Jump to navigation
Das große Wunder einer kleinen jüdischen Einwanderung
Diese ungewöhnliche Geschichte einer Einwanderung in das Land DDR, das es nicht mehr geben sollte, nachdem es sich mit dem Nicht-Einwanderungsland BRD vereint hatte, beginnt mit dem Besuch eines ultraorthodoxen rabbinischen Rechtsanwalts aus Jerusalem. Rabbiner Tsevi Weinman war Anfang Februar 1990 mit einem Koffer voller Früchte nach Ost-Berlin gereist, um im Kulturraum der dortigen Jüdischen Gemeinde mit einer größeren Gruppe Ostberliner Jüdinnen und Juden das alljährliche TuBiSchwat Fest zu feiern...
Von Irene Runge
Wir, die Feiernden, hatten uns gerade einen Jüdischen Kulturverein Berlin gegründet. Wir wollten unter anderem von den Traditionen schmecken, die mit den Altvorderen zu versiegen drohten. Einer der Initiatoren, der Jurist Andreas Poetke, beherbergte den nicht mehr ganz jungen Rabbiner in seiner Wohnung. Beim abendlichen Tee hörte dieser zu, worüber wir uns in der Zeit des Umbruchs aufgeregt austauschten. An diesem Abend ging es vor allem um Telefonate und Post von Unbekannten aus der Sowjetunion. Dortige Juden teilten uns mit, dass und wie antisemitische Drohgebärden und Übergriffe im Zerfallsstadium des Vielvölkerstaates an die Oberfläche drängten. Wir erfuhren, dass im Sowjetland auch das Gerücht umgehe, mit dem absehbaren Ende der DDR würden sich die Grenzen für sowjetische Juden öffnen. Der Rabbiner stopfte seine Pfeife, bevor er sich nachfragend einmischte. Seine talmudische Deutung schien uns nicht umsetzbar. Er meinte, auch wir Juden in Berlin seien für andere Juden mitverantwortlich, daher sollten wir mit der Regierung der DDR reden. Diese wiederum müsse wegen der beschriebenen Gefahren eine sofortige Grenzöffnung für sowjetische Juden einleiten.
Ich weiß es noch genau. Wir reagierten etwas belustigt, auch erschrocken und unsicher. Er werde mitkommen, sagte er. Daraufhin gingen am nächsten Tag in der Frühe Cornelia Dieckmann und ich mit ihm in die Sowjetische Botschaft. Sie erläuterte auf Russisch unser Anliegen durch eine Fensterklappe, ich übersetzte dem Rabbiner die Antworten ins Englische. Doch es war vergebens, sie wollten unser Anliegen nicht verstehen. Der nächste Besuch galt dem Außenministerium der DDR. Die Abteilung Naher Osten war noch fest in der Hand von in Moskau ausgebildeten Experten mit Schwerpunkt arabische Welt. Die wimmelten uns ab.
Die politische Lage Anfang 1990
Zwischen Januar und März 1990 führte der unaufhaltsame Umbruch aller bisherigen Üblichkeiten zu vielen einander auch ausschließenden Träumen. Die Hoffnungen blühten. Immer montags tagte in Berlin der Zentrale Runde Tisch der DDR im Schloss Niederschönhausen. Überall im Land gab es diese Runden Tische, der in Berlin hatte sich wie alle anderen politische Kontroll-, Vorschlags- und Vetorechte angeeignet. Und nicht nur im Außenministerium wurde dennoch versucht, die neuen Entscheidungen für eine neue Zeit zu hintertreiben, obgleich die DDR-Regierung unter Premier Modrow nachweislich nicht mehr handlungsfähig war.
Wir hatten mit Hilfe des Rabbiners einen Aufruf verfasst, den die Botschaft und das Außenministerium nicht zur Kenntnis nehmen wollten: „….Seit Wochen hören wir von antijüdischen Pogromdrohungen in verschiedenen sowjetischen Städten…. Eingedenk der Tatsache, dass bei der Judenverfolgung und –vernichtung durch den deutschen Faschismus die ganze Welt zugesehen hat, rufen wir auf, die deutsche Schmach der Vergangenheit nicht zu wiederholen…Deshalb fordern wir, dass die DDR Voraussetzungen zur sofortigen Aufnahme von sowjetischen Juden, die es wünschen, …,schafft…“.
Am 8. Februar, einem Montag, nahm ich diese Erklärung mit zum Berliner „Runden Tisch Ausländerprobleme“. Das war nur einer der vielen parallel tagenden Unterabteilungen des Zentralen Runden Tischs. Ich engagierte mich dort in dieser Zeit mit vielen anderen für die Rechte und den weiteren Aufenthalt von Vertragsarbeiterinnen und –arbeitern in der DDR. So kam es dann auch, dass ich diesen Aufruf in unserem Gremium vorstellte und die abweisende Reaktion des DDR-Außenministeriums schilderte. Alle stimmten der Forderung nach einer Grenzöffnung begeistert zu. Heute würde ich sagen: Wir waren erstaunlich naiv.
Um 19.30 Uhr wurden einstimmige Anträge aus einer Unterabteilung vor den Vertretern am großen Zentralen Runden Tisch zwecks Befürwortung vorgetragen. Auch hier stimmten alle Anwesenden für unseren Antrag: Die DDR-Regierung wurde nun einmütig aufgefordert sowjetischen Juden und jenen, die als Juden verfolgt werden könnten, sofern sie es wünschten, die Einreise auf Dauer gewähren. Abstimmung und Anliegen wurde von laufenden Kameras verlesen. In diesem bewegenden Moment hat wohl niemand geahnt, dass daraus die Basis für ein neues jüdisches Leben in Deutschland werden würde. Ein einstimmiger Beschluss bedeutete, dass die amtierende Regierung der DDR dem Antrag gemäß handeln musste. Sie tat es aber nicht, sondern ließ die Angelegenheit schleifen. Bis heute scheint den damals Regierenden dieses Versagen übrigens nicht klar zu sein. Erinnern wir uns fairerweise: Der Staat DDR befand sich in Auflösung, wir hingegen wollten eine klare Entscheidung für die Zukunft, an die die Regierenden offenbar nicht mehr glaubten. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass es Auffassungen gibt, wonach der Dachverband der Jüdischen Gemeinden der DDR bzw. der bundesdeutsche Zentralrat der Juden solche Verhandlungen bereits heimlich geführt haben sollen. Bis heute sind dafür aber keine Belege zu finden, und mögliche Zeugen wie der damals Stellvertretende Präsident des DDR-Dachverbands Dr. Peter Kirchner verneinen die Annahme.
DDR wird BRD
Am 18. März 1990 fanden in der DDR die ersten freien Wahlen statt. Die CDU siegte und Kanzler Kohl versprach „blühende Landschaften“. Am 12. April wurde der seit dem 18. November als Minister für Kirchenfragen in der Modrow-Regierung amtierende Rechtsanwalt Lothar de Maziere (CDU) von der Volkskammer zum DDR-Ministerpräsidenten bestimmt. In Sachen Judentum war er uns als verlässlicher Partner bekannt, auch als Anwalt für die Wiederzulassung der Israelitischen Gemeinde Adass Jisroel. Ebenfalls am 12. April 1990 hatte sich das DDR-Parlament aus historischer Verantwortung gegenüber verfolgten Juden solidarisch erklärt. Unter de Maiziere wurde nun die beschlossene Grenzöffnung vorbereitet. Das Gesetzgebungsverfahren war noch nicht abgeschlossen, als bereits die ersten aufnahmeersuchenden Jüdinnen und Juden in Ostberlin eintrafen. DDR-Finanzminister Romberg (SPD) ordnete daraufhin unbürokratische Soforthilfe an, denn Versorgung und Unterbringung mussten geklärt werden. Abrüstungsminister Eppelmann (Bündnis 90/Grüne) öffnete Kasernen, zunächst eine in Ahrensfelde bei Berlin.
Am 22. Mai informierten wir vom Jüdischen Kulturverein den zuvor in Moskau akkreditierten Korrespondenten der britischen Nachrichtenagentur Reuters über die Ereignisse. Wir fuhren mit ihm in das Heim Ahrensfelde. Um 13.55 Uhr wusste es die ganze Welt: „Die DDR öffnet sich für sowjetische Juden“. Wir waren stolz auf das Erreichte.
Als Ministerpräsident führte de Maiziere auch das Amt einer „Ausländerbeauftragten“ ein. Pfarrerin Almuth Berger (Bündnis 90/Grüne) war vom „Runden Tisch für Ausländerfragen“ vorgeschlagen und berufen worden. Sie stellte eine Arbeitsgruppe zusammen, zu der auch ich gehörte. Wir kümmerten uns um die „jüdische Einwanderung“, um die aus Rumänien ins Land strömenden Sinti und Roma, die von rassistischen Übergriffen bedroht waren, um vietnamesische und andere Vertragsarbeiter, um politische Flüchtlinge. Wir diskutierten den Status der stationierten Sowjetsoldaten und die Einwanderung generell. Die jüdische Einwanderung passte aber nicht ins neudeutsche Bild. Die deutschen Medien - bis auf das ZdF, dessen Korrespondent vom Kulturverein auf dem Laufenden gehalten wurde -, mieden zunächst die Berichterstattung. Wir luden sie zu Pressegesprächen ein, so wurden die Geschehnisse nach und nach publik. Je mehr berichtet wurde, desto großartiger waren die Hilfeleistungen aus der Bevölkerung. Doch diese Einwanderungspolitik widersprach allen internationalen Regeln. Dennoch hat es sie in diesem kleinen historischen Zeitfenster in der DDR gegeben. Die Einwanderung wurde lächerlich einfach: Wer sich als Sowjetbürger jüdischer Nationalität (Fünfter Punkt im Inlandspass) oder als Jude (Geburtsurkunde oder die der Eltern) bei der DDR-Polizei oder später im Aufnahmebüro meldete, erhielt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, technische Unterstützung und konnte bleiben. Die Grenze zum Westen war zwar offen, aber bis zum 3. Oktober, dem Vereinigungstag, gab es weiterhin zwei deutsche Staaten. Eine sowjetisch-jüdische Einwanderung war nur in der DDR-Hauptstadt, also Ostberlin möglich.
Damals war die Wohnungslage katastrophal, Telefonanschlüsse ein Privileg, aber es gab keine Arbeitslosigkeit. Die meisten Einwanderer hatten wohl paradiesischere Zustände erwartet. Sie verstanden nicht, warum sie im Osten ausharren mussten. In der Sowjetunion sprach sich die sonderbare Grenzöffnung irgendwie herum. Bis Oktober waren bereits 2 000 Antragsteller angekommen. Sie wurden betreut, sie kamen in Aufnahmeheime, sahen sich um und warteten auf glücklichere Zeiten.
Für das Bonner Innenministerium und in der BRD-Gesetzgebung gab es keine „Einwanderer“. Man sagte Ausländer oder Gastarbeiter, die später zu ausländischen Mitbürgern, Migranten und Deutschen mit Migrationshintergrund umbenannt wurden. Erst unlängst beschrieb der früher und heute leitende Kirchenmitarbeiter Klaus Pritzkuleit, der als Bürgerrechtler auch am „Ausländertisch“ vermittelte, wie eine jüdische Einwanderung damals gehalten wurde: „Diese humanitäre Pflicht angesichts der deutschen Vergangenheit war unsere einzige Chance.“ Und das wurde nicht nur argumentativ eingesetzt. Protestantischer und katholischer Klerus halfen in dieser ungeordneten Phase uneingeschränkt. In der bald eingerichteten Aufnahmestelle Otto-Grotewohl-Straße übernahmen auch Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde Ost die Verantwortung und lenkten die Ankommenden, später halfen – wenn ich mich richtig erinnere – auch Vertreter der Westberliner Gemeinde. Wichtig waren russische Sprachkenntnisse. An den Wochenenden arbeitete das Amt nicht, die Einwanderer kamen dennoch. Die von den Nazis aufgelöste und trotz jüdischer und nichtjüdischer Verhinderer um Wiederzulassung kämpfende Israelitische Synagogengemeinde Adass Jisroel und der Jüdische Kulturverein Berlin wurden vorauseilend im Hinblick auf künftige Verhältnisse durch das Westberliner jüdische Establishment ausgegrenzt, aber für die Ankommenden waren wir mit unserer Hilfe präsent. Damals galt für den jüdischen Funktionären West, dass es keine unabhängige jüdische Einrichtung neben, also außerhalb des jüdischen Dachverbands Zentralrat geben könne. Entsprechende Aktivitäten wurden daher noch bis vor kurzem noch erbittert bekämpft.
Lothar de Maiziere, bis zum 2. Oktober 1990 letzter Ministerpräsident der DDR, wollte, wie Almuth Berger, Klaus Pritzkuleit und andere sich heute erinnern, den Beschluss zur jüdischen Einwanderung im Einigungsvertrag verankern. Aber er war bei den Verhandlungen nicht federführend, und der später unehrenhaft abgedankte parlamentarische DDR-Staatssekretär Krause unterließ es, sich an diese Vorgabe zu erinnern. Nach dem Vollzug der deutschen Einheit wurde vereinbarungsgemäß die DDR-Volkskammer am 3. Oktober aufgelöst, Lothar de Maiziere wie einige andere in den Bundestag als Abgeordneter übernommen und zugleich als Minister für besondere Angelegenheiten im Kabinett Kohl verankert, bevor man ihn durch Stasi-Vorwürfe belastete. Am 17. Dezember 1990 trat er als Minister zurück, am 6. September 1991 gab er sein Mandat auf und verschwand in seiner Berliner Rechtsanwaltspraxis. Hans Misselwitz, Biochemiker, Bürgerrechtler und Staatssekretär im DDR-Außenministerium, wurde, wie er berichtet, vor dem Tag der deutschen Einheit vom BRD-Staatssekretär Sudhoff ins Bonner Auswärtige Amt „einbestellt“ und von diesem aufgefordert, die Ostberliner Einwanderungsmaßnahmen zu beenden. Misselwitz lehnte das Ansinnen unter Verweis auf den „prinzipiellen Charakter des Volkskammerbeschlusses als Teil der außenpolitischen Konzeption der letzten DDR-Regierung“ ab.
Was wir als Initiatoren nicht wussten: Die ungeplante und aus bundesdeutscher Sicht auch im Hinblick auf Europa unpassende Einwanderung sollte mit Vollendung der deutschen Einheit aufhören. Der bundesdeutsche Zentralrat der Juden war eingangs vermutlich aus bundespolitischer und zionistischer Raison, und der Staat Israel aus nur diesem Grund an dieser Einwanderung nicht interessiert. Aus israelischer Sicht gab und gibt es keine jüdischen Flüchtlinge auf der Welt, weil mit Israel eine jüdische Heimstatt für alle Juden besteht. In dieser Logik war, wer nach Deutschland einreiste, kein jüdischer Flüchtling, sondern Wirtschaftsemigrant oder Abenteurer. Das war das Öl auf die Mühlen der Einwanderungsgegner. Für manche bundesdeutsche Politiker blieb es bis jetzt inakzeptabel, dass Deutschland, obgleich für sie kein Einwanderungsstaat, die von der DDR eröffnete jüdische Immigration nach dem 31.12.1990, also nach dem Finanzjahr, fortsetzen musste.
Wir erfuhren erheblich später, dass SPD-Abgeordnete, Gewerkschafter und Kirchenführer energisch für eine Fortsetzung plädierten und sich der Zentralrat der Juden trotz israelischer Proteste nunmehr an die Spitze dieser Bewegung stellte. Man sagt, der damalige und heutige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble habe auf der Bundesinnenministerkonferenz im Februar 1991 gegen den Willen nicht weniger seiner Kollegen für eine schnelle und positive Lösung plädiert. Man einigte sich auf eine Regelung in Anlehnung an die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, was verwaltungstechnisch problematisch und mit Aufwand verbunden war, aber offenbar der einzige Ausweg. In Anlehnung, weil sich diese Fluchtbewegung nicht aus staatlicher Verfolgung gegen eine ethnische Bevölkerungsgruppe begründete, und, weil dieser Konvention gemäß die Flüchtlinge nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung in ihre Heimatländer hätten zurückkehren müssen – siehe Bosnien. Den jüdischen Einwanderern hingegen ging es um ein unbefristetes Leben in Deutschland.
Die Verfestigung der Einwanderung
Seit der Regelung von 1991 sind über 210 000 Menschen aus der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten nach Deutschland eingewandert. Das sind die antragsberechtigten Jüdinnen und Juden und jene mit jüdischer Nationalität, die nach jüdischem Gesetz (Halacha) zwar keine Juden sind, aber jüdische Väter haben sowie alle berechtigt mitreisenden nichtjüdischen Familienangehörigen. Etwa 80 000 Einwanderer sind Mitglieder der Jüdischen Gemeinden geworden. Manche wollten, und andere konnten es nicht. Die meisten der Eingereisten sind Großstadtbewohner mit Universitäts-, Hoch- oder Fachschulbildung. 1990 waren von rund 29 000 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik nur etwa 1 000 russischsprachig. Im Jahr 2005 waren es bereits 98 000 von rund insgesamt 108 000 Mitgliedern. 53 Prozent aller Gemeindemitglieder sind heute älter als 50 Jahre. Das sind die heutigen Herausforderungen für die kommunale wie jüdische Gemeindepolitik.
Der Überblick zu den Anfängen der jüdischen Einwanderung nähert sich hier seinem Ende. Nachzutragen bleibt, dass sich die deutschen Innenminister nach mehreren, der Öffentlichkeit nicht bekannt gewordenen „Kamingesprächen“, unter TOP 35 im Jahr 2005 darauf einigten, dieser Einwanderung Grenzen aufzuerlegen. Zum 1.Januar 2005 wurde unter Anteilnahme des Zentralrats der Juden die „Kontingentflüchtlingsregelung“ eingestellt. Das auf diesen Tag datierte neue bundesdeutsche Aufenthaltsgesetz hätte folgerichtig von nun an auch für jüdische Antragsteller Anwendung finden müssen, was nicht der Fall war. Stattdessen sollte es entweder nichts oder eine neue Regelung für das jüdische Ticket geben. Die Zusammenhänge wurden nicht kommuniziert. Der Jüdische Kulturverein hat mehrfach gegen dieses undurchsichtige Verfahren protestiert. Ich habe meinen Standpunkt in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ im Heft 8/2005 aufgeschrieben. Am 18. November 2005 legten sich die Innenminister auf Eckpunkte für eine Neuregelung fest. Der Zentralrat gab zunächst vor, keinen Anteil daran zu haben, sprach aber später davon, er habe das Ende der Einwanderung durch einen Kompromiss verhindert. Im Februar 2006 war aus der Grünen-Fraktion zu erfahren, dass sich alle Fraktionen im Bundestag zwar prinzipiell für die Fortführung der bisherigen Regelung ausgesprochen und dabei erkannt hätten, dass die vom Zentralrat der Juden geforderte Konfessionalisierung, also die Stärkung von Religionsgemeinden, kein Einwanderungszweck sein könne. Dirk Niebel, Generalsekretär der FDP, teilte schriftlich unsere Einwände, nicht gegen das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche zu verstoßen. In einer kleinen Anfrage wurden die im Magazin „Spiegel“ veröffentlichen Details eines Einwanderungspunktesystems durch die Bundestagsfraktion der Grünen (www.Bundestag.de/btb/16/025/160216.pdf) nachgefragt und bestätigt. Bis heute sind die von Bundesinnenministerium, Zentralrat der Juden und World Union for Progressive Judaism als Kompromiss ausgehandelten Neuregelungen nicht in Kraft gesetzt.
Der aktuelle Stand ist jetzt, also im März 2007, wie folgt: Waren zuvor die Bundesländer und das Auswärtige Amt für die jüdische Einwanderung zuständig, liegt die Verantwortung nunmehr beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg, das bereits seit 2003 die Verteilungsfragen regelt. Der Beschluss vom 18.11.2005 hätte zum 01.07.2006 in Kraft treten sollen, wurde aber wegen der neuen Zuständigkeit verschoben, die eine Gesetzesänderung erforderlich macht und vom Bundespräsidenten unterzeichnet werden muss. Seit Herbst 2006 werden jedoch neue Anträge bei den Auslandsvertretungen entgegengenommen, über die aber wegen der fehlenden gesetzlichen Regelung beim BAMF noch nicht entschieden werden kann. Es gibt weiterhin die „Übergangsfälle I“, also Anträge, die bereits vor dem 1. Juli 2001 gestellt und lange nicht bearbeitet wurden sowie „Übergangsfälle II“, das sind diejenigen, die zwischen dem 01.07.2001 und 31.12.2004 ihre Anträge eingereicht haben. Erstere werden noch nach den alten Regeln bearbeitet, letzteren wurden inzwischen aus Nürnberg die aktuellen Antragsformulare zugeschickt, die gemäß den neuen Anforderungen auszufüllen und beim deutschen Konsulat erneut einzureichen sind.
Jüdische Antragsteller benötigen demnach ab sofort:
1. Den Nachweis über jüdische Mutter oder Vater.
2. Sie müssen sich zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekennen (Diese Formulierung besagt nicht, dass sie religiös sein müssen, aber das Wort Bekenntnis ist dehnbar. Zudem wird eine „Mitarbeit in jüdischen Gemeinden und Organisationen“ erfragt. Ob diese ehrenamtlich oder professionell ist, scheint keine Rolle zu spielen. Wichtig ist offenbar, dass keine andere Religion angenommen worden ist).
3. Einen Beleg über den am Heimatort absolvierten Sprachtest Deutsch.
4. Eine positive Integrationsprognose nach Punktesystem (wird anhand der Unterlagen in Deutschland erstellt).
5. Eine Aufnahmezusage einer in Deutschland ansässigen Jüdischen Gemeinde.
Jüdische Verfolgte des Naziregimes, in der Amtssprache Opfer der NS-Gewaltherrschaft, sind von den Anforderungen ausgenommen. Das betrifft alle, die vor dem 1. Januar 1945 auf dem Territorium der UdSSR geboren worden sind. Aber: In II/b werden Ausschlussgründe summiert. Diese betreffen gleichermaßen die politische und kriminelle Vergangenheit der Antragsteller. Dazu gehört auch, dass z.B. der Rang ab Oberstleutnant in der Sowjetarmee ein Ausschlussgrund sein kann. Ob dies auch auf die Zeit des Kampfes gegen die deutschen Faschisten angewendet wird, geht aus den Unterlagen nicht hervor.
Die Auslandsvertretungen prüfen die Vollständigkeit und Echtheit der Dokumente, das Bundesamt in Nürnberg erstellt anhand der Formulare alias Selbstauskünfte die Integrationsprognose nach Punkten (mindestens 51 von 105 möglichen Punkten sind erforderlich). Sie setzten sich Abstammung, Sprachkenntnissen, Mitarbeit in einer jüdischen Gemeinde, Familienbeziehungen in Deutschland, Qualifikation und Berufserfahrungen u.a. zusammen. Eigenes Vermögen ist hilfreich. Die ZWST soll eine gutachtehrliche Stellungnahme abgeben, die die Möglichkeiten der Aufnahme in eine Jüdische Gemeinde betreffen. Unklar ist, was unter Möglichkeiten verstanden wird. Der IMK-Beschluss (Bundesinnenministerkonferenz) sieht die Einwanderung für Nachfahren jüdischer Mütter und Väter vor, die Gemeinden in Deutschland, auch die wenigen liberalen, orientieren sich nach der Halacha, also der Mutter. Dieser Widerspruch wird noch viel Ärger produzieren.
Anders als früher erhalten jetzt nur noch Hauptantragsteller und jüdische Mitreisende eine Niederlassungserlaubnis, während für miteinreisende nichtjüdische Angehörige eine befristete Aufenthaltserlaubnis vorgesehen ist. Beim Tod eines Hauptantragstellers oder bei Scheidung (es wird übrigens eine dreijährige Ehedauer vor der Einreise vorausgesetzt), wird das eigenständige Aufenthaltsrecht geprüft. Nach einem Jahr hängt die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis davon ab, ob sich der miteingewanderte Partner sich selbstständig versorgen kann. Dass sich die Bundesländer gegen eine Einwanderung in die Sozialsysteme stemmen, ist vom Standpunkt der Landesfinanzen zwar nachvollziehbar, aber angesichts des demographischen Wandels gleichzeitig problematisch. Zwar trifft zu, dass die Arbeitslosigkeit dieser Hochqualifizierten und das höhere Lebensalter bei der Einwanderung auf dem jüdischen Ticket zu sozialer Abhängigkeit geführt haben, aber die jüdischen Einwanderer haben sich das sowenig ausgesucht wie Millionen weiterer Arbeitsloser und Sozialhilfeempfänger in Deutschland. Ganz angesehen davon, dass das deutsche Sozialsystem ein bescheidenes Leben auch ohne Berufsarbeit erlaubt und dadurch den Willen zum unbedingten Erwerb untergräbt.
Schlussfolgerungen
Man könnte gutwillig von einem Modellversuch der Einwanderung nach Deutschland sprechen, der sich an den Erfahrungen klassischer Einwanderungsländer orientiert. Und man könnte darauf hoffen, dass er für jegliche Einwanderungswilligen verallgemeinert wird. Bislang werden aber nur die Eliten der ehemaligen Sowjetunion und der heutigen Nachfolgestaaten, sofern sie über eine bildungsmäßige und kulturelle Mindestausstattung verfügen. Anderswo heißt das Brain-Drain und gilt als schändlich.
Das Mitglied des Präsidiums des Zentralrats Graumann beklagte unlängst, dass die jüdische Einwanderung gestoppt worden sei, und vernachlässigte dabei den Anteil seines eigenen Dachverbandes. RA Lothar de Maiziere ist bis heute der Meinung, dass § 19 Einigungsvertrag die Bundesrepublik zur Fortsetzung der damals beschlossenen Praxis verpflichte.
Wie wird es wohl mit der Einwanderung auf einem „jüdischen Ticket“ weitergehen? Im Moment könnten die neuen Einwanderungskriterien trotz einiger Ungereimtheiten all jenen nutzen, die sich ihre Aufnahme durch Abstammung, Bildungsvorlauf und Energie erarbeiten. Die deutsche Politik wird sich allerdings umzustellen haben, denn einerseits ist die Ungleichbehandlung offenkundig und andererseits stoppt weder die Globalisierung, noch die Migration, noch umgehen die künftigen Arbeitsmarktrealitäten Deutschland. Die jüdische Einwanderung muss in größerem Kontext gesehen werden. Ein deutsches oder europäisches Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht, das seine Ziele und seinen Zweck klar definiert und unbürokratisch den Zuzug regelt, ist noch nicht verfasst. Die Empfehlungen der Süssmuth-Kommission sind bei den Akten, und der tradierten deutschen „Überfremdungsangst“ wird der Zugriff noch immer nicht verstellt. Die jüdische Einwanderung oder besser: die Einwanderung auf einem jüdischen Ticket, hat auch, aber nicht nur, mit deutscher Geschichte zu tun. Auch diese Zusammenhänge werden nicht konstruktiv gelenkt. Im Hinblick auf die jüdische Einwanderung häufen sich daher die Fragen an Staat, Gesellschaft und jüdische Verbände.
Es bleibt also zu hoffen, dass nicht erst eine künftige Geschichtsschreibung von dieser so ungewöhnlichen Einwanderung berichten und dabei herausfinden wird, ob sie nach 15 Jahren heimlich abgetrieben oder verjüngt und qualifiziert werden sollte. Wir, die Heutigen, könnten froh sein, dass die Lage für die eingewanderte jüdische Bevölkerung einigermaßen annehmbar ist. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass dies ein rares Privileg ist. Andere eingewanderte Bevölkerungsgruppen und andere Einwanderungswillige haben erheblich weniger Glück. Solidarität war schon immer eine jüdische Tugend. Daran sollten sich die Jüdischen Gemeinden und ihre Mitglieder schnellstens erinnern. Denn den Preis für eine verfehlte Einwanderungspolitik zahlen am Ende alle.
Posted 05/02/07 by:
admin
Comments
Hat Dr. Irene Runge als "IM" für die Stasi gearbeitet?
http://buecher.hagalil.com/...
"...Auch das Thema Juden als Stasi-Informanten thematisiert Schneider. Dazu wollte er zwei Personen interviewen, die besonders prominent waren und immer noch sind. Peter Kirchner war schwer erkrankt, Irene Runge, die bis heute den jüdischen Kulturverein Berlin leitet, weigerte sich über ihre Stasi-Vergangenheit Auskunft zu geben. ..."
Und Gerd Schulz kann es mit seiner Diffamierungsabsicht jedem Mitarbeiter des Mfg oder Blockwarts gleichtun.
Ich habe schon mal den Verdacht anklingen lassen, jetzt aber in aller Deutlichkeit: Gerd Schulz, bist Du ein Mitglied der "national revolutionären Bewegung" oder ähnlichem?
Gerda: ha kol beseder?
(Gute Besserung!)
Oh, entschuldige bitte! ich hatte einen Gerd Broich im Visier, der hier schon mal ziemlich rechts gepostet hat:
http://www.hagalil.com/01/d...
Deshalb der Verdacht der Diffamierung.
Gerda
"Für besondere Verdienste bei der Aufklärung der Pläne der Feinde unserer Republik und den dadurch geleisteten Beitrag im Kampf um die Einheit Deutschlands und die Erhaltung des Friedens"
erhielt Irene Runge am 8. August 1963 eine Prämie von 250 Mark und eine Urkunde.
Kopie im Archiv Wolffsohn:
http://www.wolffsohn.com/in...
Michael Wolffsohn, Die Deutschland Akte. Tatsachen und Legenden,
München 1995,
Kapitel "IM Stefan" (= Dr. Irene Runge): Politische Kosmetik", S. 90 ff.
nice
good
Ebat kolotit
Add Comments
http://buecher.hagalil.com/...
"...Auch das Thema Juden als Stasi-Informanten thematisiert Schneider. Dazu wollte er zwei Personen interviewen, die besonders prominent waren und immer noch sind. Peter Kirchner war schwer erkrankt, Irene Runge, die bis heute den jüdischen Kulturverein Berlin leitet, weigerte sich über ihre Stasi-Vergangenheit Auskunft zu geben. ..."