Der israelisch-palästinensische Konflikt ist bereits 100 Jahre alt. Recht steht gegen Recht. Der Kreislauf der Gewalt hat zu einer Eskalation der wechselseitigen Angst, des abgrundtiefen Misstrauens geführt. Die Friedenshoffnungen, die in den 1990er Jahren gerade in Israel virulent waren, sind immer wieder zerstört worden - durch den Mord an Rabin wie auch durch fürchterliche Terrormaßnahmen von palästinensischer Seite aus. Es scheint keinen Ausweg zu geben...
Von Roland Kaufhold
Und doch hat es immer wieder mahnende Stimmen gegeben - gerade auf israelischer Seite. David Grossmann etwa. Der große israelische Schriftsteller setzt sich vehement für die israelisch-palästinensische
"Genfer Initiative" ein. In seinem Geleitwort zum Vertragsentwurf dieser u.a. durch Avi Primor nachdrücklich unterstützten Friedensinitiative schreibt Grossmann: "Wir sind nicht bereit, weiter tatenlos herumzusitzen, während die Radikalen auf beiden Seiten die Verzweiflung, den Hass und das gegenseitige Misstrauen nutzen und uns alle für ihre Zwecke zu Geiseln machen." (in: Bernstein, R.: Von Gaza nach Genf, Schwalbach/Ts. 2006, S. 10; vgl. die Rezension dieses Buches in diesem Heft).
Die thematisch breitgefächerte israelische Friedensbewegung ist schwach. Und doch gibt es in Israel zahlreiche Inseln der "politischen Vernunft", der Verständigungsbereitschaft. Besondere Beachtung verdient hierbei das jüdisch-palästinensische Friedensdorf
Neve Shalom/Wahat-al Salam, an der Schnellstraße Tel Aviv nach Jerusalem gelegen. "Oase des Friedens" - so die Übersetzung des Dorfnamens - ist zugleich titelgebend für das außergewöhnliche Buch, welches das jüdisch-palästinensische Ehepaar Evi Guggenheim Shbeta und Eyas Shbeta nun auf deutsch vorgelegt haben. Beide waren maßgeblich am Aufbau dieser 1976 vom Dominikanerpater Bruno Hussar gegründeten Dorfgemeinschaft beteiligt. Dort leben heute 52 israelische Familien, zu gleichen Anteilen Juden und Palästinenser, zusammen. Unbeirrbar bleiben sie ihren Idealen treu, lassen sich nicht entmutigen, ertragen tagtäglich den scheinbar unauflösbaren Konflikt. Man hat dort eine bilinguale Friedensschule aufgebaut, die heute von 400 jüdischen und palästinensischen Kindern und Jugendlichen besucht wird. Im Begegnungszentrum finden regelmäßig Seminare zwischen Juden und Palästinensern statt.
In lebendiger, persönlicher, unprätentiöser Weise reflektieren die beiden Autoren, in wechselnder Perspektive, auf der Grundlage ihrer Tagebuchaufzeichnungen, ihren kulturellen und familiären Hintergrund. Evi Guggenheim, 1955 in der Schweiz geboren, wächst in einer jüdischen Familie auf, die mit Glück die Shoah überlebt hat. Früh wird Evi mit dem Antisemitismus konfrontiert, lebt in einer Familie, die sich von ihrer als feindselig empfundenen Umwelt weitestgehend abschottet. Um so bewusster engagieren sie sich in der kleinen zionistischen Bewegung der Schweiz. Israel bzw. das Phantasma Israel bildet für sie einen zutiefst emotionalen, identitätsstiftenden Bezugspunkt - was für die wohl meisten jüdischen Familien im deutschsprachigen Raum gelten dürfte. Nach dem Abitur beschließt Evi, scheinbar überraschend, ihre Familie zu verlassen, um in Israel Psychologie zu studieren. Anfangs ist sie euphorisch: "Kaum habe ich den Fuß auf hebräischen Boden gesetzt, spüre ich erneut dieses unbeschreibliche Hochgefühl in mir aufsteigen. Sechs Wochen lang werde ich großartige Augenblicke erleben." (S. 64)
Eyas Leben verläuft sehr anders. Er erlebt die Niederlagen der arabischen Staaten im 1967er- Krieg als Demütigung. Und doch hat er einen israelischen Pass. Anpassung, Verleugnung, Schweigen, dies ist die familiäre Lehre. Ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Juden ist seine Grundhaltung. In persönlicher, unprätentiöser Weise wird ihre Begegnung in Neve Shalom beschrieben, die außergewöhnlichen Schwierigkeiten ihrer Liebe, welche ihre Familien auf eine harte Probe stellen. Der Aufbau von Neve Shalom, anfangs ein furchtbares Provisorium, wird mitreißend beschrieben. Für Idealisierungen - und dies ist eines der Vorzüge dieses Buches - bleibt nur wenig Raum. Den Autoren gelingt es, den langen, schwierigen Weg hin zu einer wechselseitigen Toleranz, Achtung, dem Recht auf eine je eigene Identität, in lebendiger Weise darzustellen. Rückschläge traten immer wieder auf. Diese "Oase des Friedens" war kein Phantasieprodukt, sie wurde in einem sehr mühsamen Lernprozess aufgebaut. Die internationale, vor allem auch finanzielle Unterstützung dieses bewundernswerten Friedensprojektes, so sollte hinzugefügt werden, war unverzichtbar für dessen Wachstum.
Ein Paradies ist Neve Shalom gewiss nicht. Die Ängste der Juden vor ihrer Vernichtung spürt Evi Guggenheim weiterhin: "Seit einiger Zeit verfolgt mich nachts immer wieder ein eigenartiger Traum: Ich bin in einem Haus eingesperrt und werde von Hitler von einem Zimmer ins andere gejagt, dann geht er, und Arafat tritt an ihre Stelle. Dieser Albtraum sucht mich noch immer heim" (S. 192) notiert sie im September 1992 in ihrem Tagebuch. Von ihrer Mitwirkung beim Aufbau dieser zukunftsweisenden israelisch-palästinensischen Dorfgemeinschaft hat sie sich hierdurch nicht abbringen lassen.
Daniel Cil Brechers Biographie ist gleichfalls zutiefst in den Nahostkonflikt eingeflochten. 1951 in Israel geboren wächst er in Deutschland als jüdisches Kind auf. 1976 geht er 25jährig nach Israel. Zehn Jahre später, in Folge des Libanonkrieges des Jahres 1982, verlässt er Israel wieder, zutiefst enttäuscht von dem Zwang zum Konformismus, und doch voller Schuldgefühle. Er geht in die Niederlande, wo er heute als Publizist lebt. Sein Leben in Deutschland und in Israel, sowie seinen Entschluss zur Remigration reflektiert Cil Brecher nun im zeitlichen Abstand von 20 Jahren - ein Abstand, der wohl notwendig war.
Brecher wählt einen methodisch ambitionierten Weg: Er mischt literarisch anspruchsvolle autobiographische Reflexionen mit theoretischen und historischen Analysen zur Geschichte Israels - eine Methode, die als gelungen zu betrachten ist, die dem Leser jedoch eine gewisse Geduld sowie eine Bereitschaft zu einer reflexiven Tiefenschärfe abverlangt. Der Autor interpretiert - woraus er kein Geheimnis macht - Israels schwierige, außergewöhnlich produktive Geschichte aus einer kritischen Perspektive. Hiermit steht er in der Tradition der in Israel als "Neue Historiker" bezeichneten Wissenschaftler. Er betont das Unrecht, welches den Palästinensern bereits mit der Staatsgründung zugefügt wurde und betrachtet dieses als maßgeblichen Bedingungsfaktor für den scheinbar unauflösbaren Nahostkonflikt. Er geißelt zwar auch den "nationalistischen Totenkult" (S. 58) der Palästinenser, stellt an "sein Israel" jedoch höhere moralische Erwartungen. Seine das Buch prägende Position muss man nicht teilen - und kann das Werk dennoch mit Gewinn lesen. Wohltuend bei Brecher ist seine Absage an vordergründige Anklagen, von Selbststilisierungen. Einleitend bemerkt er: "Dieses Buch ist ein persönlicher Bericht und zugleich eine politische Reflexion über Israel, Zionismus und jüdische Identität." (S. 9)
Der Autor legt eine ehrliche, selbstreflexive Analyse seiner Biographie vor. Der kluge Buchtitel "Fremd in Zion. Aufzeichnungen eines Unzuverlässigen" weist die Perspektive: Daniel Cil Brecher wurde nirgends heimisch - weder als Jude in Deutschland noch als kritischer, den Libanonkrieg des Jahres 1982 ablehnender Staatsbürger in Israel.
Seine Kindheit als jüdisches Kind in Düsseldorf - deren jüdische Gemeinde umfasste Ende der 1950er Jahre 900 Mitglieder - ähnelt der Evi Guggenheim Shbetas: Immer wieder spürt er, als Kind von Überlebenden der Shoah, die bereits Anfang der 1950er Jahre nach Deutschland zurückgekehrt waren, den Bruch, die eigene existentielle Verwundbarkeit als Jude. Seine Mutter stammt aus Prag, sein Vater aus Czernowitz. "Daß sie überlebten, war einem Zufall zu verdanken." (S. 11) Zwischen Deutschen und Juden stand ein abgrundtiefer Graben.
Scheinbare "Normalität" erweist sich für ihn immer wieder als trügerisch. Über die eigenen traumatischen Erfahrungen während der Nazi-Zeit wird in der Familie nicht gesprochen - wenn auch aus sehr anderen Gründen als von den Deutschen. Und dennoch sind die Bücher über die deutschen Verbrechen in Cils Wohnung präsent. Dem Neunjährigen drücken seine Eltern irgendwann "drei bräunliche Hefte der Bundeszentrale für Heimdienst" in die Hand, "die seltsame Titel trugen: `Eine Frau erzählt´, `Vom Leben, Kampf und Tod im Ghetto Warschau´ und `Der Kampf gegen die Endlösung der Judenfrage´" (S. 160f.). Als Jugendlicher, während der 1968er-Jahre, sympathisiert er stark mit der bundesrepublikanischen "Linken" - und fühlt sich zugleich abgestoßen von deren Arroganz, der Verleugnung der mörderischen Täteranteile der Deutschen, wie sie für zumindest gewisse Teile der Deutschen Linken kennzeichnend ist und mit der sie ihren (Groß-)Vätern ähnlicher sind, als sie sich eingestehen können. Diese zerstörerischen Erfahrungen treiben den 25-jährigen nach Israel.
Sehr anregend sind die Beschreibungen seines Lebens in der Gruppe der Neueinwanderer, im Kapitel "Erziehung zum Israeli. Der Zionismus des Alltagslebens" (S. 84-138). Die Integration in die Gruppe der Sabres gelingt nicht, es kommt kaum zu Ehen zwischen Neueinwanderern und in Israel Geborenen. Obwohl Brecher in Israel heiratet und beruflich an einem Forschungsprojekt für Yad Vashem sowie an einem Buchprojekt des Leo-Baeck-Instituts beteiligt ist, gelingt ihm keine Identifizierung mit den "zionistischen Grundüberzeugungen", mit dem "jüdischen Nationalismus", dem "Heldentum". Seine anfängliche Euphorie verfliegt rasch. Er bleibt das, was er auch in Deutschland war: ein Fremder, ein Außenstehender.
Die gewalttätigen Ereignisse in Israel ermöglichen ihm keine Bearbeitung seiner inneren, unbewussten Ambivalenz. Im März 1978 überfallen palästinensische Terroristen - zynischerweise gerade im multikulturellen Haifa (!) - in einer brutalen Militäraktion einen Schulbus mit zahlreichen Kindern. Es kommt zu weit über 30 Toten. Die legitime, harte israelische Gegenreaktion - für die Logik des Nahostkonfliktes eine Selbstverständlichkeit - lässt nicht lange auf sich warten. Auch Brecher wird als Reservist eingezogen. Im Kapitel "Auch ein starkes Volk ist manchmal traurig. Der Holocaust und die Entstehungsmythen Israels" (S. 227-290) zeichnet er seine Tätigkeit als Soldat in der Armee nach - die ihn seelisch völlig überfordert. "Das Selbstbild des israelischen Soldaten ist das eines zum Kampf gezwungenen Pazifisten" (S. 59), formuliert Brecher. Er verweigert sich der militärischen Disziplin, es kommt zu seinem Bruch mit dem Militär. Zwei Jahre später verlässt er das Land. Und doch erhält er zu seiner Überraschung "am Ende", 1985, nach dem Libanonkrieg, von seiner alten Militärabteilung eine Kriegsauszeichnung und eine Urkunde, in welcher steht: "Für Daniel Brecher, mit unserer Hochachtung für seinen erzieherischen Beitrag zum Krieg `Frieden für Galiläa´. J. Eldar, Brigadegeneral." (S. 387)
Guggenheim Shbeta, Evi, und Eyas Shbeta:
Oase des Friedens. Wie eine Jüdin und ein Palästinenser in Israel ihre Liebe leben. München 2004 (Heyne Verlag), 319 S., 20 Euro
Daniel C. Brecher:
Fremd in Zion. Aufzeichnungen eines Unzuverlässigen. München 2005 (Deutsche Verlags-Anstalt), 416 S., 22,90 Euro
Erschienen in: Newsletter zur Erforschung des Holocaust, Nr. 31, Herbst 2007, S. 61-63. Nachdruck mit freundlicher Erlaubnis des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main.