster in Handarbeit eingelassen, die sog. Stolpersteine. Vor 15 Jahren hatte der Künstler und Kunstpädagoge Gunter Demnig, 1947 in Berlin geboren, in Köln mit der Realisierung seiner Stolperstein-Idee begonnen. Dadurch werden in Wohnvierteln lokale Punkte markiert, die an die Deportation und Ermordung von ehemaligen Anwohnern unter der NS-Gewaltherrschaft erinnern. Seitdem  wurden in über 500 Orten in Deutschland und in mehreren europäischen Ländern mehr als 22.000 Stolpersteine verlegt, oft in Zusammenarbeit mit Schulen, als Mahnmal für die ermordeten Juden und die Opfer der anderen Minderheiten: Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Verfolgte. In ganz Deutschland finden sich bisher etwa 5.000 Stolpersteine. 55.696 Berliner Juden sind ermordet worden. In der Hauptstadt gibt es bisher jedoch erst ca. 2.700 dieser Gedenksteine, die meisten in den Bezirken Kreuzberg-Friedrichshain, Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf.

Für die jüdischen Opfer gibt es keine Gräber mit Grabsteinen, auf welche Nachkommen und Angehörige, dem traditionellen Brauch folgend, Steinchen legen könnten. Die Entpersönlichung jedes einzelnen kam in den Massenkrematorien an ihr grausames Ende. Vorausgegangen war die Auslöschung des eigenen Namens: Wer keine feste Wohnung mehr hat, braucht auch kein Klingelschild mehr, auf dem sein Familienname geschrieben steht. Die Spur zurück führt dorthin, wo die ehemaligen Nachbarn zuletzt als Individuen greifbar waren, nämlich als sie noch in ihren Wohnungen lebten und ein jeglicher Hausfriedensbruch der Nazis noch nicht als endgültiger gelten musste.

Die Stolpersteine sind kein Ersatz für ein Grab auf einem jüdischen Friedhof, zumal jüdische Grabstätten niemals eingeebnet oder gar wiederbenutzt werden. Aber die heutigen Menschen begegnen ihnen als Miniaturmonumente in ihrem Alltag, und zwar dort, wo immer so viele unterwegs sind, auf der Straße, im öffentlichen Raum diesseits der Baufluchtlinie, die daneben liegendes Privateigentum abgrenzt.

„Nein, man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen,“ hat einmal ein Schüler Demnigs Projekt treffend beschrieben, das kein anonymisiertes Kollektivmonument ist, sondern sich zum weltweit größten dezentralen Denkmal entwickelt hat.

Zwei Minuten lang ertönen die Sirenen. Die Mehrheit der Bevölkerung hält derweil schweigend inne, lässt die momentane Alltagsbeschäftigung eine Zeitlang ruhen. Nur die notwendigsten Tätigkeiten wie die zur Lebenserhaltung in Krankenhäusern werden ohne Unterbrechung fortgeführt. Die Autos auf den Straßen halten an, die Insassen steigen aus und bleiben neben ihren Fahrzeugen stehen. Das öffentliche Leben hält den Atem an.

Diese landesweite Zeremonie gehört zu den eindrucksvollsten, die im Staat Israel stattfinden. Alljährlich am 27. Nissan nach dem jüdischen Kalender, der in diesem bürgerlichen Jahr auf den 11. April fiel, kehrt der „Yom haShoah“ wieder, der Tag zum Gedenken an die vernichtende Katastrophe, die auch als Holocaust bezeichnet wird. Im Unterschied zur räumlichen Fixierung der Erinnerung in Form der Stolpersteine wird hierbei an die zeitliche Dimension angeknüpft.

Sowohl in Israel, wo der Gedenktag als säkularer Feiertag begangen wird, als auch in vielen anderen Ländern verliest man Namenslisten von Shoah-Opfern. So werden die Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen, die einst als Familienangehörige, Freunde, Nachbarn oder Kollegen vor Ort zu Hause waren. Vor dem jüdischen Gemeindehaus in Berlin dauert die Verlesung der Namen aller bekannten ermordeten Berliner Juden diesmal vom Abend des 12. April bis zum Abend des 13. April. Gleichzeitig wird des Aufstands im Warschauer Ghetto gedacht, dessen 67. Jahrestag ist.

Die historische Holocaust-Forschung zu den Namen der jüdischen Opfer hat ihr Zentrum in Yad Vashem in Jerusalem. Diese Einrichtung kooperiert mit der Gedenkstätte des Deutschen Widerstands in der Berliner Stauffenbergstraße, wo sich auch die „Koordinierungsstelle Stolpersteine“ befindet.

In einem Prophetenbuch der Hebräischen Bibel (Jes. 56,5) ist zu lesen: „So geb ich ihnen in meinem Haus und in meinen Mauern Handmal und Namen.“ Mit „Handmal und Namen“ hatte einer der besten Kenner der jüdischen Bibel, Naftali Herz Tur-Sinai (Harry Torczyner), die althebräischen Worte „yad va-shem“ ins Deutsche übertragen. Wer Namen zurückgibt, trägt zur Vergegenwärtigung des Gestern bei. Jeder einzelne bleibt ein Hinweis für kommende Generationen.

Zum Abschluss der denkwürdigen Aktion legt Yaron Sh. zwei weiße Tulpen auf die Stelle mit den beiden Messingplatten für seine Urgroßeltern. Moses und Rosa Rika Mendelsohn, die 1922 aus Posen-Poznán nach Berlin gekommen waren, wurden am 11. September 1942 zunächst nach Theresienstadt deportiert und noch im selben Monat in Treblinka ermordet. Sechs ihrer sieben Kinder konnten sich retten: fünf nach Israel, eins nach Mexiko.

Als die kleine Gruppe nach einer Weile nochmals an den Stolpersteinen in der Bundesallee 180 vorbeigeht, sind die Blumen verschwunden.