Der vorliegende Text erschien 1914 in der Zeitschrift “Ost und West”, die sich als “Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum” verstand und im Kontext der “Jüdischen Renaissance” dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. “Ostjuden” vorstellte…
Mitgeteilt von Bar-Ami
Ost und West, Heft 4, April 1914
In einer Stadt war einmal ein hochgelehrter Mann aus vornehmem Stamme und sehr reich. Er führte ein frommes Leben, gab reichlich Almosen an die Armen, lernte ständig Thora und übte alle Gebote streng nach den Vorschriften mit allen Kawwanoth, wie nur einer, der in die tiefsten Geheimnisse der Lehre eingedrungen ist. Er mischte sich nicht unter den gemeinen Haufen, sondern schloß sich ab und saß Tag und Nacht in einem mit Büchern angefüllten Zimmer seines schönen Hauses und widmete sich der Lehre und dem Gottesdienst.
Einmal an einem Pessach hielt der reiche und gelehrte Mann in dem größten Gemach seines schönen Hauses einen Seder ab. Du kannst dir denken, wie prunkvoll es dabei herging und wie streng alle Vorschriften bis aufs Haar dabei beobachtet wurden. Der Tisch war mit dem herrlichsten Linnen gedeckt und mit kostbaren silbernen und goldenen Geräten geziert. In kristallenen Flaschen und Bechern funkelte der Wein in allen Farben, und der Wein war von den frömmsten Männern von der ersten Minute seines Wachsens auf das sorgsamste behütet. Rings um den Tisch saßen viele Arme und fremde Wanderer, die der Hausherr eingeladen hatte, ganz wie die Vorschrift gebietet: „Jeder, der da hungrig ist, komm, speise mit uns, jeder, der dürftig ist, komm, feiere Pessach mit uns.“ Der Hausherr saß angelehnt auf seinem mit seidenen Kissen gepolsterten Sessel an der Spitze der Tafel, angetan mit einem mit Goldstickerei verbrämten Kittel, umgürtet mit einem silbernen Gürtel, und vor ihm stand die goldene Sederschüssel, auf der mit peinlichster Genauigkeit streng nach den Vorschriften Mazzoth, Kräuter und alles andere schön geordnet dalag. Die Haggada wurde schön und laut gesungen, und der Hausherr holte aus jedem Worte die verborgensten Geheimnisse heraus und mit jeder Zeremonie verband er den tiefsten Sinn, den die Weisen und Frommen der Vorzeit ihr untergelegt hatten. Er blickte über die Tafel hin, und als er sah, daß so viele arme Leute und Fremde an seinem Tisch sich gütlich taten und daß er alle Mizwoth so mit strenger Genauigkeit nach ihrem tiefsten Sinn erfüllte, dankte er Gott und freute sich im Herzen und dachte bei sich: wenn der Prophet Eliah heute in unsichtbarer Gestalt in jedes Haus kommt, wo der Seder abgehalten wird und aus dem für ihn bereitstehenden Pokal trinkt, so wird er gewiß bei mir zuerst eintreten. Gibt es in der ganzen Gegend weit und breit ein zweites Haus, in dem die Gebote Gottes an diesem Abend so streng und genau, mit soviel Weihe und Andacht erfüllt worden sind? — Nach dem Seder entließ er die Gäste, sein Hausgesinde ging zu Bett, nur der Hausherr allein wollte die ganze Nacht wach bleiben, wie die Strengfrommen zu tun pflegen, um Schir Haschirim zu singen und im heiligen Sohar alle die Erzählungen vom Auszug unserer Väter aus Aegypten zu lesen. Auf einmal übermannte ihn die Schläfrigkeit und er nickte ein. Im Traume kam Eliah, der Prophet, zu ihm und sprach: „Du irrtest dich, als du meintest, ich hätte heute abends dein Haus zuerst besucht. Bei dir bin ich seit Jahren überhaupt nicht gewesen. Mein erster Besuch aber galt heute abend Chajjim, dem Fuhrmann.“ Der vornehme Mann erwachte sehr erschrocken und zu Tode betrübt. Er dachte: Gott weiß, was für schwere Sünden ich begangen habe, wenn Eliah, der Prophet, seit Jahren zum Sederabend nicht zu mir kommt. Wer aber mag jener Fuhrmann sein, den er zuerst mit seinem Besuche beehrt? —-
Es litt ihn nicht mehr im Hause, er legte den schönen goldgestickten Kittel ab und ging hinaus, um Chajjim, den Fuhrmann, aufzusuchen. Die ganze Nacht irrte er umher. Erst als es Tag wurde, fand er die zerfallene Hütte weit draußen in einem Gäßchen, wo die ärmsten Leute wohnten. Chajjim, der Fuhrmann, war nicht wenig erstaunt und verwirrt, als der reichste und vornehmste Mann der Stadt in seine ärmliche Stube eintrat und ihn auszufragen begann, was er am vorigen Abend getrieben hätte. — „Nu, das was alle Juden am Pessachabend machen,“ antwortete Chajjim, „den Seder habe ich abgehalten.“ „Aber wie habt Ihr das getan? Habt Ihr alle Dinim und Minhagim genau beobachtet? Und die Kawwanoth dabei im Sinne behalten? Und haben arme Leute und fremde Gäste an eurem Tisch gespeist?“
Chajjim sah den Mann verlegen an und antwortete: „Ich verstehe leider nichts von allen diesen heiligen Sachen, denn ich bin nur ein ganz unwissender Fuhrmann, ich kann mit Mühe nur ein wenig dawenen (beten). Die Zeiten sind schlecht und die Verdienste kärglich. Aber, Gott sei Dank, zu Mazzoth, Rosinen ((Rosinensaft dient den armen Leuten als Wein für die vier Becher am Sederabend.)) und einem Stückchen Fleisch hat es gereicht. Abends bin ich zerbrochen vor Müdigkeit nach Hause gekommen, mein Weib hatte den Seder zurechtgemacht, und als ich die Haggada aufschlug, wie jedes Jahr — hm, ich kann ja kaum lesen und weiß gar nicht, was alles darin steht und wie man es zu machen hat — da sagte ich zu meinem Weibe: wir wollen es machen wie jedes Jahr, und wir sprachen: Wir danken dir, Gott, dafür, daß du unsere Väter aus dem Lande der Knechtschaft herausgeführt hast, und nun hilf uns weiter. Dann speisten wir, und während dessen kratzte es an der Tür, es war ein Hund, der sich in der Nachbarschaft herumtreibt und, weil er sehr häßlich ist, von allen nur Schläge und niemals einen Bissen bekommt. Das Tier dauerte uns, denn es fror und winselte. Mein Weib rief ihn herein und wir gaben ihm von unserem Essen. Dann betteten wir ihm ein Lager dort in der Ecke. Da schläft er noch“.
Also erzählte Chajjim, der Fuhrmann, dem vornehmsten Mann der Stadt.
Anmerkung: Diese Geschichte hörte ich oftmals als Kind von meinem Großvater Israel, der sie zu jedem Sederabend nicht ohne eine gewisse Selbstironie, zu erzählen pflegte. Er nannte dabei stets den Namen eines Bürgers seiner Vaterstadt Wybranòwka (unweit Lemberg), während der Name des Fuhrmanns jedesmal variierte. Später hörte ich die Geschichte aus Brody erzählen und der vornehme, gelehrte Mann war der als große rabbinische Kapazität bekannte R. Ephraim Salmon Margulies. Auch einige nachgemachte chasidische Varianten sind bekannt. — Mit dieser Legende verwandt ist eine andere, worin einer der „sechsunddreißig Gerechten“ die Rolle des armen Mannes spielt.
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Zum Baal-Schern kam einmal nach den Pessach-feiertagen ein Branntweinschänker und unterbreitete ihm eine sehr herbe und schwierige Schaalah ((Frage über eine das Ritualgesetz betreffende Angelegenheit.)): er war vor Pessach krank gewesen und hatte darüber vergessen, wie das Religionsgesetz es strenge vorschreibt, eine große Anzahl von vollen Branntweinfässern rechtlich durch Kaufvertrag einem Christen ins Eigentum zu übergeben! Nun war das alles „Gesäuertes“ (chamez), welches über Pessach geblieben, und durfte nicht nur nicht genossen, sondern auch nicht für Geld verkauft, nicht einmal verschenkt werden. Und die Fässer Spiritus machten das ganze Vermögen des Schänkers aus. Der Baal-Schern holte nun alle Gesetzbücher und eine Menge dicker Responsensammlungen hervor, blätterte hin und her, faltete die Stirn und sann und sann. Schließlich sagte er zu dem Schänker: „Ich finde keinen Hether (Erlaubnis). Es bleibt euch nichts übrig, als Fuhren zu dingen, die Fässer an den Fluß zu führen und den Branntwein ins Wasser fließen zu lassen. Er darf nicht einmal unentgeltlich verschenkt, geschweige verkauft oder gar genossen werden.“ Der Schänker wurde blaß, murmelte: „Der Thora muss man gehorchen“, und ging von dannen. Der Baal-Schem aber reiste ihm heimlich nach und sah zu, wie er die Fässer alle auf Fuhren verlud und sie zum Fluß hinbringen ließ. Er öffnete den Zapfen eines Fasses und ließ den Inhalt in den Fluß strömen. Da trat der Baal-Schem aus dem Hinterhalt, von wo aus er dem Vorgang zusah, heraus und gebot Halt! „Gott will nur das Herz. Du hast die Prüfung gut bestanden. Aber daß du verarmst, braucht Gott nicht.“ Und dabei blieb es.
Anmerkung: Diese merkwürdige, über den Buchstaben des strengen Gesetzes hinwegschreitende Legende wird von den Chasidim gern ihrem Oberhaupt Israel Baal-Schem-tov zugeschrieben. Sie ist aber entschieden bedeutend älter. Es sind bekanntlich etwa 11 oder 12 Rabbinen bekannt, denen das Epitethon Baal-Schem beigelegt wurde. Dagegen ist wohl keinem Zeitgenossen Israels eingefallen, ihm je eine Schaalah zu unterbreiten, und er hätte die Beantwortung entschieden abgelehnt.