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Das "Unvorstellbare": Die Verfolgung der niederländischen Juden 1940-1945
Das tragische Schicksal der Anne Frank hat Millionen von Menschen auf der ganzen Welt berührt. Dennoch darf bezweifelt werden, dass den Lesern durch die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank die spezifisch niederländischen Umstände der Tragödie des Holocaust bewusst werden...
Von Rémy Limpach
Dabei lohnt sich vor allem wegen der höchsten jüdischen Deportationsquote in Westeuropa eine nähere Betrachtung dieser niederländischen Ausprägung der Judenvernichtung durchaus. Mehr als 110.000 der insgesamt 140.000 holländischen Juden wurden von der deutschen Besatzungsmacht deportiert, aus den Lagern in Osteuropa zurückgekehrt sind lediglich 6.000 Verschleppte. Von den 140.000 niederländischen Juden starben beinahe drei Viertel in den Konzentrationslagern in Deutschland und Osteuropa, womit die Niederlande die mit Abstand höchste Deportationsquote in ganz Westeuropa aufweist. Im Vergleich dazu lag die Verschleppungsquote in Belgien und Norwegen bei 40%, in Frankreich bei 25%, in Italien bei 20% und in Dänemark bei 2%.
Ohne Kriegserklärung überfielen deutsche Truppen im Mai 1940 die Niederlande. Dieser Angriff, die Bombardierung Rotterdams, die schwere Besatzungszeit sowie insbesondere die Vernichtung der Amsterdamer Juden sind Erfahrungen, die bis heute im Bewusstsein der Niederländer nachwirken. Ebenso spielt der Widerstand vieler Gruppen und Einzelpersonen gegen die deutsche Besatzung sowie der Hungerwinter 1944/45 nach wie vor eine wichtige Rolle im Bewusstsein der niederländischen Bevölkerung.
Die Verfolgung der Juden begann 1940 nach deutschem Vorbild mit der Entlassung der Juden aus dem öffentlichen Dienst, führte über die Registrierung sämtlicher Juden 1941 zur gesellschaftlichen Ächtung und zum Verbot, öffentliche Einrichtungen zu betreten. Im Sommer 1942 schliesslich begannen die Deportationen, bereits 1943 galten die Niederlande praktisch als "judenrein". Über das "polizeiliche Durchgangslager" Westerbork nahe der deutschen Grenze rollten die Züge in die Vernichtungslager. In den Niederlanden selbst starben vergleichsweise wenig Juden, ihre Ermordung fand in Deutschland und Osteuropa statt.
Die prozentual erschreckend hohe Zahl der deportierten Juden in den Niederlanden (rund 73 Prozent) erreicht osteuropäische Ausmasse und erzeugt bis heute heftige Diskussionen. Für die meisten Interessierten war und ist es "unvorstellbar", wie die Niederlande, ein für liberale und tolerante Traditionen bekanntes Land, eine derart hohe Deportationsquote erreichen konnten. Die vorliegende Studie geht deshalb auf rund 130 Seiten der zentralen Frage nach, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Ferner analysiert sie die besonderen Bedingungen, welche in den Niederlanden eine derart weit gehende Deportation der holländischen Juden erlaubten.
Die Hauptakteure beim "Unvorstellbaren" sind Deutsche, Juden und Niederländer. Zur Untersuchung der zentralen Fragestellung wird nach Vorbild von Raul Hilberg eine Gliederung der Akteure in Täter, Opfer und Zuschauer vorgenommen. Anhand dieser Struktur wird die Rolle der Täter (deutsche Besatzungsorgane, Beamte, Polizisten und niederländische Nationalsozialisten), der Opfer (Juden und Jüdischer Rat) und der Zuschauer (niederländische Bevölkerung und Institutionen) bei der Judendeportation untersucht. Um die besonderen niederländischen Umstände der Judenverfolgung noch klarer zu Tage treten zu lassen, beinhaltet die Lizentiatsarbeit zudem einen internationalen Vergleich.
Es befanden sich selbst unter den Juden – neben den unzähligen Opfern – vereinzelte Täter, sei es in Form von wenigen Spitzeln oder sei es in Gestalt der beiden Präsidenten des umstrittenen und sich ambivalent verhaltenden Jüdischen Rats. Dieser Jüdische Rat wurde von den Besatzungsbehörden gezielt instrumentalisiert und zur Kooperation bei antijüdischen Massnahmen gezwungen, seine Mitarbeit erleichterte die Verfolgung spürbar. Aus Angst vor Repressalien leistete das jüdische Führungsgremium keinen nennenswerten Widerstand oder Verzögerungsversuche gegen die mörderischen Pläne der Besatzer. Dennoch erbrachte der Jüdische Rat auch wertvolle Dienste für viele Juden – und seine Auflösung von innen oder aussen hätte die Deportationszahlen wohl nicht signifikant verringert.
Auch einige wenige deutsche Hilfeleistungen für Juden haben stattgefunden. Nicht alle Juden waren demnach Opfer und auch nicht alle Deutsche Täter, grossmehrheitlich jedoch schon. Die Einteilung der Niederländer in die Kategorie der Zuschauer ist dadurch begründet, dass die niederländische Bevölkerungsmehrheit der Judenverfolgung insgesamt weitgehend passiv gegenüberstand. Die Rolle der Niederländer, der "Zuschauer", birgt die grössten Handlungsspektren, da sie zwischen den Extrempolen Widerstand und Kollaboration teilweise sehr gegensätzliche Positionen einnahmen und diese zuweilen wechselten. Die grobe Kategorisierung in Täter, Opfer und Zuschauer ist insgesamt also nicht trennscharf, aber brauchbar und aus systematischen Gründen sinnvoll.
Eine einzelne Antwort auf die zentrale Frage nach den Gründen für die höchste Deportationsquote der Niederlande im westeuropäischen Vergleich zu geben, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Klar ist nur, dass eine Reihe spezifisch niederländischer Umstände die deutschen Besatzungsbehörden bei ihrem Ziel der Judenverschleppung derart "erfolgreich" sein liessen. Die Studie listet im Fazit insgesamt 20 für die Juden negative Faktoren auf. Dabei war kein einzelner dieser 20 Faktoren alleine entscheidend, sondern vielmehr die Summe dieser sich negativ auf die niederländischen Juden auswirkenden Zusammenhänge.
Alle 20 für die niederländischen Juden negativen Umstände standen in einer bestimmten Relation, aber ihr Zusammenwirken genau zu entschlüsseln oder zu bewerten ist unmöglich. Dennoch können die wichtigsten Faktoren benannt werden: Die Macht und die Effizienz des zivilen deutschen Besatzungsregimes und seiner Organe, die unterwürfige und kooperative Haltung der niederländischen Verwaltung, Polizei und Eisenbahn, das Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein der Juden sowie ihr falscher Sinn für Sicherheit – basierend auf weit fortgeschrittener Assimilierung und anfangs behutsamen deutschen Besatzungspolitik im Rahmen der beabsichtigten "Nazifizierung" des "verirrten germanischen Brudervolks" (Hitler). Ferner war der Grad an Widerstand gegen die deutsche Besatzung und gegen die Judenverfolgung gering, die geistigen und politischen Eliten der Niederlande gingen nicht mit Hilfe oder Unterstützung der Juden voran, die Exilregierung verhielt sich diesbezüglich still und auch die Alliierten wollten vom Schicksal der Juden nichts wissen. Die holländische Bevölkerung sah – von wenigen Ausnahmen wie dem Februarstreik 1941 und beachtliche Hilfeleistungen beim Untertauchen abgesehen – der Verfolgung mehrheitlich passiv zu. Diese Gegebenheiten bilden zusammen die wichtigsten Gründe für das ungeheure Ausmass der Katastrophe. Kurz: Ein positiver Faktor für die Juden fehlte.
Das Fehlen eines positiven Faktors für die niederländischen Juden wird auch aus internationaler Perspektive ersichtlich. Norwegen beheimatete im Vergleich zu den Niederlanden zu wenig Juden, um eine grössere Aufmerksamkeit von den Verfolgern zu rechtfertigen. In Dänemark konnten die Besatzungsbehörden systembedingt erst sehr spät gegen die Juden vorgehen, welche dann in einer kollektiven Rettungsaktion nach Schweden fliehen konnten. In Belgien und Frankreich, den Ländern also, die am ehesten mit den Niederlanden verglichen werden können, fanden sich ebenfalls mehr günstige Faktoren für die Juden: Der Widerstand war bedeutender, die Topographie geeigneter und es boten sich wesentlich mehr Fluchtmöglichkeiten. Doch vor allem gingen die vom Dritten Reich installierten Militärverwaltungen in Belgien und Frankreich bei der Umsetzung von antijüdischen Massnahmen nicht derart effizient und motiviert vor wie die in den Niederlanden herrschende deutsche Zivilverwaltung. In den belgischen und französischen Besatzungs- oder Kollaborationsregimes fehlte auch der vergleichsweise starke Einfluss von SS und NSDAP. Insgesamt genoss die Judenverfolgung in Belgien und Frankreich bei den Verfolgern systembedingt keine derart hohe Priorität wie diejenige in den Niederlanden. Zudem waren die Transportwege von den Niederlanden in die Vernichtungslager nie unterbrochen, wie dies in Belgien und Frankreich monatelang der Fall war. Ferner erreichten die belgischen und französischen Bürokratien keinen derart hohen Organisationsgrad wie die niederländische Verwaltung. Sie waren somit für das Umsetzen der antijüdischen Massnahmen aus Sicht der Täter weniger "hilfreich".
Zusammenfassung Lizentiatsarbeit, eingereicht bei Prof. Dr. Stig Förster, Universität Bern (Herbst 2007), Kontakt zum Autor: remylimpach(at)hotmail.com
Posted 03/13/08 by:
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