Susanna Keval im Porträt: Die Grenzgängerin

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Als die russischen Panzer in die Stadt dröhnten, stand die 13-Jährige bangen Herzens am Fenster der elterlichen Wohnung. „Die Kolonnen waren mit weißen Streifen gekennzeichnet“, erinnert sich Susanna Keval auch heute noch, nach bald 42 Jahren. Preßburg, 21. August 1968: Die Invasions-Truppen des Warschauer Pakts marschierten in die Tschechoslowakei ein, um die Demokratiebewegung zu ersticken. Und für die jüdische Familie von Susanna ging es nun um alles…

Von Claus-Jürgen Göpfert, Frankfurter Rundschau

„Meine Mutter hatte das KZ Auschwitz überlebt, mein Vater war aus einem Arbeitslager geflohen“, in Preßburg hatten die Kommunisten später das Hofgut der Familie enteignet, der Vater saß mehrfach im Gefängnis, musste am Ende als Installateur arbeiten. „Eine Woche nach dem Einmarsch der Russen flüchteten wir in einem vollbepackten Skoda über die Grenze“, über Wien erreichten sie Frankfurt. Dort lebte ein Cousin des Vaters, „der hat Gardinenstangen produziert“. Heute bilanziert die Leitende Redakteurin der Jüdischen Gemeindezeitung: „Ich bin hier wirklich angekommen.“

In ihrer Wohnung am Rande des Westends, die leuchtenden Gemälde ihrer Freundinnen an den Wänden, empfindet Keval noch heute Dankbarkeit ihrer Mutter gegenüber. „Sie hat damals gesagt: Lasst uns hier bleiben und das Beste daraus machen.“ Und das war nicht einfach. Schon 1970 starb der Vater. „Und ich musste damit klarkommen, dass er in Deutschland beerdigt wurde, im Land der Täter.“ Sie blieb: „Ich hätte eine zweite Emigration nicht bewältigt.“

Am Anfang konfrontierte sie sich ganz bewusst mit dem deutschen Nationalgefühl: „Ich ging zu den Feiern am Tag der Deutschen Einheit, ich fand sie grässlich.“ Mitte der 70er Jahre geriet sie „mit meinem deutschen Freund“ in die Demonstrationen gegen die Grundstücksspekulation im Westend – und erlebte entsetzt, dass bei den Protestierenden jüdische Kaufleute wie Ignatz Bubis „das Feindbild“ waren. „Ich bin heulend aus der Kneipe raus – ich hatte einfach keine Position.“ Um das zu ändern, studierte sie Kunstgeschichte und Kulturanthropologie an der Frankfurter Universität, gab Kurse an der Volkshochschule über das Judentum. Und doch zweifelte sie lange, ob sie bleiben sollte: „Ich saß immer gedanklich auf gepackten Koffern.“

Das änderte sich erst, als sie in den 80er Jahren in Frankfurt Anschluss an eine Gruppe jüdischer Intellektueller fand, Dan Diner, Micha Brumlik, Cilly Kugelmann kennenlernte. Deren Motto geriet zu ihrem: „Wir bleiben hier, wir gehen in die Institutionen.“ Sie arbeitete im neugegründeten Jüdischen Museum und schrieb ihr erstes Buch: „Widerstand und Selbstbehauptung in Frankfurt am Main 1933-1945“, entstanden aus Gesprächen mit jüdischen Widerstandskämpfern.

Über ihrem Sofa hängt ein Bild eines Freundes, das sie besonders liebt: Monochrom, „ein lichtdurchflutetes, helles Grün“. Heute ist Frankfurt ihre Heimat. Heute beschreibt Susanna Keval sich mit dem Satz: „Ich bin eine Grenzgängerin.“ Das gilt mehrfach. Etwa, wenn die Kulturwissenschaftlerin Gruppen bis zu 40 Personen zur Psychoanalyse um sich versammelt: „Es kommen Gefühle hoch, Trauer, Wut, Verzweiflung – ich muss das aushalten, und ich kann das auch, denn ich bin an der Grenze der Gruppe.“

1994 gründete sie mit ihren Freundinnen und Freunden die „liberale Gruppe“ in der Jüdischen Gemeinde. Ihr Ziel war „Gleichberechtigung: Auch Frauen sollten die Thorarolle halten dürfen.“ Heute ist das alles erreicht, sagt sie. „Seit drei Jahren haben wir einen eigenen Raum in der Westend-Synagoge.“

Und doch fordert sie „eine innere Diskussion“ in der Gemeinde: „Was wollen wir?“ Und sie vermisst das Engagement des Nachwuchses: „Wo sind die Jungen?“

Im Porträt: Die Grenzgängerin | Frankfurter Rundschau

Photo – Bild: FR / Christoph Boeckheler