Er war in den sechziger Jahren Deutschlands erfolgreichster Produzent und arbeitet heute, mit 89 Jahren, an der Vollendung einer Serie von Schoah-Filmen. Im Gespräch mit tachles spricht Artur Brauner über sein Lebenswerk, Zukunftsprojekte und Deutschlands Judentum...
Interview: Yves Kugelmann, tachles v. 21. Dezember 2007
tachles: Ihr neuer Film "Der letzte Zug" ist in Deutschlands Kinos angelaufen. Wann können wir ihn in der Schweiz sehen?
Artur Brauner: Das kann ich noch nicht sagen. Eigenartigerweise reagieren besonders die Zuschauer in der deutschen Schweiz analog zu denjenigen in der Bundesrepublik: Filme, deren Thema das Holocaust-Inferno darstellen, werden nicht honoriert. So kann sich nur ein künstlerischer und kulturpolitischer Erfolg einstellen.
Bis heute haben Sie 21 Holocaust-Filme produziert. Zwei weitere sind in Arbeit. Weshalb widmen Sie sich dem Thema bis heute so intensiv?
Mit 20 Jahren habe ich mir geschworen, dass ich, wenn ich den Holocaust überleben sollte, die Opfer, die nicht mehr reden, sich wehren und erklären können, wieder zum Leben erwecken würde. Das mag pathetisch klingen, aber eineinhalb Jahre nach Kriegsende habe ich den halbbiografischen Film "Morituri" produziert, obwohl es wahnsinnig schwierig war, weil ich keine Lizenz hatte, wie man sie damals brauchte. Und ich bekam keine, da man mir die übliche Fragenliste vorlegte, die rund 140 Fragen umfasste, unter denen auch beantwortet werden sollte, ob ich in der Reiter-SS, bei der Polizei oder bei der Gestapo war.
Wie haben Sie dieses Problem gelöst?
Durch eine salomonische Spitzfindigkeit. Nachdem eine Lizenzgenehmigung von der sowjetischen Behörde irrelevant war, habe ich nach monatelangem Hin und Her ein zweizeiliges Schreiben von der Kulturabteilung in die Hand bekommen, wonach die sowjetische Behörde keine Einwände habe gegen die Produktion dieses Filmes in der sowjetischen Zone, und dort habe ich den Film in knapp zwei Jahren gemacht. Ich hätte in der amerikanischen Zone unter jemand anderes Namen drehen können, aber die ganze Umgebung, die Wälder und die Vegetation waren dort anders. Aber es war eine schwierige Produktion. Nachts hätten wir nicht drehen können, weil es keinen Strom gab, und es klappte nur, weil man in zwei Städten den Strom abstellte, damit wir ihn bekamen. Es gab keine Platzpatronen, und wir mussten echte verwenden. Als Statisten hatten wir Soldaten, die teils aus Kasachstan, Usbekistan oder Turkmenistan stammten, und wir mussten immer aufpassen, dass man ihre schrägen Augen nicht erkannte, denn sie sollten ja deutsche Soldaten darstellen. Auch die Versorgung der Leute beispielsweise mit Lebensmitteln war unheimlich kompliziert. Ein zweites Mal hätte ich das alles nicht mitmachen wollen – dagegen war die Produktion von "Babij Jar" ein Kinderspiel.
Das Thema von "Babij Jar" hingegen war kein Kinderspiel.
Nein, gar nicht; ich habe dort zwölf Verwandte verloren. "Babji Jar" bildet für mich mit "Von Hölle zu Hölle" und "Der letzte Zug" eine in sich geschlossene, starke Trilogie.
Weshalb?
Ich konnte viel mehr Geld in die Filme investieren, wir hatten mehr Zeit zum Drehen, und die Filme konzentrieren sich auf wahrhaftige Geschehnisse, die sonst sozusagen ein schwarzes Loch in der Geschichte geblieben wären. "Von Hölle zu Hölle" beinhaltet beispielsweise das Pogrom im polnischen Kielce von 1946, in dem mehr als 40 Juden umgebracht wurden. Davon weiss praktisch niemand in der Welt, aber mit diesem Film ist ein Dokument dazu geschaffen worden. Und wenn Yad Vashem einen Raum für alle meine Holocaust-Filme zur Verfügung stellt, habe ich mein Ziel erreicht, dass sie auch in Zukunft tagtäglich für Menschen – und hauptsächlich Jugendliche – aus aller Welt zu sehen sind.
Wie ist die Reaktion in Deutschland darauf, dass Sie als Jude den Deutschen solche Filme vorsetzen?
Die offiziellen Personenkreise, also etwa aus der Politik, sind natürlich von vornherein respektvoll eingestellt, weil sonst ja niemand Zeit, Geld, Gesundheit und Nerven investieren will, um solche Filme herzustellen. Ich bekomme aber auch positive Briefe von vielen, die die Filme gesehen haben, von anständigen Leuten. Schmähbriefe gibt es ebenfalls, aber nur sehr wenige. In rund 60 Jahren habe ich nicht einmal zehn solcher Schreiben verzeichnen können, dagegen jedoch Tausende an Fanpostbriefen.
Wie stufen Sie – angesichts der noch heute fast alltäglichen Debatten mit einschlägigem Hintergrund – das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zum Holocaust ein?
Für die nachfolgenden Generationen ist es natürlich unangenehm zu wissen, was geschehen ist, dass das grösste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit hier stattgefunden hat. Ich verstehe, dass niemand nachvollziehen kann, wie das geschehen konnte. Niemand kann verstehen, weshalb zwei Gendarmen wie in der Geschichte von "Zum Freiwild verdammt" – nach einer wahren Begebenheit – dazu bereit sind, ein Kind, das von seiner Mutter aus dem Lastwagen gestossen wurde, um es zu retten, zwei Tage lang zu jagen und dann zu erschiessen. Wie kann man so etwas verstehen?
Sie haben diese Zeit selbst erlebt, kennen all diese Geschichten und haben sich dennoch entschieden, in Deutschland zu leben und zu arbeiten …
… und die Filme für die Nachwelt zu produzieren. Das war der Grund. Ich habe jeden Tag daran gedacht: Wenn ich überlebe, muss ich erst einmal die Geschichten, die ich kenne, darstellen. Ich habe gesehen, wie Massengräber ausgehoben wurden, wo Tausende Körper nackt aufgestapelt waren. Den verwesten Körpern nach zu urteilen waren es alte Leute, Frauen, Kinder und Säuglinge. Das alles habe ich nicht vergessen. Man kann es auch nicht vergessen.
In den Jahren 1946/47 allerdings haben Sie sich die Auswanderung nach Amerika überlegt.
Ich habe es mir überlegt. Aber dann habe ich mir gesagt: Ich kann in Amerika diese Filme nicht drehen, die kann man nur hier, von Berlin aus, machen. Der Osten ist in der Nähe, man hat Verbindung zu den betroffenen Ländern mit ihrer jeweiligen Vegetation und ihren Leuten. Deshalb habe ich es auf mich genommen, habe ein paar Unterhaltungsfilme gedreht, um finanziell durchzuhalten, und dann jene Filme gemacht, mit denen ich immer Geld verliere.
Sie sind in Ihrer Karriere oftmals hart ans Limit gegangen, haben viel riskiert. Immer wieder fast alles verloren, danach gewonnen.
Nach dem Krieg gab es hier 119 Filmfirmen. 118 davon sind verschwunden. Die CCC (die Central Cinema Company, Brauners Firma, Anm. d. Red.) ist die einzige, die durchgehalten hat. Aber dahinter steckt Arbeit und Leistung …
… und auch ein Riecher für kommerzielle Themen, beispielsweise die Karl-May-Filme, Filme um Dr. Mabuse, Edgar-Wallace-Filme, Musikfilme mit Caterina Valente, Peter Alexander und auch dramatische Filme mit O. W. Fischer, Curt Jürgens, Maria Schell, Romy Schneider, Lili Palmer und anderen Grössen.
Ja. Diese Erfolge waren wichtig für uns.
Sie konnten immer wieder mit den bekanntesten Schauspielern arbeiten.
Mit allen. Ich habe mit sämtlichen Stars gedreht ausser mit Hildegard Knef, weil sie mit dem grössten Nazi zusammen war, der die schlimmsten Filme produzieren liess und 1946 von den Russen hingerichtet wurde.
Heinz Rühmann, mit dem Sie einige erfolgreiche Filme gemacht haben, hatte auch eine ambivalente Vergangenheit.
Ja, aber er hatte keine aktive Nazivergangenheit. Er war ein schwacher Charakter, und als er vor den Alternativen stand, weiterhin populärster Schauspieler im Nazireich zu sein oder mit seiner jüdischen Frau verheiratet zu bleiben und somit seine Karriere zu beenden, wählte er die erste Möglichkeit. Und wenn einem gesagt wird, dass man ein grosser Schauspieler werden oder weg vom Fenster sein kann, braucht es einen starken Charakter.
Bei Spielbergs "Schindler's List" wird ersichtlich, dass die Ästhetisierung der Bilder einen Konflikt für dieses Thema darstellt. Ein Filmemacher steht ja oft vor diesem Dilemma. Wie haben Sie das zu lösen versucht?
Ich habe Schindler so dargestellt, wie er war. Ein Säufer, ein Frauenheld, aber trotzdem ein grosser Mensch, gerade, weil er ein einfacher Mensch war und weder Geistlicher noch General oder Präsident.
Wie sind Sie auf diese Geschichte gestossen? Sie war ja damals nicht bekannt.
Ich habe einen Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über ihn gelesen, genauso wie über das Thema "Hitlerjunge Salomon". Ich suche immer Themen, auch für die nächsten zwei Filme, die ich vorhabe. Einer davon wird in der Art von Benignis "La vita è bella" sein, eine Satire mit dem Titel "Der Chinese", die im Ghetto von Lodz spielt, zwischen 1939 und 1942, als das Ghetto noch nicht liquidiert worden war.
Eine wahre Geschichte?
Nein, eine erfundene. Aber sie ist so gut, dass alle darauf angesprungen sind. Das Drehbuch wird jetzt in Amerika geschrieben. Auch für den zweiten Film haben wir bereits das fertige Drehbuch, die Besetzung und mit Rolf Schübel den Regisseur.
Sie haben viele Auszeichnungen bekommen, ein Oscar fehlt dabei jedoch.
Wir hätten den Oscar für "Hitlerjunge Salomon" bekommen, wenn die deutsche Oscar-Kommission nicht verhindert hätte, dass die Bewerbung nach Los Angeles geht. Sie haben sich geweigert den Film zu nominieren, obwohl er in Amerika einen Riesenerfolg und die besten Kritiken hatte.
Weshalb?
Eines der Jurymitglieder, das an der Filmfirma beteiligt war, die für die "Blechtrommel" einen Oscar bekam, verhinderte offensichtlich, dass unser Film für den Oscar vorgeschlagen wird. Den weiteren Jurymitgliedern hat es nicht gefallen, dass der Film allzu viele polnische Namen aufweist, um für Deutschland nominiert zu werden.
Der Film "Die Gärten der Finzi-Contini", der den Oscar gewonnen hat, haben Sie mit Arthur Cohn co-produziert.
Ja. Er hat ja einige Oscars gewonnen, und er macht das richtig. Er nimmt keine grossen Stars, keine bekannten Regisseure, die Filme sind billig in der Herstellung und bringen manchmal viel ein. Besonders die Fernsehsender versuchen ja, Filme zu erhalten, die den Oscar gewonnen haben. Für diese Art kann ich ihn nur bewundern.
Mit Ihrem Werk verbinden Sie ja auch ein Engagement. Welches?
Ich bin der einzige, der seit 61 Jahren ununterbrochen Filme produziert. Ich möchte bis zu meinem Lebensende damit weitermachen, denn erstens ist es ein Schaffensprozess, der das Leben stimuliert. Wenn man eine Aufgabe hat und etwas erreichen will, will man ja weiterleben. Und ich empfinde es zweitens stark als meine Aufgabe, noch zwei, drei Filme über die Opfer der Schoah zu machen. Je mehr ich die Toten aus den Gräbern hole – wo immer sie auch verscharrt sind – desto wichtiger wird mein Lebenswerk.
Speziell angesichts von ungefähr 20 Prozent Menschen mit rassistischen und antisemitischen Gefühlen. Spüren Sie davon etwas?
Nein. Effektiv spüre ich es nicht. Aber mittelbar schon, überall.
Können Sie denn diese 20 Prozent mit Filmen beeinflussen?
Man hat mich gefragt, was mein wichtigster Wunsch wäre, worauf ich antwortete, dass dieser erfüllt wäre, wenn 20 Prozent der rechten Gruppe in der Bundesrepublik sich auf zehn Prozent reduzieren würden. Dies wären noch immer über acht Millionen Bürger. Die Filme können dazu beitragen, gerade bei der Jugend. Für den Film "Der letzte Zug" zum Beispiel haben wir alle deutschen Bundesländer angeschrieben, dass sie den Film in den Schulen zeigen sollen. Alle mit Ausnahme von Bayern haben zugesagt. Der Innenminister von Brandenburg hat sogar die Polizeischulen verpflichtet, den Film zu sehen. Der Bundespräsident persönlich hat meine Tochter Alice gebeten, eine Vorführung des Films in seinem Beisein in Schwedt, einem der schlimmsten Nazinester an der Grenze zu Polen, zu organisieren. Der Film wurde dort Schülern gezeigt und anschliessend wurde darüber diskutiert, und es war ein voller Erfolg. Die Kinder sind mitgegangen, haben Fragen zum Schicksal der Kinder im Film gestellt, keine Spur von Nazitum. Sie haben mitgefühlt und mitgelitten. Das ist ein Beweis dafür, dass die Filme eine Wirkung haben. Jugendliche, die den «Hitlerjungen Salomon» gesehen haben, können keine Nazis mehr sein.
Sie haben in Berlin das jüdische Leben mit aufgebaut, sind seit Anbeginn Mitglied der jüdischen Gemeinde. Wie denken Sie über die heutigen Streitigkeiten, rund um Gemeinde und Vorstand in
Berlin?
Ein Vorgang, der für uns in Berlin unverständlich wirkt, denn die Ursachen in Berlin und anderen Gemeinden Europas sind ganz verschieden und dürften nicht ein solches unangenehmes Ausmass erreichen.
Und woran liegt das?
Die Zerrissenheit gab es schon vor 3000 Jahren. Es gibt einfach zu viele Individualisten. Solange es in Berlin den Galinski gab, war es eine vorbildliche Gemeinde. Obwohl er kränklich und physisch schwach war, hat er mit seiner Energie, seiner Persönlichkeit diese Gemeinde als Vorbild für die ganze Welt geführt. Danach gab es leider keine solchen Leitfiguren mehr. Aber das ist nicht nur in Berlin so. Viele der grossen Persönlichkeiten sind gestorben, Ehrlich, Bubis, Spiegel und andere.
Wie, glauben Sie, wird das jüdische Leben in Deutschland weitergehen?
Es sind über 100000 russische Juden neu nach Deutschland gekommen. Ohne sie gäbe es hier ja kein jüdisches Leben mehr. Die russischen Juden sind überall ein gutes Element, und ihre Zuwanderung hilft mit, dass das jüdische Leben in Deutschland eine Zukunft hat.
© tachles Jüdisches Wochenmagazin