Von Tiberias nach Jerusalem

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David Heimann (geb. 1864), 1934: Tagebuch über meine Reise nach Erez Israel…

12.5.34.

Schabbat in Tiberias. lch durchstreife in dem Ort seine winkligen Gassen, aus deren Gewirr man nur schwer wieder herausfindet. Von den 10.000 Bewohnern sind 8000 Juden. Es ist die einzige Stadt in Erez Israel mit gemischter Bewohnerschaft, die seit Jahren einen Juden als Bürgermeister hat. Die Geschäfte ruhen heute, nur die Araber arbeiten und sitzen in ihren Bazaren. Auf den Strassen sind Juden und Araber schwer zu unterscheiden. Es herrscht anscheinend Harmonie zwischen ihnen. Im Stadtgarten und auf der Hauptstrasse wimmelt es von Juden. Männer, Frauen und Kinder ergehen sich. Die alten Festungswerke aus der Kreuzfahrerzeit sind noch erhalten.  Drei Minuten von unserem Hotel stehen wir vor dem Grabmal des Rabbi Maimonides, Rambam, welcher von 1135 bis 1205 gelebt hat. Ich mache eine Aufnahme. Auf demselben abgeschlossenen Platz sollen der Legende nach ausser mehreren Tannaiten auch Jochanan ben Sakkai, der Retter der Thora und 2. Esra ruhen. Nach gleicher Legende sehen wir oben in den Bergen einen weissen Stein ragen, angeblich als Grab von Rabbi ben Akiba.

Wir stehen am Seeufer. Der See ist 21 km lang und 11 km breit, sehr fischreich. Am westlichen Ufer sehen wir weisse Gebäude mit den heissen Quellen. Dort war das biblische Tiberias aus der Zeit des Herodes. Hier hat auch zur Zeit des Sultan Hassan im 8. Jahrhundert der Herzog von Naxos, Rabbi Josef, versucht, mit grossen Mitteln zu siedeln, doch wurde dies von den Paschas sabotiert. Hier ist geschichtlicher Boden, denn Tiberias hat 100 Jahre vor und 100 Jahre nach der Zerstörung des Tempels eine Bedeutung gehabt.

Ein buntes Bild beobachte ich von meinem auf die grösste Verkehrsstrasse hinausgehenden Fenster. Es ist zwischen 6 und 7 Uhr abends. Um 7 Uhr ist hier Sabbatausgang. Tausende von festlich gekleideten Juden jeden Alters und Geschlechts lustwandeln noch und geniessen noch die kurze Spanne Sabattruhe. Orientalisches Getümmel. Dahinter der Stadtgarten mit Palmen und vielen schönen Blumen, in welchem arabische verschleierte Frauen auf dem Boden hocken. Nach der Hawdala und dem Abendbrot machen wir noch einen Spaziergang an das Seeufer. Araber schlafen auf der nackten Erde und liegen überall herum.

13.5.34.

Wir fahren an der Jeschiwa und dem Grabmal des Rabbi Meir Baal Naes vorbei und passieren die Siedlung Kinereth, von Treitel 1908 gegründet . Links Häuschen der jüdischen Tiberiasfischer. Immer am Seeufer entlang fahrend. Es erscheint die Kwuzah Kinereth. Wir erreichen den Jordan und gelangen über eine neue Brücke, neben der sich die alte Römerbrücke befindet. Der Weg führt uns zur ältesten und besten Kwuzah in Erez Israel, der Siedlung Dagania, 150-200 Seelen. Musterhafter Betrieb, Milch, Molkerei, Butter, Getreide, Bananen, grap fruits. Schule, Speisehaus, Kinderheim. Pferde, Kühe, Hühnerfarm. Von fern sehen wir die Siedlung Markenhof, deutsche Juden, und die Siedlung Menachemia. Sodann gelangen wir zum Ruthenberg-Kraftwerk (Centrale). Hoher Respekt vor dieser bewundernswerten Leistung. Aus dem Bett des Jarkusch-Flusses, der in den Jordan mündet, und aus dem Jordan wird das  Wasser in einen Stausee – 2 Millionen cbm enthaltend – geleitet. Von da in das Kraftwerk auf 3 Turbinen. Jede Turbine verbraucht pro Sekunde 30 cbm Wasser, gibt 66.000 Kilowatt. Zur Zeit genügt eine Turbine zur Hergabe von Kraft und Licht für das ganze Land. Das Wasser fällt aus 28 m Höhe auf die Turbinen. Das Kinereth-Reservoir hat ausserdem noch 1 ¾ Milliarden Kubikmeter Wasser als Reserve. Das Kraftwerk führt den Namen Tel Or und ist Eisenbahnstation. In Tel Or sind Häuser für Beamte und Arbeiter, im ganzen 25 Familien, sowie das Palais von Ruthenberg. In Haifa wird eine neue Kraftstation neben der bisherigen errichtet.

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Bilder aus Degania in David Heimanns Reisetagebuch

Für die Bewässerung des Landes in Gebieten, wo Wassermangel herrscht, hat Ruthenberg Projekte ausgearbeitet, wonach successive auf Grund seines Monopols Stauseen angelegt und die Gewässer der Gebirgsflüsse hierzu abgeleitet werden sollen.

Wir halten kurz an der Kwuzah Gescher, an einer Jordanbrücke gelegen. Sodann kehren wir um und besichtigen die heissen Quellen von Tiberias, welche mit 66° Celsius aus der Erde kommen. Die Badeeinrichtung ist noch ziemlich primitiv, doch werden grosse Bauten und Hotels geplant, sodass eine grosse Zukunft bei der Heilkraft des Wassers erwartet werden kann. Wir verlassen Tiberias durch die moderne Vorstadt Kirjat Schemmel, ca. 8-900 Bewohner, und fahren an der Siedlung Chittim vorbei. Historische Stätte. Dort fand im Jahre 1187 eine grosse Schlacht zwischen Kreuzfahrern und dem Sultan Saladin statt, in welcher erstere siegten.

Wir sehen die Siedlung Mizpah und passieren den Araberort Kana, bekannt aus dem Neuen Testament – Hochzeit zu Kana. Griechisch-katholische und römisch-katholische Kirche. Granatapfel-Gärten. Durch das sehr schön gelegene und gebaute Nazareth fahren wir durch. Von den 10.000  Bewohnern sind 3000 christliche Araber. Nur einige jüdische Familien. Da Nazareth nur wenig Handel hat, wünschen die Bewohner die Ansiedlung von Juden. Tragikomisch!

In Afule Mittagspause. Wir durchfahren die arabische Stadt Yenin, das biblische Ain Gamin, 500 Seelen. Hier endigt die Emek-Ebene.

Nun befinden wir uns in der Ebene Dotan, wo nach der Bibel Josef von seinen Brüdern gefesselt und nach Aegypten verkauft wurde. Dann erreichen wir den Teil Samarias, in welchem sich zur Zeit des Königreichs Israel die Hauptstadt Schomrom befand. Dies wird durch Ausgrabungen aus der Zeit des Königs Omri bestätigt.

Die judenfeindliche Araberstadt Nablus, das alte Sichem, zur Zeit Hochburg des nationalistischen Arabertums, zugleich Wohnsitz der restlichen, aussterbenden 150 Samaritaner, welche noch nach altem Brauch zu Pessach opfern, sich aber von uns Juden geschieden haben, durchfahren wir. Hoch oben der Opferberg Garizim. Nablus hat fruchtbaren Boden, liegt sehr schön. Feigen, Oliven, Granatäpfel. 18.000 Seelen. Keine Juden. Biblisch ist Nablus-Sichem der Ort, wo Jakob mit dem Engel rang. Jakob erwarb hier Weideland. Dinas Drama und Sichems Zerstörung durch deren Bruder. Die Folge ist Scheidung der Samaritaner von den Juden und ewige Feindschaft, besonders infolge der strengen Verordnung von Esra und Nehemia gegen Vermischung.

Nun erreichen wir den Berg Ebal. Unten erblicken wir einen von Mauern umgebenen Kapellenbau. Darin ruhen die Gebeine von Josef, welche man bei dem Auszug aus Mizrajim mitführte und welche durch Josua nach Eroberung des Heiligen Landes hier bestattet wurden.

Eine Panne hält uns noch in den Bergen auf. Unsere französischen Glaubensgenossen aus Algier, mit denen wir in Tiberias zusammen waren, helfen uns. Wir passieren das alte Silo, jetzt Araberort, und wir denken an den Hohepriester Eli und Hannas Gebet, ferner die Araberstadt Ramallah. Links das alte Rama.

Endlich tauchen vor uns die ersten Häuser von Jeruscholajim auf. Alle sind wir stumm vor Erregung. Von einer hohen Strassenkurve erscheint dann vor uns die Heilige Stadt Ir Hakaudesch. Ich spreche innerlich ergriffen das Schehechejonu. Nie hätte ich geglaubt, dies erleben zu können. Wir alle sind gehoben und glücklich.

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David Heimann, geboren am 12. März 1864 in Festenberg, Kreis Groß Wartenberg in Schlesien, war ein erfolgreicher Kaufmann für Lederwaren. Sein Geschäft eröffnete er zunächst in Pommern, wo er seine erste Frau Clara, geb. Amfeld ehelichte. Das Paar hatte drei Kinder: Theodor (geb. 1891), Thekla ( geb. 1895) und Else (geb. 1899). Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Oslo zog David Heimann 1904 mit seiner Familie nach Berlin, wo er sich in der jüdischen Gemeinde engagierte und eine Ausweitung des Synagogenbezirkes bis nach Oranienburg erwirkte. David Heimann war Vorsitzender der Synagogengemeinde sowie Kuratoriumsmitglied des Jugend-, Mädchen- und Altersheimes in Berlin-Hermsdorf. Nach dem Tod seiner Frau Clara 1924, heiratete er deren verwitwete Schwester Rosa.

David Heimann musste sein Haus Ende 1940 weit unter Wert verkaufen, nach damaliger Schreibweise “Entjudung”, und mit den noch verbliebenen Angehörigen in das s.g. Judenhaus nach Berlin-Hermsdorf umziehen. Seinen Kindern Thekla und Theodor konnte David Heimann die Ausreise nach England und die USA ermöglichen. David Heimanns eigener Versuch, nach Palästina auszuwandern, scheiterte. Das Palästina-Amt Berlin schrieb ihm: “Bei der Bearbeitung Ihres Fragebogens stellen wir fest, dass Sie bereits 75 Jahre alt sind. Da erfahrungsgemäss die Strapazen einer derartigenReise sehr gross sind, können wir es nicht verantworten, Menchen ihres Alters auf diesem Wege zur Alijah zu bringen.”

Rosa Heimann starb am 1. Januar 1942. David Heimann wurde 11. September verhaftet und drei Tage später mit dem 62. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Am 29. September 1942 wurde er weiter in Richtung Osten transportiert und galt als verschollen. David Heimann wurde vermutlich im KZ Minsk ermordet.

Im folgenden dokumentieren wir David Heimanns Tagebuch einer Reise nach Palästina im Jahr 1934.

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