Psychologie: Israels gespaltene Seele

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Israel fällt auseinander, klagte Avishai Braverman (Mitglied der Knesset) bei der Konferenz zur Lage der Nation des Institutes für Studien zur nationalen Sicherheit. Unser Bildungssystem – einmal der Stolz Israels – ist ein Sauladen; öffentliche Korruption nimmt überhand; unsere Universitäten hungern sich zu Tode; und die Kluft zwischen Armen und Reichen ist schon fast so schlimm wie in Brasilien…

Carlo Strenger
Zur Psychologie des Nahostkonflikts

Bravermans Klagen reflektieren ein allgemeines Unbehagen, das Israels allgemeine Stimmung durchzieht. Es ist das 1. Mal in Israels Geschichte, dass Skepsis über seine Lebensfähigkeit hoch kommt, dass man sich Sorgen um seine allgemeinen Normen macht und sich fragt, ob es noch weitere 50 Jahren bestehen wird. Damit beschäftigt sich die Gesellschaft und die Medien. Dies ist verwirrend: denn Israel war in der Vergangenheit in größerer äußerer Gefahr und seine wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen sind so weit entwickelt wie noch nie.

Warum wird Israel dann nicht mit seinen sozialen Problemen fertig? Warum bringen die Korruptionsskandale, die Misere des Bildungssystems oder die Sackgasse unserer geopolitischen Lage die Leute nicht auf die Straße? Nach Sabra und Chatila wurde die israelische Öffentlichkeit plötzlich aktiv: hundert Tausende demonstrierten auf dem Platz, auf dem Yitzhak Rabin 13 Jahre später ermordet wurde. Die Kahan-Komission, die unter dem Druck des öffentlichen Protestes berufen wurde, bestimmte, dass Ariel Sharon nicht weiter als Verteidigungsminister wirken dürfe.

In der Vergangenheit war sich Israel seines moralischen Anspruches sicher. Das augenblickliche Gefühl, dass die israelische Gesellschaft ins Wanken gerät, reflektiert etwas völlig Neues: Israel ist sich seiner moralischen Grundwerte nicht mehr sicher.

Die Lähmung reflektiert ein um sich greifendes Schuldgefühl über Israels Verhalten. Einerseits bemüht sich Israel sehr, eine dezente, demokratische und kreative Gesellschaft zu sein. Andrerseits baut es in der Westbank weiter ein Zweistraßensystem, enteignet weiter Land, schneidet mit der Mauer Dörfer auseinander, verhindert, dass palästinensische Frauen rechtzeitig zur Entbindung ins nächste Krankenhaus kommen.

In dieser Hinsicht ähnelt Israels kollektive Seele einer posttraumatischen gespaltenen Persönlichkeit. Männer, die durch ein Trauma gingen, was oft mit ihrem Militärdienst zu tun hat, sind häufig in der Lage, während des Tages eine Fassade von Anständigkeit aufrecht zu erhalten, neigen aber zu scheinbar unerklärlichen Ausbrüchen von häuslicher Gewalt, wenn sie nach Hause kommen.

Israels kollektive Psyche funktioniert ähnlich: von 1948 – kurz nach dem Holocaust – bis 1967, war Israels Existenz wirklich bedroht ( nach späteren Aussagen der polit. und milit. Verantwortlichen überhaupt nicht !! AdÜ) . Das Land war nur von seinem militärischen Tapferkeit abhängig und hatte wenig getreue Verbündete. Es ist, als ob wir aus dieser Vergangenheit nie aufgewacht seien; es ist, als ob wir noch immer so handeln, als wäre Israel noch immer eine kleine isolierte jüdische Gemeinschaft, die von unmittelbarer Auslöschung bedroht und deshalb jede Tat gerechtfertigt sei, weil wir unser Leben verteidigen müssten.

Als Gesellschaft und als Land akzeptiert und respektiert Israel die moralischen Werte der universalen Menschenrechte. Tief drinnen wissen wir aber, dass das Verursachen des Leids von Millionen von Palästinensern in der Westbank auf Grund der Siedlungen tief in den besetzten Gebieten moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Und doch lassen wir es zu . Wir gehen unseren Geschäften nach und versuchen unser Gewissen zu beruhigen, indem wir sagen: „Es gibt keinen Partner“ oder „die Straßensperren sind nötig, um Terrorangriffe zu verhindern“ oder „sieh, was passierte, als wir den Gazastreifen verließen! Wir gingen und bekamen dafür die Qassam-Angriffe!“

Während der letzte Punkt eine gewisse Gültigkeit hat, zeigen die Umfragen, dass die meisten Israelis glauben, die Siedlungen tief in der Westbank verringern Israels Sicherheit statt sie zu vergrößern – und die militärischen Experten stimmen ihnen zu. Und diese Siedlungen sind der Grund für unglaublich viele Straßensperren und Landenteignungen, die das Leben der Palästinenser unmöglich machen und viele Palästinenser glauben lassen, dass Israel nicht wirklich Frieden will.

Es gibt nur einen Weg, die allgemeine Malaise zu stoppen und die Angst, Israel sei auf Treibsand gebaut, einzuschränken. Man muss das moralische Rückgrat, das durch die Spaltung der israelischen Seele beschädigt wurde, wieder gewinnen. … Wir müssen die Fähigkeit wieder gewinnen, aufrichtig und ernsthaft unser Gewissen zu prüfen und wieder verantwortlich für unsere Taten zu werden.

Ich prophezeie, die Lähmung wird aufhören, wenn Israel den politischen Willen und Mut aufbringt, den Siedlern zu sagen: „Wir verstehen zwar euren Schmerz und eure Wut – wir haben aber einen großen Fehler begangen, als wir euch in die Westbank sandten. Israels Moral und politisches Überleben hängt von eurem Heimkommen, ins eigentliche Israel, ab.

Nur wenn wir am Morgen aufwachen und wissen, dass keine weiteren unentschuldbaren Greuel zu unterdrücken sind, keine jungen Soldaten zu einem Job geschickt werden, der ihr Leben beschädigt und keine palästinensischen Frauen ihr Baby verlieren, weil sie kein Krankenhaus erreichen können, dann werden wir in der Lage sein, mit den großen Problemen innerhalb unserer Gesellschaft fertig zu werden.

Die israelische Psyche muss von der unerträglichen Schuld befreit werden, wenn wir unsere Stabilität wieder gewinnen wollen und den Glauben an unser Recht, hier zu sein . Nur dann wird die Kreativität und das Unternehmertum, dass wir in Israels Geschäften, F+E und blühender Kunstszene sehen, frei sein, eine Gesellschaft zu schaffen, wie wir sie uns alle wünschen.

Carlo STRENGER ist Professor der Psychologie an der Tel Aviver Universität und Mitglied im „Permanent Monitoring Panel on Terrorism of the World Federation of Scientists“. Quelle: http://www.haaretz.com/hasen/spages/998047.html, 2. Juli 2008, übersetzt von Ellen Rohlfs.

9 Kommentare

  1. Die Kluft zwischen Arm und Reich fast so schlimm wie in Brasilien? Na, DAS nenne ich mal Realitätsferne!!! Der GINI ist in Israel nicht ANNÄHERND so schlimm wie in Brasilien – das ja nur von 5 Ländern an Ungleichheit überboten wird!
    http://de.academic.ru/pictures/dewiki/71/Gini_Koeffizient_World_Human_Development_Report_2007-2008.png
    Auch das Bildungssystem kann wohl nicht so schlecht sein, wenn noch immer 3 der 300 besten Unis der Welt in Israel sind – das ist ERHEBLICH für ein so kleines Land! Und viele große Länder sind gar nicht erst vertreten, wie z.B. die Türkei, Brasilien oder Ägypten…
    Da wurde aber arg übertrieben und dramatisiert!

  2. Menschenrechtsrat der UNO bleibt dabei: Nicht nur die Hamas, auch Israel verletzt Menschenrechte
    Israel leugnet und wirft Goldstone Selbsthass vor

    Schade! Richard Goldstone ist nicht nur als Sonderermittler der Vereinten Nationen über das Verhalten der israelischen Regierung enttäuscht, sondern auch als Jude. Goldstone, selbst Südafrikaner, sagt, er habe lange gezögert, bevor er schließlich zusagte, die Untersuchungen über mögliche Kriegsverbrechen während der Gaza-Offensive zu leiten.
    Der 70-jährige Goldstone, ein bekennender Zionist, verbirgt seinen Unmut über das Verhalten der israelischen Regierung nicht. Jerusalem habe von Anfang an jegliche Kooperation verweigert, sagte er in einem Interview. Während die Hamas ihm Ermittlungen in dem von ihr kontrollierten Küstenstreifen ermöglicht hat, verbot Israel dem Richter die Einreise.

    Die Wahrheit wird attackiert
    Besonders enttäuscht sei Goldstone, dass Israel die Inhalte seines Berichts „blind angegriffen“ habe: Je näher man der Wahrheit komme, desto heftiger würden die Attacken. Die Situation im Nahen Osten sei kompliziert genug, da müsse man nicht auch noch „die Wahrheit verschleiern“.
    Die Versuche von Seiten des jüdischen Staates, den Bericht unter Verschluss zu halten, nennt die Tageszeitung Haaretz leicht ironisch „diplomatische Anstrengungen“.

    Wenn ich jetzt sueddeutsche als Quelle nenne, kommt sicher ein Broder Fan und erklärt mir, die SZ sei doch schlimmer als der Stürmer.

  3. Herr oder Frau „einspruch“, bitte keine Koketterie! Wegen Ihres Postings wird Sie – und ich unterstelle, das wissen Sie ganz genau! – keiner vor Gericht bringen können. Das ist auch gut so. Es scheint mir eher, dass Sie Widerspruch bereits als Einschränkung Ihrer Meinungsfreiheit ansehen.
    Und Carlo Strenger will ganz sicher niemanden mit seinem Professorentitel beeindrucken, da er seinen Artikel – wie unter Wissenschaftlern allgemein üblich – schlicht  unter seinem Namen veröffentlicht hat. Lediglich in der Vorstellung des Autors unter dem Text wird erwähnt, dass er Professor für Psychologie in Tel Aviv ist.
    Wie wäre es, wenn Sie – statt auf Professoren/Intellektuelle einzudreschen - Strengers Text inhaltlich auseinandernehmen würden?

    Und Shmuel ben Yisroel: Gratuliere – Mit Ihrer Verdammung von „Sauferei, Hurerei, Eitelkeit … zur Schau gestellte(r) Homosexualität“ kommen Sie den Islamisten schon recht nahe – zu Ihren Gunsten nehme ich aber an, dass Sie davon absehen, gegen entsprechende Sünder mittels Auspeitschung oder gar Steinigung vorzugehen. 😉

    MfG, Volker

  4. @ferry

    nach der Tora zu leben und zu handeln,  sich der sauferei, hurerei, eitelkeit etc. zu verweigern, zur schau gestellte homosexualität als abstoßend zu empfinden,  das nennen sie falschheit in reinkultur?  

    Und wo steht für Sie denn geschrieben das Sie kein Auto, Telefon, Strom benutzen dürfen?  Abgesehen von einigen hohen Tagen im Jahr gilt das doch wohl nur für den 7 Tag der Schöpfung.  Wissen Sie noch wie die Tora ihn nennt?

    @sharona

    glauben Sie wirklich wir erhalten einen Frieden mit den „palästinensern“ wenn wir Judäa/Samaria hergeben?  Ist Gaza nicht genug Beweis dafür dass man keinen Frieden mit uns will.

    Sie werden doch mit mir darin konform gehen das Kinder die Zukunft eines Volkes sind!? 

    Ein „Volk“ das in Kindergärten und Schulen Hass auf Israel und alles jüdische lehrt, ein Volk das seine Kinder mit 7/8 Jahren militärisch drillt und an der Waffe ausbildet  kann nur schwer einen anspruch auf glaubwürdigkeit bezüglich seines friedenswillen einfordern.   

    Natürlich ist ein Frieden für alle Parteien mehr als  überfällig, aber glauben Sie wirklich wir erhalten diesen durch die hergabe von Land und Jerusalem 

  5. ich bitte Sie, meinen Eintrag von 10:32 sofort zu löschen.
    Es könnte sich irgendwer irgendwie angegriffen fühlen. Da es in Dtld. kein Recht auf freie Meinungsäußerung gibt, will ich dieses Risiko nicht eingehen.

  6. Vermischung pur. Wieder so ein falscher Prophet.
    Nur um interessant zu wirken, werden schlimmste Phrasen gedroschen.
    Dazu noch ein Prof-Titel, der den unkritischen Normalbürger beeindrucken soll.  Die Jünger dieser „Fachleute“ werden in Konsequenz daraus dann Israel  als ganzes in Frage stellen.
    Wer solche Intelektuellen schalten und walten lässt hat dann auch keine äußeren Feinde mehr, sondern schwebt schon in einem ideologischen Nirwana-Frieden.
    Das hat Israel mit Deutschland gemeinsam. Es wird ein kollektiver Selbsthass gepredigt, der nicht aus einer Demut gegenüber dem Wort Gottes entspringt, was hier glaubhaft gemacht werden soll, sondern diabolisch-humanistischer Hybris. Wenn Judäa und Jerusalem nicht israelisch sein soll, was denn dann?
     
     
     

  7. Dem Kommentar von Prof. Strenger stimme ich voll und ganz zu. Israel muss aufwacchen und endlich feststelllen, dass die Nation nicht mehr unter „Naturschutz“ steht.

    Auf einer Seite ueber Frieden reden und gleichzeitig den Siedlungsbau erweitern, das ist doch schizopren.

    Shalom aus Israel

    Sharona

  8. und es ist noch viel schlimmer.  Es wird gesoffen, gehurt, eitelkeit feil geboten, paraden von homosexuellen werden abgehalten etc. pp

    ist das noch torakonform? wo ist die moral bezüglich der gesetze der tora? wo ist der unterschied zu dem zustand der letzendlich zur zerstörung des landes ’76 chr. zeitrechnung durch die römer statt gefunden hat? war es nicht phrophezeiung das wir ausarten werden und uns von den gesetzen der tora abwenden werden? war es nicht prophezeiung das wir auf grund dessen unter alle völker zerstreut werden? geknechten, gemordet, niederiger als vieh geachtet werden? beten wir nicht, gerade in den vergangenen tagen um verzeihung dafür das unser volk gefehlt hat in seiner abwendung von den gesetzten der tora?  warum verhalten wir uns wieder so?

    und:

    stehet nicht geschrieben das der maschiach die Kinder Israels aus der hand eines stärkeren befreien wird und unserem volk somit den ewigen frieden unter seiner regentschaft bringen wird? warum sind viele der meinung, das wir unseren ewigen frieden von den völkern erhalten werden.?

    wenn wir diese prophetie schon nicht aufhalten können, so sollten wir uns wenigstens unsere gesetze, unserer tora besinnen und uns gesetzeskonform und toragetreu, eben moralisch verhalten.

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