Hag Habikurim in Haifa

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David Heimann (geb. 1864), 1934: Tagebuch über meine Reise nach Erez Israel…

20.5.34.

Nachmittags  4 Uhr bestieg ich die Eisenbahn, um abends rechtzeitig in Haifa einzutreffen, wo am folgenden Tage, dem 21.5., der Hag Habikurim gefeiert werden soll. Ein Dragoman des Palestine Lloyd holte mich im Auto vom Hotel in Tel Awiw ab und brachte mich an den Zug. Ein abessinischer Neger trug mein Gepäck. Während der interessanten Eisenbahnfahrt passierten wir die Orangen-Ebene Scharon. In den Pardess-Feldern erscheinen Oliven-Haine umgeben von hohen Kaktushecken. An den Wegerändern vereinzelte weisse gebleichte Pferdeskelette. Arabische Dörfer, vor den Hütten Weiber und Kinder. Auf einzelnen Wegen arabische Frauen , auf dem Kopfe, wie in biblischer Zeit, grosse Wassertrüge aus Ton tragend. In Lydd umsteigen. Wichtiger Kreuzpunkt der Eisenbahnlinie für englisch-strategische Gesichtspunkte. Eine Strecke geht nach Jerusalem, eine nach Jaffa, die dritte nach Haifa-Syrien, die vierte nach El Kantara über Gazah an den Suezkanal.

Wir halten in Ras el Ain, in Tulkarem, Chedera, Benjamina , Atlith und Station Karmel-Vorstadt, wo ich von einem Dragoman erwartet und in mein Hotel Migdal im Auto gebracht werde. In Atlith geht die Bahn nur in einer kurzen Entfernung von 4o-5o Metern parallel mit der Mittelmeerküste. Ein gestrandeter Dampfer zeigt, dass dieses friedliche, ruhige Meer zuweilen auch seine Tücken hat. In Atlith sehe ich die Ruinen der alten Römerfeste Cäsarea. Diese Feste spielte auch bei den Kreuzrittern und Türken eine grosse Rolle. In Atlith befindet sich eine natürliche Saline, wo im Tagebau Salz gewonnen wird.

Haifa. lch mache noch eine kurze Abendpromenade auf dem Hadar-Hakarmel. Ueberall wird gebaut. Grossartige Häuser. Viele neue Strassen und Wege. Man findet sich nur schwer zurecht. Ueberall starkes Leben in den Strassen. Freudig erregte Menschen in Erwartung des Hag Habikurim, welches Erstlingsfest morgen, am 21.5., für das ganze Land allein in Haifa gefeiert wird. Die Hotels und Pensionen sind überfüllt. Das riesige Technikum ist illuminiert. Auf dem freien Platz davor Menschenmassen, aber nur Juden. Alles Juden, Juden in freier, froher Haltung. Auf einem anderen Platze tanzen junge Männer in blau-weissen Anzügen eine Horra. Menschenmassen, Kopf an Kopf. Von den Hotels wehen blau-weisse Nationalfahnen mit dem Magen David. Ich freue mich, den morgigen Hag Habikurim in Erez Israel verleben zu dürfen.

21.5.34.

Hag Habikurim, das Fest der Erstlingsfrüchte. In den Strassen schon in früher Stunde von allen Seiten Menschen aus Stadt und Land. Die Strassen werden immer voller. Aus sämtlichen Spielschulen ziehen die Kinder, Knaben und Mädchen, weiss gekleidet, auf den Köpfen weisse Seidentücher, die mit Kränzchen befestigt sind, auf den grossen Platz vor dem Realgymnasium. Es sind Kinder unter 6 Jahren. In den Händen Erstlingsfrüchte. Bei Musik werden Reigentänze ausgeführt, zu welchen die Kinder singen, wie glücklich strahlen die Augen! Eine neue jüdische Generation in Erez Israel, eingeboren, mit dem Lande verwachsen. Unsere Kinder in der Galuth dagegen schweben in der Luft, welche Zukunft werden sie haben? Um den Vormittag auszufüllen, schlendere ich durch die Strassen, planlos, und komme zu dem Gerichtsgebäude, das ich neugierig betrete. Auf Gängen und Korridoren Parteien, Araber und Juden. Anwälte zwar in schwarzer Robe, Stehkragen und weissem Pastorenbäffchen, doch darunter Sporthemden und weisse Hosen. In den Büros sieht es nicht anders aus als bei uns.

Nachmittag. Was ich heute durch den Hag Habikurim erlebte, ist wohl einer der Höhepunkte meines Lebens. Vor Glücksgefühl und Wehmut musste ich weinen. Weshalb konnte ich diese Bilder nicht festhalten, um sie in Deutschland Juden und Nichtjuden zu vermitteln! Das Herz schwoll mir vor Stolz, ein neues jüdisches Volk zu sehen, ein Volk, das sich durch die junge Generation bis 25 Jahren bildet.

Der Festzug nahm 1 ½ Stunde in Anspruch. Ich schätze die Zahl der Teilnehmer auf etwa 50.000 Menschen. Auf einem Dache gegenüber der Haupttribüne und dem Opferaltar hatte ich mir einen recht guten Platz gesichert. Ein Musikkorps eröffnet den Zug. Von jeder Siedlung des Landes folgen geschmückte Wagen mit Erstlingen, seien es Lämmchen, seien es Früchte oder Getreide, Erzeugnisse, welche jede einzelne Siedlung hervorbringt. Die Festwagen mit jungen Männern und Mädchen besetzt, geschmückt. Auf dem Wagen der Mädchensiedlung Nahalal stehen auf jeder Seite sechs in lange blau-weisse Gewänder gekleidete Jungfrauen, Cymbeln aneinander schlagend. Ein in altjüdische Tracht gekleideter Männerzug, vermutlich die Kundschafter Josuas darstellend, mit schwarzen Judenbärten, Früchte tragend. Dazwischen Trupps von jungen jüdischen Bauern zu Pferde. Einem Festwagen voran ritt die bekannte Heroine Zippora Seid auf einem feurigen arabischen Schimmel, quer über dem Sattel ein schneeweisses Lamm und eine Getreidegarbe tragend, in grünem langem Gewande mit weisser Tunika. Diese Frau wurde besonders akklamiert als Heroine das Landes, die sich bei der Verteidigung ihrer Siedlung gegen die Araber heldenmütig auszeichnete und angeblich zwölf Araber erschossen haben soll. Es folgen weitere Musikkorps, die Kinder sämtlicher Schulen und Anstalten, junge Menschen jeden Alters klassenweise mit Lehrern und Lehrerinnen, Chaluzim, Chaluzoth aus den Siedlungen, Studenten der Technischen Hochschule.

Uns gegenüber befindet sich der hohe Opferaltar, zu welchem hohe Stufen hinaufführen. Jede Siedlung und jede Gruppe hält vor dem Altar und übergibt kostümierten Priestern die Erstlingsgabe. Sämtliche Erstlingsgaben werden oben auf dem Altar niedergelegt. Zu beiden Seiten des Opferaltars oben erscheinen etwa 60 kostümierte Sänger und Sängerinnen in altbiblischen Gewändern, tragen einige Lieder vor, wobei die Erstlingsgaben hochgehalten wurden. Eine Gruppe von 12 Jungfrauen in dunkelroten langen Gewändern tanzt eine Horra. Es folgt eine Ansprache von Uschischkin, welcher am Schluss seiner Rede als Symbol der Freiheit eine Taube fliegen lässt. Ringsum in nächster und weitester Umgebung sind sämtliche Fenster und Dächer mit Menschen dicht besetzt. Auf den Strassen stehen die Menschen Kopf an Kopf. Am Schluss der Rede wird die Hatikwa mit Begeisterung gesungen. Der Festzug löst sich auf, aber die Menschenmassen bleiben in den Strassen und feiern weiter. Man sieht auf den Strassen Gruppen von Chaluzim und Chaluzoth tanzend. Sämtliche Geschäfte sind natürlich geschlossen. An verschiedenen Stellen finden abends Bankette statt. An diesem Fest nehmen auch viele Araber mit Weib und Kind teil. Auch sieht man katholische Priester in den Strassen.

Und für mich das Fazit? Ein neues starkes jüdisches Geschlecht wächst heran und wird das Land weiter ausbauen. Gerade diese jungen Menschen sehe ich erfüllt von diesem Geiste. Wäre ich doch im Stande und stark genug,  alles das, was ich hier erlebe, meinen Brüdern und Schwestern in Deutschland einzuhauchen und sie alle mit dem zu erfüllen, womit ich mich hier erfülle und erhebe!

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David Heimann, geboren am 12. März 1864 in Festenberg, Kreis Groß Wartenberg in Schlesien, war ein erfolgreicher Kaufmann für Lederwaren. Sein Geschäft eröffnete er zunächst in Pommern, wo er seine erste Frau Clara, geb. Amfeld ehelichte. Das Paar hatte drei Kinder: Theodor (geb. 1891), Thekla ( geb. 1895) und Else (geb. 1899). Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Oslo zog David Heimann 1904 mit seiner Familie nach Berlin, wo er sich in der jüdischen Gemeinde engagierte und eine Ausweitung des Synagogenbezirkes bis nach Oranienburg erwirkte. David Heimann war Vorsitzender der Synagogengemeinde sowie Kuratoriumsmitglied des Jugend-, Mädchen- und Altersheimes in Berlin-Hermsdorf. Nach dem Tod seiner Frau Clara 1924, heiratete er deren verwitwete Schwester Rosa.

David Heimann musste sein Haus Ende 1940 weit unter Wert verkaufen, nach damaliger Schreibweise “Entjudung”, und mit den noch verbliebenen Angehörigen in das s.g. Judenhaus nach Berlin-Hermsdorf umziehen. Seinen Kindern Thekla und Theodor konnte David Heimann die Ausreise nach England und die USA ermöglichen. David Heimanns eigener Versuch, nach Palästina auszuwandern, scheiterte. Das Palästina-Amt Berlin schrieb ihm: “Bei der Bearbeitung Ihres Fragebogens stellen wir fest, dass Sie bereits 75 Jahre alt sind. Da erfahrungsgemäss die Strapazen einer derartigenReise sehr gross sind, können wir es nicht verantworten, Menchen ihres Alters auf diesem Wege zur Alijah zu bringen.”

Rosa Heimann starb am 1. Januar 1942. David Heimann wurde 11. September verhaftet und drei Tage später mit dem 62. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Am 29. September 1942 wurde er weiter in Richtung Osten transportiert und galt als verschollen. David Heimann wurde vermutlich im KZ Minsk ermordet.

Im folgenden dokumentieren wir David Heimanns Tagebuch einer Reise nach Palästina im Jahr 1934.

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