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Was träumten die Insassen von Konzentrationslagern?
Eines Tages beschloss Dov Freiberg, der im Konzentrationslager Sobibor eingesperrt war, am nächsten Tag Selbstmord zu begehen. Nach der abendlichen Überprüfung der Insassen, legte er sich auf einer Bodendiele schlafen und hatte einen Traum...
Artikel von Ofri Ilani, Ha’aretz, 01.05.2008
Übersetzung von Daniela Marcus
„Ich träumte, meine Mutter wäre gemeinsam mit dem kleinen Yankale zu Besuch gekommen“, schrieb Freiberg in seinen Memoiren. „Sie sah so schön aus. Genau so wie sie an den Feiertagen vor dem Krieg ausgesehen hatte. Sie trug ein elegantes Kleid und ihr Haar war hochgesteckt, wodurch ihre hohe Stirn betont wurde. In ihren traurigen Augen konnte ich ihre große Liebe für mich lesen. Ich wollte den beiden etwas sagen, doch die Worte kamen nicht aus meinem Mund. Schließlich sagte meine Mutter, dass sie wieder gehen müssten. Ich wollte sie begleiten, doch als ob sie wüsste, was ich sagen wollte, erwiderte meine Mutter, ich müsse bleiben. ‚Es ist gut für dich.’, sagte sie.“
Freiberg, der letzten Monat gestorben ist, schrieb in seinen Memoiren, dass er in Folge des Traums alle Schmerzen und alles Leiden vergaß. Er dachte über den Traum nach und versuchte ihn zu verstehen. „Meine Schlussfolgerung war, dass meine Mutter und Yankale möglicherweise tot waren und meine Mutter mir mitteilen wollte, ihnen durch meinen Selbstmord nicht in den Tod zu folgen. So bewahrte mich der Traum davor, mich selbst umzubringen.“
Yifat Erlich, Studentin an der Hebräischen Universität in Jerusalem, schreibt ihre Magisterarbeit über Träume während der Schoah. Für diese Arbeit, die unter der Leitung von Prof. Yoram Bilu und Dr. Amos Goldberg durchgeführt wird, sammelte Erlich Hunderte von Beschreibungen von Träumen, die Juden während der Schoah hatten und die Erlich in Memorien, Tagebüchern, aufgezeichneten Gesprächen und anderen Dokumenten gefunden hat.
Was also träumten Juden in den Konzentrationslagern und Ghettos? Wie erwartet handelten die meisten Träume von Familienmitgliedern. In vielen Fällen waren diese in den Träumen lebendig obwohl der Träumende wusste, dass sie bereits tot waren.
Viele Gefangene träumten auch von Essen. Aliza Vitis-Shomron, eine Überlebende aus dem Warschauer Ghetto, erzählte Erlich, sie „sah eine Schüssel voller Nudeln mit Butter, lange Würste und eine Menge Brot. Der Traum handelte nur vom Essen obwohl ich gerade mein Abendessen beendet hatte: eine dünne Scheibe Brot und etwas Kaffeewasser.“
In ihrer Arbeit schreibt Erlich, dass viele der Träume, über die sie gelesen hat, erst Jahre, nachdem sie geträumt worden waren, niedergeschrieben wurden, manche von ihnen sogar erst Jahrzehnte später, weshalb ihre „Authentizität“ in Frage gestellt ist. „Wenn Menschen über einen Traum schreiben, den sie vor 60 Jahren geträumt haben, bleibt die Geschichte des Traums übrig. Der Traum selbst ist bereits vergangen. Ich habe nachgeforscht, welchen Platz die Geschichten dieser Träume im Leben der Träumenden haben.“
Gemäß Erlich kann in der schrecklichen Realität der Ghettos und Lager die Trennungslinie zwischen dem realen Leben eines Menschen und seiner Alpträume verwischt werden. „Menschen, die dem Sonderkommando angehörten (das waren Gefangene, die die Leichen aus den Gaskammern holen und sie verbrennen mussten), sagten, es sei wie ein Alptraum gewesen, als sich die Türen der Gaskammern zum ersten Mal öffneten“, sagte Erlich. „Viele der Gefangenen sagten, sie wussten nicht, ob sie am Leben oder tot seien, wenn sie aus ihren Alpträumen erwachten. Die Trennungslinie zwischen Leben und Tod wird auch verwischt.“
Erlich fand viele Träume, in denen ein Familienangehöriger dem Träumenden erzählte, dass seine Rettung nahe sei und dass er den Krieg überleben werde. Viele dieser Menschen führte solch ein Traum dazu, zu fliehen oder sich zu verstecken, sagt Erlich. Doch in manchen Fällen führte der Traum nicht zur Rettung sondern zum Tod. Der Autor Viktor Frankl schrieb in seinem Buch „Man’s Search for Meaning“ (Die Suche des Menschen nach der Bedeutung) über einen Gefangenen in Auschwitz, der träumte, das Todeslager werde am 30. März 1944 befreit werden. Am 29. März hörte der Mann, dass das Lager weit davon entfernt sei, befreit zu werden. Und er wurde krank. „Am 30. März fiel er ins Delirium“, schrieb Frankl. „Am nächsten Tag starb er.“
Posted 05/01/08 by:
admin
Comments
wo der Traum zum Tode fuehrte: die im Artikel vertretene Sichtweise ist ein bisschen kurzsichtig. Vielmehr muss man sich die Frage stellen, ob der Traeumende nicht gerade durch diesen Traum bis zum 30. Maerz ueberlebt hat und er nicht ohne diesen Traum frueher gestorben waere.
Es wäre an dieser Stelle auch interessant zu erfahren, ob die Gefangenen (nicht nur Juden, sondern auch alle anderen Inhaftierten Personen) ähnliche Träume hatten. Weiterer Aspekt dieser obengenannten Sichtweise wäre auch die Frage nach den Inhalten der Träume eben dieser Personen.
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