Die Paradoxien des modernen Antisemitismus

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Von der Kontinuität eines Ressentiments in der Diskontinuität der Ereignisse. Theoretische Skizzen anhand antisemitischer Emails an das jüdische Internetportal haGalil.com, Teil I…

Von Niklas Barth

Des Dämonen neue Kleider – oder: eine alte Kontroverse und neue Fragen

„So denkt es in mir“, beschließt Hans von Gluck in R.W. Fassbinders berüchtigtem Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ seine Phantasien. ((Vgl. Rainer Werner Fassbinder: Der Müll, die Stadt und der Tod / Nur eine Scheibe Brot. Zwei Stücke. Frankfurt a.M. 1998)) Die theoretische Auseinandersetzung, die sich daran anschließen könnte, fragt nach den Manifestationsmodi des handfesten antisemitischen Ressentiment von Glucks: Was ist dieses „es“? Spricht hier etwa das freudsche „Es“ ((Vgl. Freud, S.: Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften. Fischer TB. Frankfurt.1992.))? Die foucaultsche Diskursformation? ((Vgl: Foucault, M.: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main. Fischer Taschenbuch Verlag. 1987.)) Oder ist es gar Ausdruck des „symbolischen Unbewussten“ nach Lacan ((Vgl. Lacan, J.: Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse . Quadriga Verlag. Berlin. 1984.))?

Natürlich drehte sich die damalige Kontroverse um eine ganz andere Frage: nämlich die der Autorintention: sollte ein zum „es“ kollektiviertes, nazistisches Ressentiment dem Subjekt von Gluck letztendlich jegliche Urheberschaft entreißen? Mit Hannah Arendt gesprochen: „Wo alle schuldig sind, ist es niemand?“ (Arendt: 2003) Sollte also der Rekurs auf dieses „es“ der moralischen Entlastung des denkenden Subjekts von Gluck dienen? Die Möglichkeit der Rekonstruktion Fassbinders originärer Absicht wird seit Jahren von allen theoretischen Flanken torpediert: von der Diskursanalyse, der Dekonstruktion, oder einer systemtheoretischen Hermeneutik.

Vielmehr erscheint diese Rekonstruktion nicht einmal mehr notwendig. Denn es wird sich im Verlauf der Arbeit noch zeigen, dass gerade mit dieser theoretischen Brille die Möglichkeit von Kritik keineswegs aufgegeben werden muss. Das Problem der subjektiven Schuld stellte jedoch nur den Höhepunkt einer Kontroverse dar, die sich an Fassbinders Stück entzündete und sich u.a. am stereotypen Bild des „reichen Juden“ Anton Saitz, oder am offenen Antisemitismus von Glucks, der in seinen Vernichtungsphantasien nur kulminiert, festmachte. Die mediale Dramaturgie im Anschluss an das Stück ist bekannt ((Vgl.: Der Fall Fassbinder. Dokumentation des Streits um Der Müll, die Stadt und der Tod, Frankfurt/Main, 1987.)): sie spannte einen Bogen vom Vorwurf des „subventionierten Antisemitismus“ bis hin zum vergangenheitsverdrossenen „Angebot zum Dialog.“ (vgl. Broder: 2005). Wieso sollte man nun aber schon wieder dieses wahrlich überstrapazierte Stück bemühen?

Sicherlich werden auch diejenigen, die schon damals die Aufarbeitung der Vergangenheit selbstgerecht für beendet erklärt hatten, wieder ächzen und beklagen, dass der so plakativ als Nazi gezeichnete von Gluck als Vexierbild eines immer noch virulenten bundesrepublikanischen Antisemitismus dienen muss. Und doch irren sie. Denn gerade an diesem vermeintlich überzogen gezeichneten Altnazi lässt sich eine markante Zäsur innerhalb des Antisemitismus freilegen. In der Fachdiskussion firmieren diese modifizierten Versionen des Antisemitismus seit einigen Jahren unter verschiedensten Labeln. Indes scheint eines sicher: der Antisemitismus der zu Auschwitz geführt hat, ist nicht identisch mit dem Antisemitismus nach Ausschwitz (vgl. Claussen: 1987). Dennoch verbirgt sich in diesem sekundären Antisemitismus jenes mörderisches Potential des primären Antisemitismus.

Es stellt sich also das Problem, den Tendenzen des Jetzt begriffliche Schärfe zu verleihen, ohne den „eliminatorischen Antisemitismus“ (Goldhagen: 1997) vor 1945 zu relativieren. Denn nicht erst seit Jean Améry kann man wissen: „der Antisemitismus ist aktualisierbar zu jeder Stunde“ (Améry: 1977). So entgeht man der Gefahr einem „ewigen Antisemitismus“ im Sinne einer anthropologischen Konstanten das Wort zu reden. Begreift man den Antisemitismus dann aus gesellschaftlicher Genese als „negatives Prinzip als solches“ (Adorno: 2006), so ist es das Anliegen dieser Studie eben jene zentrale Transformation des „beweglichen Vorurteils“ (Adorno: 1950) – wenn auch nur schematisch – anhand der antisemitischen Zuschriften des umfassenden Emailarchivs von haGalil.com nachzuzeichnen. Natürlich wird parallel auch immer versuch den Blick sogar auf neue Konfliktlinien zu lenken.

Gewährt von Gluck eingangs seinen Liquidationssehnsüchten freien Lauf, um sich aus dem Würgegriff der Schuld zu befreien, so lässt sich darin das Urbild des volksgemeinschaftlichen Judenhasses erkennen. In dieser Hinsicht muss explizit von Judenhass gesprochen werden, um die differenztilgende Rede jedes Begriffs zu desavouieren, der nicht auf das physische Leid Bezug nimmt. So weit, so schlimm, so altbekannt. Der vermittelnde Teil, der als neues Bezugsproblem funktioniert, erschließt sich jedoch hieraus: „Denn schuld ist der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da.“ (Fassbinder: 1998). Dieser Satz bildet eine Art doppelt projektives Scharnier. Zum einen wird er gar nicht erst gedacht, ohne kundzutun, seine „Lehren aus Auschwitz“ gezogen zu haben. Das ermöglicht dem Antisemiten sein Ressentiment nicht mehr mit den Nazis teilen zu müssen. Die „Stunde Null“ wirkt vermeintlich tief in ihm: er projeziert den Zivilisationsbruch der Schoah komplett auf die Tätergeneration und versteht sich gänzlich in Tradition der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Die erste projektive Distinktion wäre somit getroffen.

Der Antisemit als Opfer seines eigenen Antisemitismus

Zum anderen bemerkt der moderne Antisemit natürlich die Differenz zwischen seinem Selbstbild und des für ihn als Stigma empfundenen diskursiven Tickets als ewigen deutschen Antisemiten. Und selbst noch im Ticketdenken gefällt sich der Antisemit als Opfer seines eigenen Antisemitismus. Diese Dissonanz evoziert eine zweite Projektion, die sich mit dem Impetus der Schuldabwehr eines chirurgischen Eingriffs in die Argumentationskette bedient: nach Auschwitz ist der moderne Antisemit genötigt als Antizionist aufzutreten. Damit wird Israel zum „ewigen Juden“ unter den Staaten.

Der Antisemitismus ist also nicht mehr nur wie eh und je von seinem Objekt, den Juden, abgekoppelt, sondern sogar von den Antisemiten selbst, da dieser ja offensichtlich nur als rationaler Kritiker einer zu kritisierenden Politik auftritt. Und doch west er in einer Art unbewusstem Bewusstsein fort. Mehr noch: die neue Ausrichtung in der „Judenfrage“ verhalf dem beständigen Ressentiment, das vor der moralischen Negativfolie Auschwitz diskursiv latent bleiben musste, zu neuer Geltung. „Der Antisemitismus im Kleide des Antizionismus wurde sogar ehrbar“ (vgl. Améry: 1975).

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