Der Geschäftsführer der Denkfabrik Institute for Jewish Policy Research, Antony Lerman, spricht im tachles-Interview über die Situation der Juden in Europa und zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, Europa künftig so zu gestalten, dass verschiedene Gruppen auf dem Kontinent friedlich zusammenleben können...
Interview: Yves Kugelmann, tachles vom 30.03.2007
tachles: Die Diskussionskultur innerhalb der jüdischen Welt entfremdet sich immer mehr von ihrer Tradition. Diskussionen über jüdische Dossiers, Israel und andere Themen sind kaum mehr möglich. Votanten werden gerade von jüdischen Organisationen und Funktionären regelrecht ruhiggestellt. Woran liegt das?
Antony Lerman: Obwohl das jüdische Leben in mancher Hinsicht blüht, lauert in den jüdischen Gemeinden viel Unsicherheit und Angst. Einerseits ist dies auf das Ende der bipolaren Welt zurückzuführen – unsere Erde ist ein gefährlicherer Ort geworden, weil heute schurkische Akteure auf internationale Angelegenheiten einen Einfluss zu nehmen imstande sind, der während des Kalten Krieges noch unmöglich gewesen wäre. Anderseits liegt es wohl im Gefühl begründet, dass die Trends, welche auf die jüdische Welt einwirken oder sich innerhalb von ihr abspielen, nicht zu unseren Gunsten verlaufen. Ob gerechtfertigt oder nicht: Die Angst vor Antisemitismus, die tiefe Sorge um Israels Zukunft, die inneren religiösen Spaltungen und die wachsende Polarisierung zu Anliegen, welche die Menschen als grundlegend existenziell betrachten – all diese Entwicklungen veranlassen die Gemeinden, sich auf sich selbst zurückzuziehen, defensiver zu werden und nicht bereit zu sein, sich den harten Herausforderungen zu stellen, die vor uns stehen.
Gerade das Thema Israel hat dazu geführt, dass jüdische Organisationen in der Diaspora offene Debatten nicht mehr zulassen möchten. In einem Papier deklariert das Amerikanisch-Jüdische Komitee (AJC) Intellektuelle wie Tony Kushner oder Tony Judt zu Antizionisten. Leben wir in derart schlimmen Zeiten, dass Diskussionen nicht mehr geführt werden können?
Israel ist zweifelsohne zu jenem Thema geworden, welches unter den Juden am meisten Uneinigkeit schafft. Auch innerhalb des Landes selbst kommen ja alle möglichen Haltungen zum Ausdruck, was zwar unangenehm werden kann, aber doch lebhaft und offen geschieht. Ausserhalb Israels können Juden immer noch mehr oder weniger aussprechen, was sie wollen. Aber wer starke Kritik an Israel übt, sieht sich zunehmend der Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, der Dämonisierung beschuldigt und beispielsweise als «selbsthassender Jude» bezeichnet zu werden. Dies hält die Leute wohl nicht vom Reden ab, aber es macht eine rationale, engagierte Debatte sehr schwierig. So finden Diskussionen zwar statt, aber hauptsächlich innerhalb von Gruppen, die sich zu gewissen Positionen und Ansichten mehrheitlich einig sind. Es gibt nur noch sehr selten einen ernsthaften Dialog zwischen Leuten, welche grundlegend abweichende Meinungen haben.
Diese Situation verschlechtert sich zusehends, und das vom AJC veröffentlichte und von Alvin Rosenfeld verfasste Papier, welches es nur um Haaresbreite verfehlt, harte Kritiker Israels als «antisemitische Juden» zu bezeichnen, macht die Dinge nur noch schlimmer.
Seit Israels Gründung sieht sich der junge Staat Bedrohungen ausgesetzt, die sich mit dem Palästinenserkonflikt noch verschärft haben. Ist mit Mahmoud Ahmadinejads nuklearer Drohung ein Paradigmawechsel entstanden, auf den jüdische Organisationen reagieren, oder handelt es sich dabei um jüdische Überreaktionen?
Es wäre unverantwortlich, die Aussagen des iranischen Präsidenten nicht ernst zu nehmen. Das heisst aber nicht automatisch, dass man alles glauben muss, was er androht. Er stellt ganz klar eine Gefahr dar, aber es besteht jeder Grund, diese durch Diplomatie zu begrenzen zu versuchen. Wir konnten doch bereits beobachten, wie ihm von iranischer Seite selbst die Flügel gestutzt wurden, und wer dieses Land gut kennt, empfindet sehr stark, dass das iranische Volk seine extremen Ansichten nicht teilt. Extreme Reaktionen ihm gegenüber könnten hingegen letztlich darauf hinauslaufen, ihn populärer zu machen. Unseligerweise bestärken einige jüdische und israelische Reaktionen das in der jüdischen Welt bereits zu stark vorhandene Gefühl der Opferrolle. Für viele Juden scheint die Welt mehr Sinn zu machen, wenn die Feinde klar identifizierbar sind – und hier haben wir natürlich einen klar identifizierbaren Feind. Die Kriegstrommeln werden täglich lauter gerührt, oder zumindest scheint es so zu sein. Das kann für niemanden gut sein. Wenn jüdische Organisationen sich dem Ruf nach militärischem Eingreifen anschliessen, erweisen sie dem jüdischen Volk einen Bärendienst.
Sie selbst wurden in den vergangenen Wochen massiv attackiert, weil Sie sich vor einigen Jahren sehr argumentativ mit der Einstaatenlösung in Nahost auseinandergesetzt haben. Viele setzen Einstaatenlösung mit der Aufgabe Israels beziehungsweise des jüdischen Status gleich. Wie reagieren Sie darauf, dass solche Debatten innerhalb der jüdischen Welt nicht mehr geführt werden können?
Wir scheinen viel von der legendären jüdischen Fähigkeit des Argumentierens und gleichzeitigen aufmerksamen Zuhörens, was das Gegenüber präzise sagt, verloren zu haben, ebenso wie jene des Anwendens der Interpretationskraft, um vollständig zu verstehen, was in einem geschriebenen Text steht. Das bedeutet, dass Diskussionen um verschiedene Szenarien der Zukunft Israels unweigerlich in Bissigkeiten und im Austausch von extremen Beschuldigungen enden. Israel wird nicht im Stich gelassen, nur weil eine Handvoll Juden die Frage aufwirft, ob ein eventueller gemeinsamer israelisch-palästinensischer Staat das beste Mittel sein könnte, jedermanns Rechte und nationale Identität im gesamten Palästina-Mandat sicherzustellen. Tatsache ist, dass der Zionismus die Frage der Zukunft des jüdischen Volkes nicht ein für allemal schlüssig beantwortet hat – sie ist eine Sache, die immer noch zur Diskussion steht. Innerhalb Israels ist es die Frage, was für ein Staat Israel werden wird. Ausserhalb Israels ist es die Frage , wie wir ein autonomes Leben als Juden führen. Und wir brauchen, um mit Professor Jonathan Webbers Worten zu sprechen, eine «Diskurs-Kultur», die mit diesen Fragen umgehen kann.
Das Institute for Jewish Policy Research (JPR) setzt sich seit seiner Gründung im Jahre 1996 mit Fragen rund um Zionismus, Judentum in Europa und Antisemitismus auseinander. Historisch betrachtet leben Jüdinnen und Juden heute ja in sicheren Zeiten. Staaten und Behörden reagieren immer öfter auf antisemitische Vorfälle. Wie erklären Sie sich, dass gerade in den letzten Jahren von jüdischer Seite auch angesichts der Islam-Debatte vermehrt Nervosität ausbricht?
Europas Charakter hat sich in den letzten 60 Jahren stark gewandelt, und dieser Wandel hat sich in den letzten 20, 30 Jahren als Resultat der Migration noch beschleunigt. Dies hat die Position der Juden als Minorität verändert. Sie waren nicht länger die wichtigsten «anderen». Es kann nicht überraschen, dass Neuankömmlinge in Europa nicht alle Ansichten der eingeborenen Europäer teilen. In einiger Hinsicht war das eine gute Sache, in anderer Hinsicht weniger. Aber als Überraschung konnte es wohl kaum kommen. So will die grosse Mehrheit der Muslime in Europa ein sicheres, gesundes und erfolgreiches Leben in einer Gesellschaft führen, in welcher ihre Kinder gut aufwachsen können, und nur eine kleine Minderheit verfolgt extremistische Ziele, welche teilweise durch Judenfeindlichkeit genährt werden. Während dieser Feindlichkeit mit Gesetz, Erziehung und andere Massnahmen begegnet werden muss, müssen wir die Proportionen wahren. Dies fällt den Juden aufgrund der bereits erwähnten Unsicherheit und Angst heute sehr schwer. Aber wie Europa mit seinen muslimischen Minderheiten zu leben lernt und wie es ihnen das Gefühl vermitteln wird, ein vollwertiger Bestandteil Europas zu sein, ist eine der grössten Herausforderungen, vor der wir alle stehen. Wir müssen es jedoch als eine positive Herausforderung sehen, nicht als eine negative. Und als Juden müssen wir eine Rolle in der Beantwortung dieser Fragen spielen, und zwar sowohl für Europa als Ganzes wie auch für die jüdischen Gemeinden.
Gerade in Grossbritannien und erst recht seit den Anschlägen von London ist die Frage der Integration von Muslimen evident. Wie soll sich Europa diesem Themenkomplex stellen?
Gefragt sind hier kühle Köpfe und nicht reflexartige Reaktionen. Wir haben es wie gesagt mit einem komplexen Problem zu tun, das nicht mit einfachen, schlagwortartigen Antworten gelöst werden kann. Im Wesentlichen müssen wir aufnahmebereite Gesellschaften haben, in denen Diskriminierungen und Vorurteilen kein Platz eingeräumt wird. Aber genauso benötigen wir gemeinsame Werte, hinter denen wir alle stehen können und die letztlich unsere partikulären Werte überwiegen. Europa wird auf der Basis des kulturellen Relativismus nicht funktionieren – darum geht es beim Multikulturalismus jedoch gar nicht. Die Unterschiede müssen gepflegt werden, aber die gemeinsamen Werte müssen darüber stehen. Die Übereinkunft mit den Muslimen muss Gesellschaften hervorbringen, welche institutionalisierte Benachteiligung ächten und eine positive, auf einem gemeinsamen Zugehörigkeitssinn basierende, Zukunft bieten.
Das JPR widmet sich derzeit Projekten, die die Res publica fördern. Weshalb und mit welchem Ziel?
Wir brauchen einen gemeinsamen Raum, wo alle zusammenkommen können, die sich – mit ihren unterschiedlichen Identitäten, politischen Ansichten, Erfahrungen und Religionen – für das gemeinsame Wohl einsetzen und eine gemeinsame Vision für eine pluralistische, demokratische Zukunft entwickeln möchten. Das ist die Res publica, von der nicht nur die Juden, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft, ob Mehrheiten oder Minderheiten, profitieren können.
Sie sind seit zwei Jahren Präsident des JPR. Was möchten Sie für die Zukunft für Schwerpunkte bei Ihrer Arbeit setzen?
Eigentlich bin ich erst seit einem Jahr Geschäftsführer – nicht Präsident – des JPR, auch wenn es sich wie zwei Jahre anfühlt. Unser Leitbild fasst es kurz und bündig: Wir entwickeln Grundsatzideen für ein umfassendes Europa, in dem Unterschiedlichkeit gepflegt wird, gemeinsame Werte überwiegen und alle gut leben können. Der Schlüssel für die Zukunft von Europas Juden liegt darin, zum Aufbau eines von Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie freien Europas beizutragen und sich an der Debatte darüber zu beteiligen, was für eine Gesellschaft wir für uns selbst, aber insbesondere auch für unsere Kinder haben wollen. Wenn es uns nicht gelingt, die äusseren Umstände des jüdischen Lebens gut zu gestalten, werden wir ungeachtet dessen, was wir intern tun, weiterhin vor Problemen stehen. Dies bedingt die Konzentration auf den Aufbau der zivilen Gesellschaft; die Suche nach einem Weg, der verschiedene Gruppen in unseren Ländern vereint; die Anwendung von Werten des Menschenrechts als Entscheidungsmittel, wenn die Praktiken und Ansprüche individueller Gruppen sich dem gemeinsamen Wohl unterziehen müssen. Es ist ein ehrgeiziges Programm, und wir leben in Zeiten der Prüfung. Aber es gibt auch Grund für Optimismus – und für den Glauben, dass eine Ideenschmiede wie das JPR etwas erreichen kann.
http://www.tachles.ch