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Die neue Gefahr in Osteuropa

Ungarns militante "Garde" steht für eine völkische Bewegung, die breite gesellschaftliche Unterstützung erfährt...

Von Magdalena Marsovszky
Süddeutsche Zeitung v. 27. August 2007


Die Gründung der "Ungarischen Garde" in Budapest ist keine Einzelerscheinung in den neuen EU-Ländern. Auch anderswo in Osteuropa entstehen ständig neue Wehr- und Skinhead-Gruppen. Diese als neofaschistische Randgruppen abzutun, mit denen man schon irgendwie umgehen könne, wäre ein großer Fehler. Denn als Mobilisierungsfaktor gibt es im Hintergrund einen breiten gesellschaftlichen Konsens und meistens auch eine bürgerliche Partei mit einem charismatischen, wortgewandten Anführer an der Spitze, der sich vom rechten Rand sogar abgrenzt. Dieser ist eher national und sozialistisch eingestellt. Er ist gegen den Hedonismus und die Dekadenz der westeuropäischen Kultur und will als Anhänger einer neuen Idee die Menschen aufwecken. Er ist gegen all diejenigen, die "gegen das Volk" sind und misstraut den eigenen demokratischen Institutionen. Dieser Anführer warnt vor der eigenen Regierung oder vor der politischen Elite, denen er vorwirft, den Untergang der Nation zu befördern. Er dagegen verherrlicht das Volk - als authentisch, rein und homogen.

Es ist eine in den Transformationsgesellschaften verbreitete Tradition, die in akademischen Debatten inzwischen sogar als "völkisch" bezeichnet wird, die ein solches Denken und solche Führer hervorbringt. Höchste Vorsicht ist geboten. Denn dieses Denken kann eine Gewaltspirale in Gang setzen. Die Vordenker dieser Bewegungen sehen sich sogar in einer Art "göttlichen Mission" unterwegs, was sie noch gefährlicher macht.

Wie kam es dazu? Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurden die postkommunistischen Gesellschaften überfallartig mit dem Phänomen konfrontiert, das man Globalisierung nennt. Westeuropäische Kapitalgesellschaften drangen in den osteuropäischen Markt ein und trugen zum Entstehen eines wilden Kapitalismus bei. Dem konnte der heimische und unterentwickelte Interessenschutz keinen Widerstand leisten. Im Realsozialismus waren die Gewerkschaften der verlängerte Arm des Einparteienstaates und haben selbst heute noch ein Image, das an ihrer Existenzberechtigung kratzt. Zur gleichen Zeit wurden auch die Vorbereitungen zur EU-Integration vorangetrieben. Diese wurden jedoch von den Bürgern weniger als ein Verhandlungsprozess, als vielmehr ein zu erfüllendes Soll mit heftigen sozialen Einschnitten erlebt. Wofür das alles gut sein sollte, verstand niemand, das Wort "Demokratie" fiel dabei selten. Es ist daher kein Wunder, dass viele die Globalisierung als Einmarsch oder Belagerung und die Integration als Diktat, Kolonisierung oder im besten Fall als einfachen Wechsel von der "Ost-EU" (Sowjetunion) in die "West-EU" (Europäische Union) erlebten.

Viele Menschen sehen sich nun in der Rolle des Opfers. Dadurch fühlen sich selbst Mehrheiten als Minderheiten und als Heimatvertriebene im eigenen Land. Sie haben den Eindruck, es mit übermächtigen Gegnern zu tun zu haben. Durch das Gefühl der "peripheren Lage" wächst ihre Angst, nur sehr begrenzt auf die EU Einfluss nehmen zu können.

Die Besinnung auf die eigene Nation ist nichts anderes als eine gesellschaftliche Schutzreaktion, die bei Identitätskrisen auftritt. Sie könnte man "Selbstethnisierung" nennen, weil in ihr das eigene Volkstum beschworen und die Kulturüberlegenheit über andere Völker betont wird. Sie ist die Vorstufe zur Biologisierung der Nation als "Volkskörper", in dem das Volkstum bald als Rasse verstanden wird. Im heutigen Rassismus spricht man zwar nicht mehr von "Rassen", sondern von der eigenen (höheren, besseren) "kulturellen" oder "nationalen Identität" als Abgrenzung zum "kulturell Anderen", aber trotz dieser neuen Begriffe sind alte Phänomene damit gemeint.

Sucht man nach dem reinen, "völkischen" Kern, wird jeder als fremd empfundene Einfluss als "Verunreinigung" betrachtet. Die Vorstellung der ethnisch definierten, völkischen Kulturnation, als welche sich die neuen EU-Länder zum großen Teil definieren, verlangt also nach Feindbildern. Das Leitmodell dabei ist der Antisemitismus. Er ist nicht im engeren Sinne als Judenhass zu verstehen, zumal es keinen einzigen realen Juden gibt, auf den die Menge antisemitischer Stereotype passen würde. Dennoch sind es konkrete Personen, die als Projektionsflächen für die Probleme und Ängste der Gesellschaft herhalten müssen. Neben den nationalen Minderheiten sind es alte antisemitische Stereotype und liberale Intellektuelle, sozialliberale Politiker oder linksliberale Journalisten.

Da die "völkisch" gesinnte Mehrheitsgesellschaft Andersartigkeit als existenzielle Bedrohung empfindet, artet ihre als gerecht empfundene Selbstverteidigung zum metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse aus, was in der Region nicht selten auch durch Vertreter der christlichen Kirchen eine Art göttliche Legitimation erfährt. Die Mehrheit empfindet einen heiligen Zorn und will den "Volkskörper" von "Schädlingen" befreien. In der Logik der ethnisch-völkischen Volks- und Kulturauffassung sind Ausgrenzung, Hass, Pogrom und Mord implizite Handlungsmöglichkeiten.

Trotz der Gefährlichkeit dieses Denkens wurden, wie Forschungen beweisen, die Reformstaaten im Verlauf der Beitrittsprozesse in die EU auch vom Westen ermuntert, am alten Modell einer ethnisch definierten Kulturnation festzuhalten. Statt ihnen den politischen Nationsbegriff nahe zu legen, blieb eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Modell der ethnischen Kulturnation und dessen Missbrauch in den alten sozialistischen Regimen aus.

Viel Zeit ist bereits vertan. Seit der Wende ist eine neue Generation herangewachsen, die nicht wirklich demokratisch sozialisiert wurde. Mit dem Begriff einer politischen Nation kann sie wenig anfangen. Die meisten sind Gefangene des ethnisch definierten Nations- und Kulturbegriffes, fühlen sich in ihrer "ethnischen Homogenität" bedroht und mobilisieren nun für den "Wehrkampf". Es heißt oft, Demokratie könne man nicht importieren. Doch das gegenwärtige Harmoniebedürfnis in der EU verhindert die Demokratisierung und kommt nur denen zugute, die die Probleme unter den Teppich kehren wollen. Wenn wir unseren Blick auf den Anfang der bundesdeutschen Reflexion richten, die mit Willy Brandts Kniefall 1970 am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes begann, so wird aus dieser Perspektive klar, dass nur das mutige Anerkennen der Lage die Wirklichkeit entscheidend verändern kann.
Die in Budapest geborene Magdalena Marsovszky ist Kulturwissenschaftlerin. Sie beschäftigt sich vor allem mit dem ethnischen Kulturnationalismus und Ungarns "völkischer Bewegung".

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung und der DIZ München GmbH.

"Ungarische Garde":
Mit Waffen für das Ungarntum
Ungarische Rechtsextremisten haben eine paramilitärische Garde gegründet. Die Gruppe, die in der vergangenen Woche feierlich "vereidigt" wurde, definiert sich in ihrem Gründungsdokument als Selbstverteidigungsorganisation und erklärt sich bereit, "das Heimatland" mit Waffen zu verteidigen. Der jüdische Weltkongress und Roma-Organisationen haben bereits von der ungarischen Regierung ein Verbot der Gruppe gefordert...

Magdalena Marsovszky:
Neue völkische Bewegung und Antisemitismus im heutigen Ungarn
Die Untersuchung dürfte bewiesen haben, dass wir heute in Ungarn wieder von einer völkischen Bewegung sprechen können. Tatsache ist auch, dass der gegenwärtige nationalkonservative Oppositionsführer, Viktor Orbán vor Kurzem im Zusammenhang mit dem Treffen des so genannten Dorfparlaments von "der größten bürgerlich-dörflichen Bewegung seit der völkischen Bewegung in den 30er Jahren" sprach...

Viel Zeit ist bereits vertan:
Endlich Europa wagen!
Kulturkämpfe in den Transformationsländern dürfen sich nicht zum flächendeckenden Brand ausweiten...

Category: Ungarn
Posted 09/04/07 by: admin

Comments

wrote:
Ungarn galt zu Zeiten des geteilten Deutschland, der mehrteiligen deutschen Staatenlandschaft als Vorbild, als Vorreiter, als Orientierung, welche unerreichbar ideal erschien...
das suedliche Klima, die Wirtschaftsbeziehungen, die friedliche Identitaet in sich selbst und vieles mehr, die groessere Flexibilitaet, mit dem Westen umzugehen, die grosse Konkurrenzfaehigkeit, welche die Schwaechen abfing und sogar umkehrte.

Ansonsten ist der Artikel so schwer zu lesen, dass mehr als 50 Prozent der Bevoelkerung damit nichts anfangen koennen... und entfernt erinnert der Artikel an marx-leninist-Philosophie.
09/05/07 03:54:20

wrote:
magdalenas warnung vor einer bedrohlichen bewegung kommt nicht zu spät-zumal sie ähnlich bereits früher argumentiert hatte.leider fehlt in diesem beitrag der hinweis auf lobbyismus, als bremser einer gegenbewegung-so daß der drang zu faschistoider veränderung großer bevölkerungsteile, nicht nur im heutigen ungarn allzu willig
aufgenommen wird, ohne auf entsprechend eloquente opposition zu stossen.
09/06/07 20:05:16

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