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Leben! Juden in Wien nach 1945

Margit Dobronyi kam 1913 in Budapest zur Welt. 1956 floh sie wie viele ihrer Landsleute mit ihrer Familie von Ungarn nach Wien. Aus dem folgenden Jahr stammen die ersten Fotografien, auf denen sie Hochzeiten, Bar Mizwas und andere Feste festhielt. Auf den Bildern sieht man Menschen, von denen die meisten ebenso wie sie nach 1945 aus Osteuropa in diese „Stadt ohne Juden“ geflohen waren und sich hier eine neue Existenz aufgebaut hatten...

Unter dem Titel „Leben! Juden in Wien nach 1945“ zeigt das Jüdische Museum Wien von 19. März bis 22. Juni 2008 mehr als 3500 Fotografien von Margit Dobronyi, die Ruth Beckermann ausgewählt und als Ausstellungsinstallation inszeniert hat. Basis für die Ausstellung ist das mehr als 150.000 Fotos umfassende Archiv der heute 95-jährigen Fotografin Margit Dobronyi, das 2004 vom Jüdischen Museum Wien angekauft wurde. Im Februar 2007 stellte Ruth Beckermann ein Team zusammen, welches mit der systematischen Dokumentation der Fotos für die Ausstellung begann, die nun als „work in progresss“ gezeigt wird. Ruth Beckermann legt in der Ausstellung „Leben!“ den Schwerpunkt auf die Fülle des Materials. 3500 Fotos bilden eine Installation, welche durch Filmausschnitte animiert und durch Video-Erzählungen verdichtet wird.

Von den mehr als 180.000 Wiener Juden, die vor 1938 in dieser Stadt lebten, waren 1945 etwa 2000 übrig geblieben. Niemand erwartete, dass sich hier wieder eine jüdische Gemeinde entfalten könnte. Doch ausgerechnet Wien entwickelte sich in der Zeit des Kalten Kriegs und Wiederaufbaus zu einer kleinen, aber lebendigen Drehscheibe jüdischen Lebens in Europa. Zuerst kamen die Überlebenden aus den DP-Camps, dann die Flüchtlinge aus den kommunistischen Nachbarstaaten. Viele zogen weiter nach Israel oder in die USA, aber einige schoben die Abreise immer wieder auf, gründeten Familien und Firmen und belebten die klein gewordene Gemeinde neu und ganz anders.

Margit Dobronyi war bei den meisten Festen der jüdischen Gesellschaft anwesend. Bei Bar Mizwas, Bällen, Hochzeiten und offiziellen Veranstaltungen erschien die kleine Frau mit dem großen Blitzlicht und fotografierte, ob sie nun einen Auftrag hatte oder nicht: fröhliche Menschen, ausgelassene Feste, bunte Farben, modernes Leben in einer grauen Stadt. Die Bilder erzählen von dem Bedürfnis, das versäumte Leben nachzuholen; von dem Willen, trotz allem zu singen und zu tanzen. Fünfzig Jahre später sind sie kulturgeschichtliche Dokumente der zaghaften Etablierung einer jüdischen Gemeinde und des wirtschaftlichen Aufstiegs einer erfolgreichen Migrantengruppe, die ab den 80er Jahren von einer neuen Immigration aus Georgien und dem Kaukasus verstärkt wird. Die Frau mit der Kamera wurde Zeugin, wie in den folgenden vierzig Jahren ein buntes jüdisches Leben im kleinem Maßstab mit großer Energie wieder in Wien auflebte.

Leben! Juden in Wien nach 1945 vereint tausende Bilder, die - meist in Farbe - fröhliche Menschen zeigen und von einer überschwänglichen Lebendigkeit einer neuen jüdischen Gemeinde im Nachkriegswien. Sie reflektieren aber auch das Lebensgefühl in der Wiener jüdischen Gemeinde der 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Die von Ruth Beckermann gemeinsam mit Sergio Ramirez gestaltete Installation ist eine „work in progress“, denn die wissenschaftliche Aufarbeitung und Dokumentation im Jüdischen Museum geht weiter. Die Filmemacherin Beckermann wuchs inmitten der Gemeinde und natürlich ebenfalls unter dem wachsamen Kameraauge der Margit Dobronyi auf. Beckermann entwarf das Konzept der Ausstellung, wählte die Fotos aus und dokumentierte sie mit ihrem Team (Milli Segal, Yvonne Feiger, Daphna Frucht, Stefan Lerch), wobei sie auf die Vorarbeiten von Pnina Schreiber, die das Dobronyi-Archiv im Jüdischen Museum leitet, aufbauen konnte. Im Museum selbst wird das Projekt von Hauskurator und Archivleiter Werner Hanak-Lettner kuratorisch betreut.

„Leben! Juden in Wien nach 1945“ ist von 19. März – 22. Juni 2008 im Jüdischen Museum (1010 Wien, Dorotheergasse 11) zu sehen. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit 320 Seiten und mehr als 250 großteils farbigen Fotografien im Mandelbaum Verlag (Preis von € 24,90). Das zu den Kulturbetrieben der Wien Holding zählende Jüdische Museum ist von Sonntag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt € 6,50 / € 4,- ermäßigt. Schulklassen haben freien Eintritt, Führungen und pädagogische Programme: Tel.: +43-1-535 04 31-311, 312 bzw. kids.school@jmw.at. Weitere Informationen zum umfangreichen Begleitprogramm sind unter www.jmw.at zu finden.

Ruth Beckermann zum Ausstellungsprojekt

„Wir haben die Ausstellung „Leben!“ genannt. Das mag manchen an die Zeitschrift „Life“ erinnern, deren Titel einerseits suggerierte, dass man hier Bilder vom Leben finde, doch eigentlich versprach, dass diese Bilder das Leben sind. In gewissem Sinn ersetzen Fotos das Leben; radikaler als jedes andere Medium greift die Fotografie einen Moment „mitten aus dem Leben“ und friert ihn lange über den Tod des Abgebildeten hinaus ein. Jeder hat die Erfahrung gemacht, dass sie sich an Stelle der Erinnerung setzen und nur ganz selten die Erinnerung auf die Spur bringen. Um die Menschen auf den Bildern zu identifizieren, zeigten wir sie vielen Wiener Juden. Alle waren gierig, ein Bild nach dem anderen zu sehen. „Ohs“ und „Ahs“ begleiteten die Sichtung. Ungeduldig wurden uns Namen hingeworfen, bevor es weiter ging. Unser Anliegen, Erinnerungen dazu zu hören, wurde ignoriert. Kamen wir dagegen ohne Bilder und verlangten nach Geschichten, wurde bereitwillig erzählt.

Viele Ausstellungen lassen sich mit diesem Material gestalten. Man könnte es nach Familien ordnen, nach Schauplätzen, nach Anlässen, man kann es als Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Mode und der Interieurs sehen. Ich entschied mich dafür, die Fotos allein nach dem subjektiven Kriterium auszuwählen, ob etwas von einem Foto auf mich überspringt und mein Herz zum Klopfen bringt – die Art, wie zwei Herren ihre Zigaretten halten, die „Zigeunerkapellen“, welche den Gästen ins Ohr fiedeln, das Täschchen, das zwischen zwei Damen mit Hut auf einem runden Tisch im Zentrum der Bildkomposition steht. Die Moden! Die Farben! Orgien von glänzenden Taften und Seiden in grellen Farben, gefolgt von einer Epoche der Mousseline in Pastelltönen; gemusterte Stoffe vor barockisierenden oder popartigen Stofftapeten. Oft sind es die Gesichter, die augenblicklich eine ganze Sequenz von Einstellungen auslösen. Manche Frauengesichter stellen sich in eine geistige Montage mit anderswo gesehenen Fotos italienischer und afrikanischer Frauen, welche sowohl die wichtigen familiären Entscheidungen treffen, als den sozialen Aufstieg planen und durchziehen, indem sie ihre bequemen Gatten ins Theater und zu Empfängen schleppen.

Erst als ich die Fülle der Bilder durchgesehen hatte, wurde mir klar, dass das eigentliche Thema dieser Ausstellung das „Leben“ selbst ist. Die Verfolgung überleben und danach weiter leben. Leben als radikaler Gegensatz zum Tod. Darum ging es.

Leben! Das heißt auch, Raum einnehmen. Hinausgehen aus dem Privatbereich, hinaus aus den geschützten Gesellschaftsräumen und hinein in das Gewebe der Stadt. Denn erst, wenn sich diese inzwischen integrierte Community selbst in den Spiegel schauen und über ihre Anfänge reden und lachen kann und sich schließlich auch den anderen so zeigt, wie Margit Dobronyi sie fotografierte, ist sie wirklich in Wien angekommen.”

Ruth Beckermann ist in Wien geboren, wo sie auch ihre Kindheit verbrachte. Nach dem Studium der Publizistik und Kunstgeschichte und Studienaufenthalten in Tel-Aviv und New York promovierte sie 1977 an der Universität Wien zum Dr. phil. Während des Studiums arbeitete sie als Redakteurin für die Zeitschriften trend und die Weltwoche. 1978 gründete sie mit Josef Aichholzer und Franz Grafl, mit denen sie den Kompilationsfilm "Arena Besetzt" realisiert hatte, den Filmverleih filmladen, wo sie sieben Jahre tätig war. In dieser Zeit entstanden ihre ersten Filme und Bücher. Seit 1985 arbeitet Ruth Beckermann als freie Autorin und Filmschaffende. Sie lebt in Wien.

Filme u.a.: „Die papierene Brücke“, „Zorros Bar Mizwa“
Bücher u.a.: „Die Mazzesinsel“, „Unzugehörig. Juden und Österreicher nach 1945“

Weitere Infos unter: www.ruthbeckermann.com

Fotografierte Zeitgenossen über Margit Dobronyi

„Damals war man natürlich froh, dass es einen jüdischen Fotografen gegeben hat, weil da konnte man tanzen und singen, ohne sich von jemandem beobachtet zu fühlen, der nicht dazu gehört.“
Jonas Zahler

„Die Dobronyi ist ein Faktotum. Sie ist ein Wiener Original. Ich seh’ sie vor mir, wie sie Samstag beim Café Europe am Graben herum geht, mit ihrer Tasche, die relativ groß war, und schaut, ob jemand da ist und wenn sie jemanden erblickt hat, ist sie sofort hinein gegangen und hat diese riesige Tasche aufgemacht und da waren zehn, fünfzehn blaue Kuverts: „Ich hab’ ein paar Fotos für Sie!“ So hat sie ihre Fotos an den Mann gebracht.“
Leon Krawetz

„Man hat sie nicht engagieren brauchen. Sie hat immer gewusst, wann alle Veranstaltungen waren. Sie war da! Immer!“
Sylvia Segenreich

„Obwohl meine Ehe nicht gehalten hat, schaue ich mir das Hochzeitsalbum noch immer gerne an, weil sie in den Fotos die Stimmung sehr gut herübergebracht hat und ich mich noch heute an die Szenen erinnere, die sie fotografiert hat. Sie war wirklich professionell und ich habe sie immer sehr geschätzt, weil sie eine Powerfrau war.“
Gitta Junger

„Die Frau Dobronyi ist und war ein Unikum. Ihr Standardsatz: „Nur eine Foto. Nur eine Foto.“ war uns von kleinster Kindheit an bekannt. Meine Eltern sind leider nicht mehr am Leben und ich bin der Erbe und Verwalter zahlreicher Fotoalben. Hätte es die Frau Dobronyi nicht gegeben, gäbe es heute keine Zeitzeugen mehr einer Ära, die eine sehr gute Ära war, von 1957 bis heute de facto. Und alle diese Fotos verdanken wir eigentlich nur der Zähigkeit und Beständigkeit der Frau Dobronyi, die jedem nachgelaufen ist. Ich habe ein großes Gefühl der Dankbarkeit, dass sie uns diese Erinnerungen eigentlich gegen unseren Willen aufgedrängt hat. Oft haben wir gelästert und gestänkert, aber hätte es sie nicht gegeben, hätten wir heute diese Dokumente nicht. Die Ereignisse liegen vierzig Jahre und mehr zurück und sind schon zeitgeschichtliche Dokumente und nicht mehr nur Familienfotos.“
Heinrich Frankl

Category: Allgemein
Posted 03/18/08 by: admin

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