Ernst Federn und die Erosion der Psychoanalyse

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Im Herbst 2004 wurde in Österreich gleich mehrfach der 90. Geburtstag des Psychoanalytikers Ernst Federn gefeiert. Der Soziologe Prof. Helmut Dahmer, langjähriger Redakteur der psychoanalytischen Fachzeitschrift „Psyche“, hielt am 18.9.2004 bei einer Wiener Festveranstaltung  den Vortrag „Ernst Federn und die Erosion der Psychoanalyse“…

Von Helmut Dahmer (Wien)

 Lieber Ernst Federn, liebe Hilde, verehrte Anwesende,

an einem schönen Sommernachmittag des Jahres 1969 saß ich mit zwei Gästen aus den Vereinigten Staaten im Frankfurter „Palmengarten“ unter einem großen Kastanienbaum. Ernst Federn war von Alexander Mitscherlich ins Sigmund-Freud-Institut eingeladen worden und hatte dort vorgetragen; Hilde hatte ihn begleitet. Wenn die Gäste des Freud-Instituts nicht gerade Vorsitzende dieser oder jener Psychoanalytischen Vereinigung waren, der Kaste der Lehranalytiker angehörten oder Bücher veröffentlicht hatten, über die man sprach, bat man gern den Redakteur der Monatszeitschrift Psyche, sich ein wenig um sie zu kümmern. Und so hatte ich im Laufe der Jahre Gelegenheit, mich mit mancherlei psychoanalytischen Autoren über ihre Arbeit und ihre Publikationsvorhaben zu unterhalten.

Von Ernst Federn wußte ich damals nur, daß er der Sohn von Paul Federn war, von dem ich neben dem Hauptwerk Ichpsychologie und die Psychosen ((Federn, Paul (1956): Ichpsychologie und die Psychosen. Bern, Stuttgart.)) noch das (von ihm gemeinsam mit Heinrich Meng herausgegebene) Psychoanalytische Volksbuch ((Federn, Paul, und Heinrich Meng (1926): Das psychoanalytische Volksbuch. Stuttgart.)) gelesen hatte. Zudem hatte Federn (mit Herman Nunberg) die ersten beiden Bände der Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung herausgegeben ((Die vier Bände der von Hermann Nunberg und Ernst Federn herausgegebenen Minuits of the Vienna Psychoanalytic Society bzw. der Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung erschienen 1962 (1976), 1967 (1977), 1974 (1979) und 1975 (1981) in New York bzw. in Frankfurt am Main.)), und ich bat ihn, mir für eine Arbeit über das Verhältnis von Psychoanalyse und historischem Materialismus den damals noch unveröffentlichten deutschen Text des Vortrags „Zur Psychologie des Marxismus“ zugänglich zu machen, den Alfred Adler am 10. März 1909 im Freud-Kreis gehalten hatte, wenn möglich mitsamt den Diskussionsbeiträgen ((Nunberg, Herman, und Ernst Federn (Hg.) (1967): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. II (1908-1910), S. 155-160. (Protokoll Nr. 72.))). Jüngere Menschen verhalten sich Angehörigen der älteren Generation gegenüber oft wie Parzival, als er zum ersten Mal vor dem Gralskönig Anfortas stand ((Wolfram von Eschenbach (1977): Parzival, 5. Buch. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und herausgegeben von Wolfgang Spiewok. Bremen 1986.)): aus falsch verstandener Höflichkeit (oder auch aus Desinteresse) stellen sie keine Fragen, und schon gar nicht die richtigen. (Zum Glück haben Tomas Plänkers ((Plänkers, T., und E. Federn (1994): Vertreibung und Rückkehr. Interviews zur Geschichte Ernst Federns und der Psychoanalyse. Tübingen 1994.)) und Bernhard Kuschey ((Kuschey, Bernhard (2003): Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie der Binnenstruktur des Konzentrationslagers. Bd. 1 und 2. Gießen.)) später bei den beiden Federns gründlich nachgefragt…) Von Ernsts und von Hildes Biographie, von seiner politischen Aktivität im Österreich der dreißiger Jahre, von seiner Zeit als Häftling in Dachau und Buchenwald und von seiner späteren Arbeit in den USA wußte ich praktisch nichts. ((Auch hier liegen die Dinge inzwischen zum Glück ganz anders. Sowohl Federns Biographie als auch seine theoretischen Arbeiten sind gut dokumentiert: Federn, Ernst (1990): Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. [Witnessing Psychoanalysis. From Vienna back to Vienna via Buchenwald and the USA.] Gießen 1999. – Kaufhold, Roland (Hg.) (1998): Ernst Federn – Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen. – Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen.)) Aber ich war froh, in ihm einen Psychoanalytiker zu treffen, der die „Pioniere“ der neuen Wissenschaft noch gekannt hatte und der wie selbstverständlich von der „Psychoanalytischen Bewegung“ sprach und mit deren Geschichte vertraut war.

Die Psychoanalytiker, mit denen ich Ende der sechziger Jahre Umgang hatte, zeigten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für die Geschichte ihrer eigenen Organisation wie für diejenige ihrer Theorien keinerlei Interesse. Erst im Gefolge der internationalen studentischen Protestbewegung, die in Westdeutschland ein neues Interesse an der Freudschen Psychoanalyse weckte, wurde allmählich auch die Beschäftigung mit deren Geschichte zu einer Mode. An jenem nun schon weit zurückliegenden Mittag sprachen wir sicher nicht über Gott, wohl aber über unsere Welt und deren Geschichte, und ich staunte nicht schlecht, daß dieser Psychoanalytiker sich für mein Vorhaben interessierte, die Analysen, die der exilierte Leo Trotzki in den Jahren 1929-1933 von der türkischen Insel Prinkipo aus über den Niedergang der Weimarer Republik und das Versagen der KPD geschrieben hatte, zu dokumentieren ((Trotzki, Leo (1924-1940): Schriften über Deutschland. Hg. von H. Dahmer, eingeleitet von Ernest Mandel. Frankfurt 1971, Bd. I und II.)), und daß Hilde Federn beiläufig erwähnte, sie habe den Trotzki-Enkel Sewa Wolkow in den Jahren 1933-1936 in Wien betreut ((Vgl. dazu Kuschey (2003), a. a. O. (Anm. 7), S. 212 ff., und Ranc, Julijana (2004): Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben. Hamburg, S. 99 ff., 406 f. und 521.)). Wie hätte ich erst gestaunt, wenn ich bei dieser ersten Begegnung schon erfahren hätte, daß Ernst Federn die im Jahre 1919 von seinem Vater geschriebene Verteidigung der Rätedemokratie ((„Es wäre eine ungeheure Befreiung, wenn die jetzige Revolution, die eine Wiederholung uralter Revolten gegen den Vater ist, Erfolg hätte. Die Seele der Menschheit könnte vielleicht eine schönere werden, der parrizide Zug aus ihrem Antlitz verschwinden.“ Federn, Paul (1919): Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft. Wien, S. 22.)) ein Vierteljahrhundert später, unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager, weitergeführt hatte, als er sich mit seinen überlebenden Genossen die Schaffung „eines Räte-Deutschlands in einem Räte-Europa“ zum Ziel setzte. ((Vgl. die „Erklärung der internationalistischen Kommunisten Buchenwalds (IV. Internationale)“, die am 20. 4. 1945 von vier überlebenden Trotzkisten des Lagers Buchenwald – Marcel Beaufrère, Ernst Federn, Karl Fischer und Florent Galloy – verfaßt wurde. In: Keller, Fritz (1980): In den Gulag von Ost und West. Karl Fischer, Arbeiter und Revolutionär. Frankfurt, S. 149 ff.))

Seinen Weg zur Psychoanalyse hat Ernst Federn in der für ihn typischen, lakonischen Art folgendermaßen beschrieben:

„Buchenwald […] war ein Arbeitslager, aber auch ein Vernichtungslager für Juden. Als wir [im September 1938 von Dachau] nach Buchenwald kamen, wurde es in ein Arbeitslager umgewandelt, wobei die Todesrate für die dort Untergebrachten eher gering war. […] Es hat ca. zwölf Tote jeden Tag gegeben.“ Er erwähnt dann Gespräche – über „Identifikation mit dem Angreifer“ und über psychische „Regression unter dem Druck der Terrors“ –, die er mit Bruno Bettelheim führte, den er zufällig bei Bauarbeiten im Lager – nämlich beim „Ziegelschupfen“ – traf. Bettelheim kam nach einigen Monaten Haft wieder frei. Ein anderer seiner psychologischen Gesprächspartner war Otto Brief, ein Arzt aus Brünn, der seine Lehranalyse bei Wilhelm Reich gemacht hatte (und später in Auschwitz ums Leben kam). „In Buchenwald“, heißt es bei Federn weiter, „gab es jedoch noch andere, die so ein bisserl was von Psychoanalyse gewußt haben, und mit denen konnte man reden. Sie waren nicht psychoanalytisch ausgebildet – so wie auch ich nicht ausgebildet war –, meine ganzen Kenntnisse kamen ja daher, daß ich die letzten Jahre [vor der Verhaftung im März 1938] Sekretär meines Vaters war. Das ist also die eine Seite der Geschichte. Die andere Seite ist, daß ich meine analytischen Kenntnisse benützt habe, um in schweren Situationen durchzukommen.“ ((Plänkers und Federn (1994), a. a. O. (Anm. 6), S. 150 ff. Vgl. dazu Federn (1990), a. a. O. (Anm. 8), S. 26-30.))

Nach meinem Verständnis ist nun die Freudsche Psychoanalyse überhaupt als ein Versuch entstanden, „in schweren Situationen durchzukommen“. Die „schwere Situation“, mit der ein Sigmund Freud oder ein Paul Federn es als Angehörige der jüdischen Minderheit im „langen“ neunzehnten Jahrhundert zu tun hatten, war noch nicht die des barbarischen „kurzen“ zwanzigsten Jahrhunderts (das die Historiker durch die Jahre 1914-1989 begrenzen): Es gab noch keine totalen Kriege, keinen Holocaust und keine ABC-Waffen, selbst die Folter schien aus Europa verbannt. Aber es gab innereuropäische Kriege genug, es gab ethnische und Klassenkonflikte, niedergeschlagene Revolutionen mit nachfolgendem weißen Terror, antisemitische Pogrome, und es gab, an der Peripherie der europäischen Welt, das Grauen der Kolonialkriege. Sensible Geister artikulierten das „Unbehagen an der Kultur“, die noch keine ist, und einige wenige prophezeiten schon deren Umschlag in eine neuartige Barbarei.

Der Nervenarzt Freud war bei materialistischen Physiologen wie Ernst Brücke in die Schule gegangen, und sein Zugang zu den Krankheiten war dementsprechend zunächst ein technischer. Um aber das Rätsel der „somatischen Leiden ohne organischen Befund“ zu lösen, mußte er den physikalistischen Deutungsrahmen, der die moderne, naturwissenschaftlich orientierte Medizin erst ermöglicht hatte, überschreiten und von der Technik auf die Praxis beziehungsweise auf die sprachliche Kommunikation zurückgehen, in der das Welt- und Selbstverständnis tradiert und erneuert wird, das die gesellschaftliche Voraussetzung der objektivierenden Naturwissenschaft und der von ihr angeleiteten Technik ist. Beim Versuch, die Ätiologie der Hysterie und ähnlicher Verhaltensanomalien aufzuklären, um eine diesen Leiden angemessene Therapie zu finden, stieß Freud auf eine Klasse von eigentümlichen Phänomenen, die sich weder eindeutig der Sphäre des Geistes, noch derjenigen der Natur zuordnen ließen. Hysterische Symptome konnte man, wenn überhaupt, dann nur als unerkannte („bewußtlose“) körperliche Inszenierungen eines zunächst „sozialen“, dann aber „verinnerlichten“ Konflikts verstehen. Und nur wenn man im unbefangenen Gespräch ((Vgl. dazu Bernfeld, Siegfried (1941): „Psychoanalyse als Gespräch.“ [„The facts of observation in psychoanalysis.“] Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 32. Jg., Stuttgart 1978, S. 355-373.)) (also am Leitfaden „freier Assoziationen“) die geheime Kränkungsgeschichte rekonstruierte, an deren Ausgang der Patient zum Sklaven seines Leidens geworden war, konnte die Notlösung, die zur Abdankung des Ichs und zur Kreation der Symptome geführt hatte, einer Revision unterzogen werden. Freud hatte die für unsere Lebens- und Sozialgeschichte gleichermaßen entscheidende Welt der pseudonatürlichen Institutionen (wieder-)entdeckt, die von bewußtlosen Autoren hervorgebracht, aber von ihnen nicht als ihr eigenes, notgeborenes Erzeugnis erkannt, sondern mit „Natur“ verwechselt werden. Ich sagte „wiederentdeckt“, denn diese Sphäre der Pseudonatur, also derjenigen historischen Phänomene, die sich als „natürliche“ tarnen und dadurch als invariant erscheinen, war das zentrale Thema der Lehrer von Freuds akademischen Lehrern gewesen, der Schelling und Hegel. Und so nimmt es nicht wunder, daß wir im Kern der Freudschen Theorie auf ein Ensemble von Schellingschen Begriffen stoßen. ((Marquard, Odo ([1962] 1963): „Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.“ In: Marquard (1973): Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt, S. 85-106.)) Anamnesis, Wiedererinnerung, ist sowohl der Zentralbegriff der Schellingschen Philosophie wie derjenige der Freudschen Metapsychologie.

Die Geschichte ist, Freud zufolge, der Selbstdomestikationsprozeß, in den sich die Menschengattung, die mit luxurierenden Antriebsenergien (oder „Triebwünschen“) begabt ist, verstrickt. Selbstbehauptung unter Bedingungen von Mangel und Herrschaft nötigt sie zur Ausbildung von Institutionen. Den gesellschaftlichen Institutionen (Familie, Privateigentum, Markt, Staat, Krieg, Folter, Menschenopfer und Menschenjagd) korrespondieren Institutionen der Seele – bestimmte Sozialcharaktere oder „Dispositionen“. Sozialisation zwingt die (widerstrebenden) Individuen ins Joch der Tradition, ohne doch ihr Glücks- und Innovationsstreben, das sie zu geheimen Todfeinden der bestehenden Institutionen macht ((Freud, Sigmund (1927): Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt 1963, S. 326 f.)), auslöschen zu können. Sozialisation immunisiert die Institutionen gegen Veränderung. Die neurotische Erkrankung zieht die Individuen aus der sozialen Welt heraus, isoliert sie und verurteilt sie zur Sisyphosarbeit einer stets wieder scheiternden Traumabewältigung. Rebellionen gegen die tradierten Einrichtungen und die überlieferte Moral laufen Gefahr, nur die Barbarei, zu deren Eindämmung die Institutionen einmal errichtet wurden, auf „höherem“ Niveau wiederherzustellen. Progressive Regressionen, befreiende Untaten sind selten.

 Quellpunkt und Resultat des von Freud entwickelten dialogisch-anamnestischen Verfahrens war die Institutionenkritik. Der therapeutische Prozeß besteht darin, daß der Patient vermöge von Deutungen des von ihm selbst produzierten Materials (freier Assoziationen) allmählich in die Lage kommt, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem „Sumpf“ seiner neurotischen Verstörung zu ziehen, sich also der ritualisierten Formen der Konfliktvermeidung zu entledigen, die ihm zur zweiten Natur geworden sind. Diese Idee der Auto-Emanzipation, der Verwandlung der Akteure in Autoren, steht im Zentrum sowohl der Freudschen Konzeption von Therapie als auch im Zentrum der Marxschen Theorie der Revolution. Beide sind verwissenschaftlichte Versionen der Schelling-Hegelschen Natur- und Geschichts-Philosophie, und in beiden Fällen geht es um das Ausscheren aus einem verselbständigten Prozeß, der als Schicksal erscheint, oder um die Re-Subjektivierung eines „Objekts“. Die Kritik der bestehenden, kriegs- und pogromträchtigen Kultur und der durch Ichschwäche und Massenbindung charakterisierten seelischen Verfassung seiner Zeitgenossen war das Herzstück der Freudschen Theorie des Unbewußten. Die Therapie war nur eine der möglichen praktischen Anwendungen seiner neuen Wissenschaft, die man, mit einer erhellenden Formulierung Friedrich Nietzsches ((Nietzsche, Friedrich (1882, 1887): Die fröhliche Wissenschaft (›la gaya scienza‹), Aph. 355. In: Nietzsche (1980): Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe), hg. von Colli, Giorgio, und Mazzino Montinari. München. Bd. 3, S. 593 ff.)), eine „unnatürliche“ nennen kann. Darum wollte Freud die Psychoanalyse „einem Stand übergeben, der noch nicht existiert, einem Stand von weltlichen Seelsorgern, die Ärzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen“. ((Freud, Brief an Oskar Pfister vom 25. 11. 1928. In: Freud, S., und O. Pfister [1909-1939]: Briefe 1909-1939. Hg. von E. L. Freud und H. Meng. Frankfurt 1963, S. 136. )) Ernst Federn ist ein solcher weltlicher Seelsorger, und darum ist die Psychoanalyse bei ihm und seinesgleichen in guten Händen, in besseren jedenfalls als in denen der offiziellen psychoanalytischen Organisationen, die seit den dreißiger Jahren die Medizinalisierung und Entpolitisierung der Psychoanalyse, also ihre Verengung auf eine Technik, zum Programm erhoben haben. Federn hat die Psychoanalyse zuerst „im Handgemenge“ eines deutschen Konzentrationslagers, in Gesprächen mit Todgeweihten erprobt, und hat später, nachdem er bei Herman Nunberg in die Lehre gegangen war, das „reine Gold der Analyse“ (Freud ((Freud, S. (1919): „Wege der psychoanalytischen Therapie.“ Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt 1966, S. 195.)) in eine Legierung eingebracht, die er „Psychoanalytische Sozialarbeit“ nennt. In solchen „Legierungen“, in denen die Psychoanalyse sich als befreiende Kritik unserer seelischen und sozialen Institutionen bewährt, liegt meines Erachtens die Zukunft der Freudschen Psychoanalyse sehr viel eher als in der luxuriösen Abgeschiedenheit der psychoanalytischen Kur, gleichviel, ob die Psychoanalytiker, die sich zu solchen Legierungen bereitfinden, und ihre psychoanalytisch aufgeklärten Kollegen in die Haftanstalten der ersten oder in die Slums der dritten Welt gehen, oder ob sie die Rätsel zu lösen versuchen, die uns die Politik und die Kunst der Gegenwart aufgeben.

Kritische Theorien wie die Freudsche formulieren eine neue Erfahrung, die sich mit dem vorherrschenden Verständnis von Mensch und Welt nicht in Einklang bringen läßt. Sie werden darum entweder unterdrückt oder, in einem langwierigen Erosionsprozeß, dem Common sense, von dem sie sich absetzten, durch Uminterpretation wieder angeglichen. Das frappierendste Beispiel dafür bietet die von Marx und Engels entwickelte Kritik der Gegenwartsgesellschaft, die von gewitzten Ideologen binnen weniger Jahrzehnte in eine Staatsreligion umgewandelt wurde, mit deren Hilfe sie sogar noch den „Archipel GULag“ zu „rechtfertigen“ suchten. Ähnlich verhält es sich mit Nietzsches Kritik der „asketischen Ideale“, mit seinen „Heterodoxien“, die viele – unter dem Eindruck der verfälschenden Uminterpretation seiner Philosophie durch Elisabeth Förster-Nietzsche und die Völkischen in ihrem Gefolge – noch immer für eine Art ideologische Vorbereitung des SS-Staates halten. Freud hat seine Kritik der Gegenwartskultur ausgehend vom „Seelenende dieser Welt“ ((Freud,  Brief an Wilhelm Fließ vom 15. 10. 1897. In: Freud (1985): Briefe an Wilhelm Fließ, 1887-1904. (Ungekürzte Ausgabe.) Frankfurt 1986, S. 294.)) entwickelt, aus der Perspektive derer, die an ihr leiden oder unter ihrem Druck zerbrechen. Die theoretische Arbeit seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte bestand im wesentlichen darin, diese Kritik, die seine Entwicklung vom Positivismus zur Hermeneutik, von der Technik zum Dialog motiviert hatte, explizit zu machen. Seine der Kulturdiagnostik gewidmeten Bücher aus den zwanziger und dreißiger Jahren – Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Die Zukunft einer Illusion (1927), Das Unbehagen in der Kultur (1930) – und die dazugehörigen kleineren Schriften sind von den zeitgenössischen Psychoanalytikern und Soziologen kaum wahrgenommen und auch von den späteren nicht zureichend verstanden worden; von den Moses-Studien läßt sich sagen, daß sie eigentlich erst in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder „entdeckt“ worden sind. ((Yerushalmi, Yosef Hayim (1991): Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. [Freud’s Moses. Judaism Terminable and Interminable.] Berlin 1992. – Grubrich-Simitis, Ilse (1991): Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay. Frankfurt 1994. – Assmann, Jan (1998): Moses der Ägypter. München, Wien.)) Vor bald sieben Jahrzehnten schrieb Freud: „Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“ ((Freud (1927): Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt 1963, S. 333.)) Seinen damaligen Lesern, die sich in ihrer Mehrheit von der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung nichts Böses versahen, dürfte das keineswegs so selbstverständlich gewesen sein wie dem Autor. Das heutige Publikum aber wird von einem solchen Satz peinlich berührt und … überliest ihn. Man versteht aber gut, daß auch ein größerer Teil der damals in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung organisierten Freudianer ein Interesse daran hatte, sich von dem zu lösen, was das „Heterodoxe“ und Anstößige der Freudschen Aufklärung ausmachte. So kam es, daß sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine starke Minderheit (vor allem die nordamerikanischen Ärzte) in der Frage der „Laienanalyse“ gegen Freud stellte, der sich energisch dagegen sträubte, „daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt wird“. ((Ernst Federn hat in seinem Aufsatz „Wie freudianisch sind die Freudianer? – Einige Bemerkungen zu einem unveröffentlichten Brief“ über diese Kontroverse, über die in den Jahren 1927-1934 erzielte Kompromißlösung und deren Folgen berichtet. Federn (1990), a. a. O. (Anm. 8), Kap. 11. In diesem Aufsatz findet sich auch (auf S. 186) der (zuvor unveröffentlichte) Brief, den Freud zu dieser Frage am 27. 3. 1926 an Paul Federn schrieb.))

Nach der Vertreibung der großen Mehrheit der deutschen und österreichischen Psychoanalytiker aus ihren europäischen Bildungszentren Berlin, Wien und Budapest im Gefolge der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland wurde die Psychoanalytische Vereinigung der USA zur tonangebenden Gruppe der IPV. Damit war die Medizinalisierung der Psychoanalyse besiegelt. Die psychoanalytischen Organisationen beschränkten nun die Rekrutierung neuer Mitglieder auf gelernte Ärzte und Psychologen, also auf Menschen, die infolge ihrer universitären Ausbildung auf ein positivistisch-technisches Verständnis von Wissenschaft festgelegt sind. Dadurch wurde auch die Kommunikation zwischen der Psychoanalyse und den Geistes- und Sozialwissenschaften eingeschränkt oder abgebrochen. Zur weiteren Erosion der Psychoanalyse, also zu ihrer Angleichung an den Common sense, haben zwei andere, mit der Medizinalisierung eng verknüpfte Tendenzen beigetragen: das Interesse an einer „Verwissenschaftlichung“ und das an der Entpolitisierung der Freudschen Kritik. Ging es psychoanalytischen Ärzten darum, von den Standesorganisationen der Mediziner und Psychologen respektiert zu werden, so strebten psychoanalytische Theoretiker nach unversitärer Anerkennung. In den drei Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg und noch während der Weimarer Republik war das neukantianische Verständnis von „Wissenschaft“ für die Mandarine an den deutschen Universitäten verbindlich. Den konsequentesten Versuch, die Freudsche Theorie neukantianisch zu reformulieren, unternahm der Ich-Psychologe Heinz Hartmann. ((Hartmann, Heinz (1927): Die Grundlagen der Psychoanalyse. Stuttgart 1972.)) Hartmann zufolge bestand die Aufgabe der Wissenschaft, auch der psychoanalytischen, darin, die zur Verwirklichung von jeweils schon vorgegebenen Zielen (oder Werten) verfügbaren Mittel rationell einzusetzen. Über die Ziele selbst könne die Wissenschaft nicht befinden, ihnen gegenüber habe sie sich „neutral“ zu verhalten; ihr Geschäft sei einzig die Rationalisierung von Mitteln. Damit war der psychoanalytischen Kritik die Spitze abgebrochen. Verdiente es – wie Freud formuliert hatte – die Kultur der Gegenwart im Grunde nicht, erhalten zu werden, dann standen natürlich auch die herrschenden Kulturideale oder „Werte“ zur Disposition. Ihre fraglose Geltung war dahin, sie verfielen der Kritik. Die neukantianisch (oder szientistisch) orientierten Psychoanalytiker aber hatten bei ihrem antikritischen Bekenntnis zur Neutralität (oder „Objektivität“) nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Politik im Auge. Sie hofften nicht nur auf akademische Anerkennung, sondern auch auf Verschonung in Krieg und Bürgerkrieg. Die Verfolgung der Psychoanalytiker in Hitlers (wie in Stalins) Machtbereich hat diese Hoffnung alsbald zunichte gemacht, doch den gebrannten und emigrierten Kindern wurden in der Neuen Welt ihre Nöte zu Tugenden. Sie suchten sich eine Nische am Rande der medizinischen Fakultäten und machten aus ihrer Praxis eine Eremitage. Seit den dreißiger Jahren ist der durch die zunftmäßige Ausbildung der psychoanalytischen Verbände geprägte Psychoanalytiker ein auf szientifische und politische Neutralität bedachter Spezialist für die therapeutische Entwirrung verfahrener Lebensgeschichten. Die Therapie wurde mehr und mehr zu einer weltlosen und tendierte zur „folie à deux“. Die Entpolitisierung der Psychoanalyse und der Psychoanalytiker ((Vgl. dazu auch Federn, E. (1990), a. a. O. (Anm. 8), Kap. 14. („Psychoanalyse – eine ›neutrale‹ oder eine ›wertend-engagierte‹ Wissenschaft?“))) führte auch zum Abbruch der Beziehungen zur politisch radikalen Opposition und zur avantgardistischen Bohème. Freud, der in der Frage der Laienanalyse zu keinem Kompromiß bereit war ((Freud, S. (1926): Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen. Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt 1963, S. 207-296.)), hielt in dem Streit um den wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse daran fest, sie sei eine Naturwissenschaft der besonderen Art. In der Auseinandersetzung um die Stellung der Psychoanalyse zur Politik versuchte er zu taktieren und schlug sich dann, um sein Lebenswerk vor dem Untergang zu bewahren, auf die Seite der nationalistisch oder neutralistisch Gesonnenen unter seinen Anhängern.

Das „Weltinteresse“, das die Psychoanalyse einmal für sich in Anspruch nahm ((„[…] der Weg ins Weite, zum Weltinteresse, ist ihr eröffnet“. Freud (1925): „Selbstdarstellung.“ Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt 1963, S. 75.)), hat sich in den letzten Jahrzehnten verflüchtigt. Die übergroße Mehrheit der Psychoanalytiker schweigt zu den „brennenden Zeitproblemen“ ((Vgl. Parin, Paul (1978): „Warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen. Eine ethnologische Betrachtung.“ In: Dahmer, H. (Hg.) (1980): Analytische Sozialpsychologie. Frankfurt, Bd. 2, S. 647-662.)), zu Folter und Massaker, Krieg und Genozid, Lager, Terror und Proliferation. Noch aber gibt es weiße Raben, Menschen wie Ernst Federn, die der Erosion der Kritik entgegenwirken und sich mühen, der Psychoanalyse das verlorene Weltinteresse zurückzugewinnen. Er war zu jeder Zeit geistesgegenwärtig und schrieb über die zentralen Probleme seiner und unserer Zeit; so veröffentlichte er schon 1946 Arbeiten über die Folter und die Psychologie des Terrors ((Federn, E. (1990), a. a. O. (Anm. 8), Kap. 6; Kaufhold (Hg.) (1998), a. a. O. (Anm. 8), S. 35-75.)) und korrespondierte in den sechziger Jahren mit Robert Wälder über die Psychologie von Massenmördern ((Federn (1990), a. a. O. (Anm. 8), Kap. 8.)). Die im vorigen Jahr veröffentlichte, aus biographischen Interviews, die von Bernhard Kuschey kommentiert und interpretiert wurden, erwachsene zweibändige „Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers“ ((Kuschey (2003); A. a. O. (Anm. 7).)) gehört zu den herausragenden Zeugnissen des barbarischen 20. Jahrhunderts. Als Beitrag eines Psychoanalytikers, der Buchenwald überlebte, steht das Buch in einer Reihe mit den Dokumenten von Kogon und Rousset, Améry und Levi ((Kogon, Eugen ([1945] 1946): Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München 1998. – Rousset, David (1946): L’Univers concentrationnaire. Paris 1965. – Améry, Jean (1966): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977. – Levi, Primo (1947; 1958): Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. [Se questo è un uomo.] München 1992. Ders. (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten. [I sommersi e i salvati.] München, Wien 1990.)), und mit denen ihrer Leidensgefährten aus dem GULag, Schalamow und Solschenizyn ((Schalamow, Warlam T. (1967): »Artikel 58«. Die Aufzeichnungen des Häftlings Schalamow. Köln 1967. – Solschenizyn, Alexander (1962): Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. München. Ders. (1974): Der Archipel GULag, 1918-1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung. Bd. I – III. Bern, München.)).

Möge Ernst Federn viele Schüler finden!

Dieser Beitrag wurde dem von Bernhard Kuschey 2006 herausgegebenen Band: Die Psychoanalyse kritisch nützen und sozial anwenden. Ernst Federn zum 90. Geburtstag, Wien (Verlag Theodor Kramer Gesellschaft)  (148 S., DVD liegt bei, ISBN 3-901602-26-7. Bestellung über: Theodor Kramer Gesellschaft, A-1020 Wien, Engerthstr. 204/14, Österreich; e-mail: office@theodorkramer.de). Wir danken Prof. Helmut Dahmer, dem Autor, dem Herausgeber und dem Verlag für die freundliche Nachdruckgenehmigung. 

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