Christlicher Antijudaismus in Bayern: Rabbiner Dr. A. Eckstein über Ritualmordbeschuldigungen im Raum Bayreuth (1907)

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Kürzlich gab HaGalil einen Aufsatz von Dr. Yaron Harel von der Bar-Ilan-Universität zu christlichen Ritualmordbeschuldigungen im muslimischen Syrien wieder. Für mich ein geeigneter Anlass das gleiche Thema mit dem Schwerpunkt auf Bayern, meinem Geburtsland, ebenfalls zu bearbeiten. Ritualmordvorwürfe sind keine Erfindung des Christentums, wenn sie auch auf das Engste mit ihm verbunden bleiben; ihr Ursprung liegt im Altertum. Besonders in den katholischen Regionen Europas hielten sich diese Auswüchse christlichen Antijudaismus‘ noch bis in die vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts…

Von Robert Schlickewitz

Als Ritualmord gilt allgemein die Tötung von Menschen zum Zwecke der Nutzung von deren Blut, Körperteilen oder Körper für religiös motivierte Rituale. Vorwürfe oder Beschuldigungen Ritualmord begangen zu haben, waren quasi seit Menschengedenken in verschiedensten Gesellschaften üblich und wurden gewöhnlich jeweils von Angehörigen der Mehrheit religiösen Minderheiten gegenüber erhoben. So auch im Alten Rom, wo zunächst sowohl Christen als auch Juden zu den des Ritualmords Beschuldigten zählten. Sobald sich jedoch das Christentum zur europäischen Standardreligion aufgeschwungen hatte, veränderte sich dessen Position und fürderhin trugen Juden sowie Angehörige häretischer Sekten sein bisheriges Los.

Ab dem 12. Jh. gehören dann Ritualmordvorwürfe zum üblichen christlich-jüdischen Mit- bzw. Gegeneinander, wobei erste Fälle aus England und Frankreich überliefert sind. Die Kirche, damals noch ausschließlich die katholische, hatte rasch entdeckt, dass sich der Märtyrerkult um angebliche Ritualmordopfer leicht in eine lukrative Einnahmequelle umwandeln ließ. Nicht minder profitierten die Städte und Ortschaften, die nur zu gerne Wallfahrer beherbergten und verköstigten. Eine Voraussetzung, um sich bei dergestalten Inszenierungen dennoch eine gewisse Glaubwürdigkeit zu bewahren, war – dass tatsächlich Juden als für diese Freveltaten verantwortlich überführt werden konnten. Hierfür leistete die Folter an Juden zur Erlangung passender Geständnisse hervorragende Dienste. Dass es sich bei den meisten Opfern der vorgeblichen Ritualmorde um Kinder handelte, verstärkte noch die allgemeine Emotion oder Hysterie in der Bevölkerung.

Ritualmordbeschuldigungen gegenüber Juden erhielten bald Gesellschaft in Form anderer christlicher, antijudaistischer Vorwürfe: Brunnenvergifter, Hostienschänder, Verbündeter oder Diener des Satans, Stifter der Pest etc. Den krönenden Abschluss dieser Reihe christlicher Hirngespinste bildete die Weltverschwörungslegende, die man den Juden zum Vorwurf machte; jener Legende, die den Juden zum erklärten Feind des Christen und ihn im Verein mit dem Muslim zum künftigen Vernichter der Christenheit stempelte.

In Deutschland setzten Überlieferungen von Ritualmordbeschuldigungen erstmals ab dem 13. Jh. ein: 1235 kamen beim Brand einer Mühle in Fulda fünf christliche Kinder ums Leben. Man beschuldigte die örtlichen Juden den Brand gelegt zu haben, um das Blut der Kinder für Magie und zu Heilzwecken zu verwenden. Vierunddreißig Juden wurden daraufhin von ihren christlichen Mitbürgern gefangen genommen und ohne genaue Überprüfung der Hintergründe auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Zwar setzte Friedrich II., der Hohenstaufer, eine Kommission ein, die den Fall untersuchte, sie kam denn auch ein Jahr später zum Resultat, dass der Vorwurf ungerechtfertigt erhoben worden war, aber das erweckte die Juden nicht wieder zum Leben. Schlimmer noch, das schlechte Beispiel machte Schule und aus den verschiedensten Teilen des Reiches gingen Nachrichten über solche und ähnliche Taten ein. Schließlich reagierten sogar die Päpste – sie veröffentlichten Bullen, in denen diese Praktiken verurteilt wurden. Andererseits, und das ist das Groteske, überlebte dank kirchlicher Billigung und Förderung das Andenken an die Märtyrer der angeblichen jüdischen Untaten vielerorts noch bis in die 1960er Jahre! Erst das Zweite Vatikanische Konzil bzw. die Ritenkongregation von 1965 setzte diesem judenfeindlichen katholischen Unfug ein spätes Ende – oft gegen erbittertsten Widerstand uneinsichtiger Kleriker und Dörfler.

Ritualmordvorwürfe blieben nicht allein auf den Katholizismus beschränkt – auch protestantisch gewordene Städte waren betroffen. Jedoch trägt der Katholizismus die Hauptverantwortung. Noch im ausgehenden 19. Jh. (1892) konnte sich die Mailänder katholische Tageszeitung „L‘ Osservatore Cattolico“ erdreisten eine Liste mit 154 angeblichen jüdischen Ritualmorden an Christen zu veröffentlichen. Wie sich bald herausstellte, konnte nicht in einem der genannten Fälle jüdische Schuld nachgewiesen werden. Besonders deutsche Antisemiten der Zeit vor 1900 wie August Rohling oder Pfarrer Josef Deckert bedienten sich geradezu schamlos der alten Legenden für ihre schäbigen und schändlichen Zwecke.

Polnische Katholiken, neben ihren bayerischen und italienischen Konfessionsgenossen, die naivsten und unkritischsten überhaupt, schlugen noch 1946 in der Stadt Kielce zweiundvierzig Juden, Überlebende deutscher Konzentrationslager, mit der Rechtfertigung, sie würden einen Ritualmord sühnen, tot. Auf bayerischem Boden datiert der (möglicherweise) letzte Fall von Ritualmordvorwurf von 1929, als nach dem Mord an einem Buben im unterfränkischen Manau der mainfränkische Gauleiter Otto Hellmuth und das NS-Antijudenhetzblatt „Der Stürmer“ sich mühten die ländliche Bevölkerung gegen die Minderheit in ihrer Mitte aufzuhetzen.

Die nachfolgend wiedergegebenen „Ritualmordgeschichten“ sind dem Anhang des Buches „Geschichte der Juden im Markgrafentum Bayreuth“ von Adolf Eckstein entnommen und berichten von zwei Fällen aus der zweiten Hälfte des 18. Jh. Eckstein, der langjährige (1888-1926) Rabbiner von Bamberg trat immer wieder mit Veröffentlichungen zur Geschichte der Juden Frankens und Bayerns hervor; von ihm stammen u. a. jeweils eine Monografie zu den Bamberger Juden, zu den jüdischen Parlamentariern und zur Emanzipation der Juden in Bayern, außerdem war er Mitarbeiter jüdischer Enzyklopädien und Autor zahlreicher historischer Einzelbeiträge zu bayerischen Juden. Rabbiner Dr. Eckstein verstarb 1935 im Alter von 77 Jahren. Seine Tochter Helene Eckstein (1893-1944), Angestellte der jüdischen Gemeindekanzlei Bamberg, wurde im KZ Auschwitz ermordet.

„Ritualmordgeschichten

Kaum eine Territorial- oder Ortsgeschichte dürfte es wohl geben, die keinen Beitrag zu liefern hätte zu diesem noch immer nicht ganz unzeitgemässen Thema. Auch die nachfolgenden zwei Beiträge, welche auf Originalität keinen Anspruch machen können, zeigen und beweisen, wie – nach einem Ausdruck Mendelssohns – die Vorurteile der Menschen, zumal die anererbten, wenn man ihnen die Wurzel abgeschnitten, ihre Nahrung aus der Luft greifen.

1. Am Abend des 25. Oktober 1758 wurde in Mkt. (Markt) Erlbach ein 2 ½ Jahre altes Knäblein vermisst. Als die Mutter dasselbe nicht finden konnte, sprach man den Verdacht aus, das Kind könnte im benachbarten Hause eines Juden rituell hingerichtet worden sein, um dessen Blut zur Heilung seiner seit geraumer Zeit auf dem Krankenbette liegenden Frau zu verwenden. Die ganze Dorfgemeinde versammelte sich vor dem verdächtigen Hause und belagerte dasselbe mit lauten Drohworten und Fluchreden die ganze Nacht wie eine Festung. Der Leutnant der Bürgerwehr des Ortes wollte sogar mit Waffengewalt das Kind aus dem Judenhause herausholen. Trotzdem eine Durchsuchung des Hauses ebenso resultatlos verlaufen war wie eine Durchsuchung der Synagoge, hörte man um 11 Uhr nachts eine jammernde Kinderstimme aus dem Judenhause bis auf die Strasse hinausdringen und gegen 1 Uhr nachts wiederholte sich nicht nur dieses Jammergeschrei, sondern man wollte auch das Geräusch von zusammenschlagenden Händen gehört haben und die draussen versammelte Menge meinte, jetzt sei die grausige Moritat geschehen. Beim Grauen des nächsten Morgens erschien die Grossmutter des ermordeten Kindes vor dem Hause, rief mit lauter Stimme den Namen ihres armen Lieblings und schrie: ‚Du liebes Engelein, wenn Du noch lebst, so antworte!‘ Und das Kind antwortete – aber nicht aus dem Judenhause, sondern aus dem Dachbodenraum eines nahen Anverwandten, wo es die Nacht im friedlichen Schlafe zugebracht hatte. Nun wandten sich die sämtlichen Judenvorsteher des Ländchens mit einer Beschwerdeschrift vom 10. November 1758 an ihren Landesfürsten, in welcher es heisst: es erhellt aus diesem Vorgang, ‚dass die abergläubische und in ältern Zeiten so vieles Unheil causirt (verursacht) habende Meynung, die Juden hätten Christenblut nötig, nicht nur bey dem gemeinen Mann, sondern auch bey manchem, der sich besser und verständiger zu seyn dünket, noch keineswegs so eradiciret (beseitigt) seye, dass sie nicht auch heutigen Tages motus (Aufruhr) und Unruhen erregen könnte.‘ Da die Juden doch unmöglich für sämtliche unbeaufsichtigt bleibenden Bauernkinder verantwortlich gemacht werden können, so mögen Vorkehrungen getroffen werden, dass für die Zukunft solcher Wahnsinn nicht mehr aufkommen könne. Der mit der Untersuchung der Angelegenheit beauftragte Justizrat Pöhlmann hielt es nach seiner Überzeugung für nötig, den Untertanen solchen Wahn quovis modo zu verbieten und sie zu einem gesünderen Begriffe zu erziehen, und beantragte darum bei seinem Auftraggeber: ‚Der gesamten in dem landesherrlichen Schu(t)ze stehenden Judenschaft wieder diesen irrigen Wahn der christlichen Untertanen und die daraus künftig erwachsen könnenden grössern Insultus (Beleidigungen) und Beschädigungen Securität zu verschaffen.‘ Dass diese lobenswerte Absicht von keinem Erfolg gekrönt war, beweist die folgende Affaire:

2. In der Nacht vom 8./9. März, also um die Osterzeit, 1785 übernachtete ein simpler und lüderlicher (leichtfertiger) Bauernjüngling namens Peter Weisel, im Alter von 22 Jahren, in einem Wirtshaus zu Wannbach. Am nächsten Morgen war derselbe unter Hinterlassung seines Korbes spurlos verschwunden. Wo mag der Mann hingekommen sein? Da man ihn zuletzt in das Haus eines Juden hatte hineingehen sehen, erklärten die Bauern, er müsse das Opfer eines Ritualmordes geworden sein. Wie ein herumgewälzter Schneeball wuchs das Gerücht von dem Geschehenen, und das Volk wurde so erbittert, dass sich kein Jude auf der Strasse blicken lassen konnte, ohne Verfolgungen und Misshandlungen ausgesetzt zu sein. Glücklicherweise gelang es alsbald nach eingeleiteter Untersuchung der Judenschaft von Wannbach, die geheimen Wege des Peter Weisel ausfindig zu machen, und der Vater des Verschwundenen selbst überbrachte dem Amtmann von Pretzfeld eine vom 23. März dati(e)rte Bestätigung des zur Anwerbung von Soldaten in Nürnberg anwesenden Majors v. Wülffen, dass Peter Weisel in preussische Kriegsdienste eingetreten war. Der Bevölkerung von Wannbach wurde dies in Gegenwart einer jüdischen Deputation kundgegeben und jede Kränkung eines Juden bei Strafe verboten. Der Amtmann von Streitberg hielt es sogar für nötig, eine aufklärende Kundgebung ‚zu Erstickung des auf Aberglauben hinaus lauffenden Bruits (Volkszorns)‘ am 2. Osterfeiertage von sämtlichen Pfarrkanzeln seines Amtes den andächtigen Gemeinden zur Verlesung bringen zu lassen.

Man hätte nun erwarten sollen, dass die Wogen rasch sich glätten und beruhigen würden. Aber weit gefehlt. Das Volk erklärte vielmehr, das zur Kenntnis gebrachte Zeugnis des Majors v. Wülffen sei ein ‚falsches oder erdichtetes Scriptum‘, die Beamten sowohl als auch der Vater des verschwundenen jungen Mannes seien mit dem Golde eines jüdischen Syndikats bestochen und gekauft worden. Den Mann, der den Aufenthalt des Peter Weisel ausfindig gemacht, nannte man einen Seelenverkäufer, er wurde von seinen Freunden in Verruf erklärt und man sagte ihm, er gehöre nicht mehr zur Christengemeinde, und es würde, falls er sich nicht rehabiliti(e)rte, niemand seiner Leiche folgen. Am Osterdienstag war Jahrmarkt in Muggendorf und das Volk feierte dieses Doppelfest damit, dass es – nichtachtend der Autorität des im Orte anwesenden Amtmannes – einen ‚biss zur Rebellion gestiegenen Aufstand und Tumult‘ erregte. Mit Schneeballen, mit welchen man die aus Wannbach zum Markte gekommenen Juden bombardi(e)rte, hatte der Scherz angefangen, schliesslich verwandelte sich aber der Scherz in blutigen Ernst, indem der jüngere Janhagel über die Juden herfiel, sie mit Füssen trat und ihnen zweifellos den Garaus gemacht hätte, wenn nicht der Amtmann mit Ausschussmannschaften herbeigeeilt wäre, um die Opfer der entfesselten Volkswut in Sicherheit zu bringen.

Der von höchster Sorge über diese Vorgänge erfüllte Bericht des Amtsmannes wird vom Markgrafen mit folgendem Befehl beantwortet:
‚Wir befehlen euch auf euern sub praes. hod. in Betreff der am dritten Oster-Feyertag dieses zu Muggendorf an einigen Juden verübt wordenen Thätlichkeiten und der noch fortdauernden Gährung unter den dortigen Unterthanen gnädigst, ihr sollet sofort allen unsern dortigen Unterthanen bekannt machen, dass sie sich bey Vermeidung alsbaldiger Zuchthauss-Strafe aller Feindseligkeiten gegen die Juden enthalten sollen. Gestalten ihr den ersten, der sich auf einer Uebertrettung dieses Unsers ernstlichen gnädigsten Gebots betreffen lassen wird, sofort zur Captur (Gefangennahme) zubringen habt, um ihr sodann auf weiters schleunigst zuerstattenden unterthänigsten Bericht in das Zuchthauss abliefern zu lassen. Datum Bayreuth, den 1. April 1785.‘
An das Amt Streitberg.

Unter dem selben Datum, am Tage des Passahfestes, wandte sich auch der Gemeindevorstand von Bayreuth namens der gesamten Landjudenschaft mit einer Bittschrift an den Markgrafen, in welcher mit Rücksicht auf die Unsicherheit, die in der ganzen Gegend bis hinunter nach Bruck herrschte, gebeten wird: ‚auf Kosten der Landjudenschaft 4 Mann Husaren nacher Streitberg ob summum vitae periculum (weg. höchster Lebensgefahr) schleunigst abgehen, solche bis zur gänzlich hergestellter öffentlichen Sicherheit daselbst zu lassen und sonstige Vorkehrzungen clementest zu verfügen.‘
Da auch im bamberger Gebiet Insulten vorkamen, wandte sich auch die Judenschaft von Bamberg an ihren Landesherrn mit einer flehentlichen Vorstellung vom 31. März 1785, welche mit den Worten einleitet: ‚Der dumpfe Aberglaube, als wären wir Juden dürstig nach Christenblut, schwinget seine Fa(h)ne noch in so manchen Ecken unserer noch unaufgeklärt denkenden Mitmenschen.‘ Nach Schilderung des Tatbestands wird gebeten, der Fürstbischof möge ein Husarenkommando in die Gegend von Wannbach und Ebermannstadt abordnen, dem Vogt von Ebermannstadt den gemessenen Befehl geben, dass derselbe für Ruhe und Ordnung Sorge trage, die Rädelsführer der Meuterei einziehe und den beleidigten Glaubensgenossen Satisfaktion und Entschädigung verschaffe.

Glücklicherweise waren die Befürchtungen der Juden übertrieben. Infolge energischer Massnahmen der beiden Regierungen von Bamberg und Bayreuth war bis Mitte April die Ruhe überall hergestellt.

Unterdessen war der rituell geschächtete Peter Weisel weit in die Welt hinaus – mit den preussischen Truppen bis nach Holland – gekommen. Aber nach ¾ jährigem Dienste bekam er das Heimweh und deserti(e)rte. Ebenso plötzlich, wie er verschwunden war, langte er nach einjähriger Abwesenheit wieder in seiner geliebten Heimat an. Die grösste Freude über seine Rückkehr empfanden die Juden. Die Barnossen der Landjudenschaft beeilten sich seine Vorladung zum Amte zu beantragen. Er sagte aus, er habe bei seiner Rückkehr schon 5 Stunden entfernt von dem Schauplatz ‚mit Erstaunen erfahren müssen, als wann er von denen Juden zu Wannbach umgebracht und geschächt worden seyn sollte.‘

Die Akten über diese Vorkommnisse wurden vom damaligen Vorsteher der Gemeinde Bayreuth, Löb Seckel, gesammelt. Dem beigelegten Index fügte derselbe mit hebräischer Schrift die rührende Bemerkung bei: ‚Wann in unsern Tagen noch solche Thorheiten, solcher abscheulicher Aberglauben unter dem Pöbel leider existi(e)ren können, wo Jeden mibne ammenu (von den Kindern unseres Volkes) das Herz blutet, solche elende verworfene Beschuldigung nur lesen zu müssen, so ists gewiss notwendig, solche Aktenstücke aufzubewahren.‘ “

Setzt man den christlich motivierten Antijudaismus, dessen eine Spielart die hier geschilderten Ritualmordvorwürfe sind, in Beziehung dazu, dass in Bayern der Nationalsozialismus entstanden ist und Bayern auch heute noch als die deutsche Region mit dem höchsten Anteil an Judenhassern in ganz Deutschland dasteht, so kommt man nicht umhin, ein vernichtendes Urteil über diesen süddeutschen Volksstamm zu fällen. Denn, was letztendlich haben wir Bayern aus unserer so erbärmlichen Geschichte gelernt? – Offensichtlich in menschlicher Hinsicht nicht allzu viel.

Und gerade deshalb hätte ein bayerischer Papst, wenn er denn tatsächlich über Anstand, Menschlichkeit und Weisheit verfügte, die verdammte Pflicht gehabt, den Judenhass in seinem ureigensten Herkunftsland immer wieder anzuprangern, zu verurteilen und mit empfindlichen Kirchenstrafen zu belegen. Tut er dies nicht, so haben alle seine salbungsvollen Worte anlässlich der Besuche in Auschwitz, in Yad Vashem und in seiner deutschen Heimat nur den Charakter der Oberflächlichkeit bzw. der Unehrlichkeit.

Wie kann er nur zu so einer Vergangenheit und Gegenwart wie der unseren schweigen, als Papst, als Deutscher, als Bayer, als Mensch? – Ein Kirchenoberhaupt, das unhaltbaren und unfassbaren Zuständen wortlos, ja, hilflos, gegenübersteht? – Noch ein Papst, der schwieg, weil die ‚Umstände der Zeit‘ ihn dazu zwangen?

Anmerkung:
Der Text von Rabbiner Dr. Eckstein wurde in der Originalschreibweise übernommen, Worterklärungen in Klammern hinzugefügt, auf die Wiedergabe einer Fußnote verzichtet, Orthographiefehler stillschweigend korrigiert und Hervorhebungen des Autors (Eckstein) kursiv wiedergegeben.

Literatur, auch weiterführende:
A. Eckstein, Geschichte der Juden im Markgrafentum Bayreuth, Bayreuth 1907, S. 105-110
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichworte: „Ritualmordvorwurf“, „Weltverschwörungslegende“
K. Schubert, Jüdische Geschichte, München 2007, 6. Aufl., S. 28, 48, 52-55, 110, 115
Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, VI. Jahrgang 1936, (Nachruf auf Adolf Eckstein, S. 2f)
http://www.willy-aron-gesellschaft.de/kat10.php?c=b20080528085115
http://www.leobaeck.oxfordjournals.org/cgi/reprint/15/1/223.pdf

Bildquelle: Der Stürmer, Mai 1934.

3 Kommentare

  1. Dass der Verdacht des Ritualmords nicht auf´s Mittelalter und den tiefen bayerischen Wald beschränkt ist, beschreibt der wunderbare und erschütternde Roman: „Es geschah im Nachbarhaus“ von W. Fährmann. Er bezieht sich auf einen Fall zu Beginn des 20. Jhdts. am Niederrhein. Leider hat dieses Buch seinen Weg noch nicht in den Kanon der Schullektüren gefunden.
    Trotzdem habe ich ihn vor Jahren mit einer 7. Klasse (statt des obligaten „Damals war es Friedrich“) durchgenommen und die Kinder waren im wahrsten Sinne des Wortes „von den Socken“.  Dass Antisemitismus nicht auf das 3. Reich beschränkt war (und ist), wurde ihnen damit zum ersten Mal klar.

  2. leider finden auch heute noch „Wallfahrten“ katholischer AntisemitInnen zu Orten angeblicher Ritualmorde statt, so alljährlich im Juli im österreichischen Rinn/Tirol, auch wenn die offizielle Kirche seit 1988/1994 diese Veranstaltung verboten hat gab es in der Hierarchie mit Kurt Krenn durchaus auch noch vor kurzem Menschen, welche diese Veranstaltung tolerierten

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