Drei Juden berichten in Deutschland, wie sie Auschwitz und Buchenwald überlebten – und welche Rolle ein weltberühmten Foto vom Holocaust für ihr Leben spielt...
Von Axel Vogel
Die drei rüstigen Senioren betrachten sichtlich bewegt jenes bedrückende Schwarzweißfoto, dass vor 61 Jahren um die Welt ging, Naftali G. Fürst (73), Nikolaus Gruner (77) und Max Hamburger (86) aber zeitlebens nicht mehr los lässt. Am 16. April 1945 hatte der amerikanische Soldat Private H. Miller in einer Baracke des KZ Buchenwald die Opfer einer irdischen Hölle auf Zelluloid gebannt: 26 bis zum Skelett abgemagerte Menschen zeigt die Aufnahme. Sie sind dem Tode näher als dem Leben. Dicht an dicht liegen sie auf den vier Etagen eines Holzgestells. Die einen stieren ins Leere, andere schauen angstvoll in die Kamera. Nur mühsam scheint ein nahezu nackter Mann zu stehen, an einen Balken gestützt.
16. April 1945: Auf dem berühmten Foto, aufgenommen von Private H. Miller nach der Befreiung des KZ Buchenwald, liegen abgemagerte Männer auf einem Holzgestell mit vier eingezogenen Zwischenböden, darunter Nikolaus Gruner (links unten), Max Hamburger (4. von links unten) und Naftali Fürst (3. Reihe, 5. von links).
In der Baracke, in der die Nazis den Sterbenden ihren letzten Platz zugewiesen hatten, liegen auch der damals zwölf Jahre alte Fürst, der 15-jährige Gruner und der 25 Jahre alte Hamburger. Alle drei sind auf dem Foto zu sehen, doch kennen gelernt haben sie sich erst vergangenes Jahr. Anlässlich der Gedenkfeiern zur Pogromnacht am 9. November treffen sich jetzt in Deutschland wieder - bei der Künstlerin Christiane Rohleder, deren Haus in Much bei Bonn für die Holocaust-Überlebenden zu einer Heimstätte in der Heimat ihrer einstigen Peiniger geworden ist. Eingeladen von der Archivarin des Rhein-Sieg-Kreises, Dr. Claudia Arndt, erzählten sie Siegburger Schülern die bewegende Geschichte des Fotos, auf dem sich 1945 drei leidvolle Biografien gekreuzt, dank dem sich aber auch 2006 drei Freunde gefunden haben..
Das Leben des niederländischen Juden Max Hamburger ändert sich 1942 schlagartig. Die Nazis untersagen ihm sein Medizinstudium in Amsterdam. Hamburger engagiert sich im Widerstand, spritzt potenzielle KZ-Insassen "transportunfähig". Seine Gruppe fliegt auf. Durch Verrat, wie er heute weiß. Mit seiner Mutter wird er nach Auschwitz deportiert. Am 10. Februar 1944, seinem 24. Geburtstag, trifft er im schlimmsten NS-Vernichtungslager ein. Er entgeht den tödlichen Arbeitskommandos, weil Ärzte gebraucht werden.
Seine Mutter stirbt in dem KZ, Hamburgers Leidenszeit geht weiter: Sein Weg führt ihn über die Arbeitslager von Groß-Rosen und Thannhausen in die KZ Flossenbürg und Ohrdruf, einem Außenlager des berüchtigten KZ Buchenwald. Als auch dort die Front näher rückt, müssen die KZ-Insassen im März 1945 zu einem Todesmarsch nach Buchenwald aufbrechen. "Das bedeutete 80 Kilometer Laufen bei Eis und Schnee sowie schlechter Verfassung", erinnert sich Hamburger. "Es ist ein Wunder, dass ich das überlebt habe." Angekommen in Buchenwald gibt es ein zweites Wunder: Max Hamburger ist so schwach, dass er sich nicht mehr zum Appell aufstellen kann und im Gras liegen bleibt. Ein SS-Mann, der des Vorfalls gewahr wird, erschießt ihn trotzdem nicht.
Am 11. April 1945 befreien die Amerikaner das Lager. In der Baracke, die für die Todgeweihten reserviert ist, fotografiert ihn am 16. April 1945 der GI Miller: Da wiegt Max Hamburger noch 28 Kilogramm.
Zwei Reihen über ihm liegt Naftali G. Fürst. Keiner kennt den anderen. Der zwölfjährige Fürst schaute damals ganz bewusst nicht in die Kamera. "Ich hatte jahrelange Lagererfahrung und wusste, dass es oft nicht gut war, die Aufmerksamkeit der Aufpasser zu erregen", erzählt er. Die Familie des Slowaken - Vater, Mutter und Bruder - war am 9. November 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Als das KZ Mitte 1945 vor der anrückenden Roten Armee geräumt wird, findet sich Fürst "halbtot" mit seinem Bruder im Kinderblock des KZ Buchenwald wieder. Zehn Tage liegt er bewusstlos im Krankenrevier, wird dann im Bordell des Lagers gepflegt, bis die Amerikaner kommen. Bei der Suche nach einem Schlafplatz kommt er in die Baracke der Sterbenden: "Dort suchte ich einfach einen Schlafplatz." Trotzdem erlebte er die Befreiung tieftraurig. Naftali G. Fürst ringt nach Fassung wenn er erzählt, dass die Nazis seinen Bruder noch in letzter Sekunde aus dem Kinderblock deportiert hatten – abtransportiert in Richtung des KZ Theresienstadt. Doch der Bruder wie auch seine Familie überlebt den Holocaust - jeder an einem anderen Ort.
So viel Glück hatte Nikolaus Gruner nicht, der auf dem 1945 aufgenommenen Bild nur wenige Meter neben Max Hamburger in der untersten Pritschenreihe liegt. Die Nazis verschleppten den ungarischen Juden im April 1944 nach Auschwitz. Mit ihm seine Eltern und drei Geschwister. Auf der berüchtigten Rampe des KZ werden sie getrennt. Später wird er erfahren: nur seine Schwester kommt davon. Unter großen Schmerzen bekommt er die Nummer "A 11104" eintätowiert. Doch das ist nichts gegen die Seelenqualen, die er erleidet, als ihn SS-Männer zum Duschen schicken: "Hier hast du eine reine jüdische Seife. Die haben wir aus dem Fett Deiner Mutter gemacht", erklärte ihm ein Bewacher hämisch. Zum Weinen verkroch sich der Junge auf das Dach einer Baracke – und in der Erinnerung daran fließen heute noch die Tränen. Es hilft nichts. Der kleine, nur 48 Kilogramm Halbwüchsige muss von nun an 50 Kilo schwere Zementsäcke schleppen.
Um den 14. Januar 1945 - etwa zeitgleich mit Fürst - wird Gruner von Auschwitz in einem offenen Waggon gen Westen deportiert. Fast die Hälfte der Häftlinge stirbt dabei an Kälte und Entkräftung. "Wir wärmten uns an den Toten", so Gruner. Wie Fürst landet er im Kinderblock von Buchenwald. Körperlich und seelisch ein Wrack, rettet ihn eine Finte: Bei der Räumung des Lagers durch die deutschen Bewacher täuscht er vor, austreten zu müssen, und flüchtet in die Sterbebaracke: "Ich habe mich einfach auf die Pritsche geschmissen."
Nach der Befreiung gehen die drei verschiedene Wege. Der Künstler Nikolaus Gruner lebt heute im schwedischen Malmö, der Fotograf Naftali G. Fürst in Haifa/Israel und der Psychiater Max Hamburger in Visé/Belgien. Kennen gelernt haben sich die Holocaust-Überlebenden erst vergangenes Jahr, dank eben jenes berühmten Fotos: Die mittlerweile verstorbene Journalistin Ursula Junk hatte anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung Buchenwalds noch lebenden Personen auf der Aufnahme identifiziert und zusammengebracht.
Inzwischen sieht sich das Trio regelmäßig, sie fühlen sich regelrecht als "Brüder" und verpflichtet, der jungen Generation ihr Erlebtes zu schildern wie jetzt anlässlich der Gedenkfeiern zur Pogromnacht in Siegburg. "Unsere Verbundenheit ist das einzig Positive an den furchtbaren Geschehnissen", sagt Fürst im Rückblick. Und für alle drei bleibt "ihr" schicksalhaftes Foto vom 16. April 1945 jener hochemotionale Kit, der sie gleichermaßen verbindet wie antreibt.
Unfassbar war jener Moment, als sie erfuhren, das ein amerikanischer Unternehmer das Bild auf Mousepads und T-Shirts reproduzierte. "Wir haben sofort einen Anwalt eingeschaltet", entrüstet sich Naftali G. Fürst. Wie tief solche Geschmacklosigkeiten verletzten, vermag man nur zu erahnen, wenn Nicolaus Gruner sagt: "Die Szene in der Todesbaracke ist in mir und darum freue ich mich jeden Tag, den ich noch lebe. Dieses Foto darf nicht zum Geld verdienen genutzt werden. Nur zu historischen Zwecken - und zur Mahnung."
Brüder im Geist und Überlebende des Holocaust: Max Hamburger (von links), Nikolaus Gruner und Naftali Fürst.
Foto: Axel Vogel
Mitte 1945 hatte Deutschland längst kapituliert! Warum geschehen in Berichterstattungen eigentlich immer wieder solch eklatante Fehler?!