Um die österreichische Reaktion auf die Geschehnisse in Ungarn im Spätherbst des Jahres 1956 beurteilen zu können, muss man den historischen Hintergrund kennen. Nur etwas mehr als 11 Jahre vor der Revolution, 1945 hatten einige gläubige Nazi noch zwei Wochen nach der Befreiung in der Steiermark jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn gemordet...
Von Karl Pfeifer
Die Flüchtlinge, die nach der Befreiung nach Österreich strömten wurden – auch wenn sie deutschsprachig waren – in der Regel nicht freundlich aufgenommen, insbesondere nicht die jüdischen Flüchtlinge, Österreich zwischen 1945 und 1955 war ein zutiefst provinzielles Land.
Der Staatsvertrag ließ auf einen Wirtschaftsaufschwung hoffen und man identifizierte sich gerne mit den aufständischen Ungarn. Viele Österreicher hatten auch das Gefühl, dass doch "die Ungarn" "unsere treuesten Verbündeten" waren.
Aber es gab auch sehr viel spontane Hilfsbereitschaft und das tiefe Bedürfnis eine neue Seite der österreichischen Geschichte aufzuschlagen, zu zeigen, dass dieses Land auch anders sein kann. Die Herzen, die Brieftaschen und oft auch die Wohnungstüren öffneten sich vor den Flüchtlingen aus Ungarn.
Marta S. Halpert beschreibt das Schicksal von Ungarn, die nach 1956 in der Heimat geblieben sind und auch das derjenigen, die geflüchtet sind. Beide Gruppen haben in der Regel nicht bereut so entschieden zu haben. Sehr verschiedene Lebenswege werden geschildert und auch die österreichische Hilfe kommt nicht zu kurz.
Die Autorin sprach mit Prominenten, so mit dem Schriftsteller György Konrád, der in Ungarn geblieben ist und mit Erhard Busek, der mit einem Dienstpass versehen, sogar eine Druckmaschine nach Ungarn brachte, um die demokratische Opposition zu der auch Konrád gehörte zu unterstützen.
Auch die Geschichte der Polgárs mit den drei Frauen, die das Schachspiel revolutionierten ist spannend.
Halpert schildert auch die Geschichte des nach 1956 inhaftierten Árpád Göncz, der bereits 1944 Zivilcourage zeigte, als er aus seiner Militäreinheit flüchtete, weil diese nach Deutschland verlegt wurde. 1957 wurde der spätere Staatspräsident Ungarns verhaftet und kam erst 1963 frei. Er gehörte jener Minderheit von Intellektuellen an, die sich nicht an das Kádárregime anpassten. Seine Tochter Kinga Göncz ist Aussenministerin der Republik Ungarn.
Das Schicksal von Judith Gyenes, die Witwe des nach Niederschlagung der Revolution hingerichteten Offiziers Pál Maléter, ist besonders erschütternd. Das Kádár-Regime verfolgte sogar die Witwe noch bis Anfang der achtziger Jahre.
Ein anderer Gesprächspartner ist der Schriftsteller György Dalos, der selbst einen Bestseller über die Revolution "1956. Der Aufstand in Ungarn" veröffentlicht hat. 1956 war er dreizehn Jahre alt. Sein Geschichtslehrer hielt 1957 pathetische Reden über die Revolution und wurde verhaftet. Die Klasse beschloss ihn zu besuchen und Dalos wurde von seiner Großmutter bestärkt, die meinte "geh’ hin, er ist ein guter Mensch", doch zum vereinbarten Treffpunkt kam nur Dalos, der es auf sich nahm seinen Lehrer im Internierungslager zu besuchen. Der 30-jährige Lehrer, der nach seiner einjährigen Haft nie mehr unterrichten durfte und zum Techniker umgeschult wurde, besuchte gleich nach seiner Freilassung die Familie Dalos und plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: "Wissen Sie, gnädige Frau, ich war ganz bestürzt darüber, dass mich ausgerechnet ihr Enkel besucht hat. Sie sind doch Juden und ich bin antisemitisch erzogen worden. Ich bitte Sie um Entschuldigung!"
Dalos wurde Ende der sechziger Jahre wegen oppositioneller Tätigkeiten zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, er wurde unter Polizeiaufsicht gestellt und durfte zwischen neun Uhr abends und fünf Uhr morgens seine Wohnung nicht verlassen. Er wurde dann wegen eines schriftlichen Protests verhaftet und in das gleiche Lager gebracht, wo er seinen Lehrer besuchte. Dort traf er Miklós Haraszti, der wenn er von Polizisten nach dem Geburtsort befragt wurde wahrheitsgemäß "Jerusalem" antwortete und sich gelegentlich eine Ohrfeige einhandelte, weil der Polizist glaubte, er werde gefrotzelt.[K.P.] Haraszti wurde Journalist und Schriftsteller und überwacht die Medienfreiheit in den Staaten der OSCE. Dalos lebt seit einigen Jahren in Berlin.
Die Geschichte der Geschwister Vecsei handelt von der sehr erfolgreichen Eingliederung einer Flüchtlingsfamilie in Wien.
Marta Halpert hat dem Buch eine nützliche Zeittafel und Bibliographie beigefügt. Das 166 Seiten umfassende Buch ist gut geschrieben und gibt einen interessanten Einblick in sehr verschiedene Lebensgeschichten.
Martha S. Halpert: Gegangen und geblieben - Ungarn 1956, Molden Verlag 2006, Euro 19,90
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