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VATIKAN/VERSÖHNUNG - Die Erklärung zur Schoa aus der Sicht des christlich-jüdischen Dialogs

Reue und Selbstschutz

Am 16. März 1998 wurde im Vatikan ein lang ersehntes und über ein Jahrzehnt vorbereitetes Papier unterschrieben. Unter der Leitung des australischen Kardinals Edward Idris Cassidy konnte ein vorläufiger Meilenstein gesetzt werden in Themenbereichen, die für Christen schwerwiegende Entscheide und dementsprechend umstrittene Prozesse der Selbstkritik verlangen. Die Resultate dieses wichtigen Dokumentes der katholischen Weltkirche waren in den Verlautbarungen nach dem eigens dafür einberufenen wissenschaftlichen Kolloquiums Ende Oktober letzten Jahres in Rom klar abzuschätzen. Die aktiven Parteien des christlich-jüdischen Dialogs haben keine Überraschung erlebt, als das fertige Dokument gestern unter dem Titel «We remember. A Reflection on the Shoa.» (Wir gedenken. Eine Betrachtung zur Schoa.) der Welt vorgestellt wurde.

VON NICO RUBELI

Die Einleitung vom 12. März durch den amtierenden Papst Johannes Paul II. überzeugt mit sensibel gewählten Charakterisierungen der Schoa: «Das Verbrechen, das als Schoa bekannt wurde, bleibt ein unauslöschlicher Schandfleck der Geschichte des Jahrhunderts, das zu Ende geht.» (Die Zitate sind Übersetzungen der ersten offiziellen englischen Depeschen aus Rom: Typis Vaticanis MCMXCVIII.) Der Papst ruft die Gläubigen auf, ihre Herzen zu reinigen, indem sie vergangene Fehler und Untreue bereuen. Vor Gott sollen Christen sich und ihre Verantwortung, die sie in bezug auf das Böse unserer Zeit haben, prüfen. Das vorliegende Dokument soll «ein Gedenken ermöglichen, das seine notwendige Rolle im Prozess spielt, eine Zukunft zu gestalten, in welcher der unaussprechbare Frevel der Schoa nie wieder möglich wird». Es folgt zudem ein klares Bekenntnis zu den wichtigen Aktivitäten des Dialogs zwischen Katholiken, Juden und allen Männern und Frauen guten Willens, «die miteinander auf eine Welt wahren Respekts gegenüber Leben und Würde jedes einzelnen Menschen hinarbeiten, denn alle Menschen sind im Bild und in der Ähnlichkeit Gottes geschaffen».

Nur eine kleine Andeutung des Papstes ist ein Vorbote der schweren Versäumnisse, die das Kommissionspapier neben allen positiven Tendenzen charakterisieren: Das Dokument «wird helfen, die Wunden vergangener Missverständnisse und vergangenen Unrechts zu heilen». Ist ein geistliches Oberhaupt einer Tätertradition gegenüber den Juden die adäquate Instanz, Heilung der Wunden zu deklarieren? Angesichts der Endgültigkeit des Todes der Millionen Juden, angesichts des unaussprechlichen Grauens… wäre Reue und Selbstkritik nicht die einzige Haltung mit Opfern und Nachkommen der Opfer zu reden? Das Totengedenken ist Ausdruck der Wunden, die den Familien und den Angehörigen der Ermordeten geschlagen wurden. Es ist an ihnen zu formulieren, was sie brauchen. Es ist zuletzt an uns Christen, um Versöhnung zu werben. Es reicht, wenn wir bereuen, umkehren und in aller Konsequenz darauf hinarbeiten, dass sich die Schoa nie mehr wiederholt.

Richtiges und Versäumtes

Auch das Dokument der «Kommission für religiöse Beziehungen mit den Juden» findet viele wichtige und richtige Worte, die Schoa als «unaussprechbare Tragödie, die nie vergessen werden kann», zu benennen und einen moralischen Imperativ zu erheben, dass Selbstsucht und Hass nie mehr zum Punkt gelangen dürfen, solches Leiden und Tod zu säen. Ich denke an die grosse Arbeit der katholischen Freunde des christlich-jüdischen Dialogs. Wieviel Energie und moralische Kraft mussten aufgewendet werden, um diese Formulierungen durchzusetzen! Die Früchte ihrer Arbeit sind heute augenfällig da. Und doch. Meines Erachtens müssen wir auch bei diesem Dokument schmerzlich beobachten, dass die Wurzeln des christlichen Antijudaismus nicht angegangen werden, die Spirale der Gewalt wird nicht in ihrer Tiefe analysiert und daher im Grunde auch nicht unterbrochen.

Fehlende Aufarbeitung

Schon 1965 mussten wir bei allen weltweit gerühmten Fortschritten der Erklärung «Nostra Aetate» (Zweites Vatikanisches Konzil, 1965) mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die Substitutionstheorie, die Enterbungslehre und die Beschuldigung «gewisser» Juden an der Kreuzigung als christlich-antijüdischer Skandal neu legitimiert wurden. Vielleicht war es kirchenpolitisch klug, in diesem Dokument keine Stellung zu nehmen zum Tod Jesu und die wohl tiefste Struktur des christlichen Antisemitismus an dieser Stelle nicht zu thematisieren. Die Ablehnung des jahrhundertelang gepredigten «Gottesmordes» bzw. einer behaupteten Schuld jüdischer Kreise am Tod Jesu ist noch immer eine Forderung der zeitgenössischen Theologie. Das Fehlen der Aufarbeitung dieses christlichen Vorurteils, das wohl am meisten christliche Gewalt generiert hatte, ist aber symptomatisch. Die Analyse der christlich-jüdischen Beziehung beginnt auch im neuesten Dokument mit der Beschreibung von Gewalt jüdischer Kreise gegen das frühe Christentum. Die spätere Gewalt der Christen gegen die Juden wird also ursächlich mit einer in den Evangelien entworfenen «jüdischen Haltung» verbunden, was wenig hilfreich ist. Die antijüdische Deutung jüdischer Gewalt als «ihre Hingabe zur Thora» stört den Gestus der Reue.

Kontinuum der Verfolgung

Abkoppelungen prägen einen weiteren Vorgang von Selbstschutz. Der christliche Antijudaismus zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass er im Gegensatz zum vorchristlichen Judenhass den Bereich der Xenophobie verlässt und zunehmend eliminatorische Züge entwickelt. In Europa führt die christliche Kultur dazu, dass Juden in jeder Krise die Opfer par excellence werden. Selbstverständlich sind das Nazi-Regime und die Kirchen auf vielen Ebenen konflikthaft aufeinander bezogen. Aber gerade der Judenhass eint sie, gerade die Verfolgung der Juden ist das am klarsten erkennbare Kontinuum der beiden. Die Christen haben es den Nazis nicht nur erleichtert, sie haben nicht nur geschwiegen, das Christentum hat den Mord des europäischen Judentums nicht nur vorbereitet, sondern in Hunderten von Konflikten während Jahrhunderten vorgelebt; kirchliche Christen haben das Verfemen und Morden der Juden schon praktiziert. Dass die Schoa ausserhalb des Christentums entstanden sei, diese These, die in einigen Argumentationen des vorliegenden Papieres aufgestellt wird, sie verletzt tief. Reue wäre es, zu bereuen, nicht Schuld abzukoppeln. Auch der Hinweis auf Tendenzen in Nazi-Kreisen, die Kirchen zu bedrohen, kann das jahrhundertelange Kontinuum faktischer Verfolgungen nicht relativieren.

Probleme nicht angesprochen

Mechanismen eines kontraproduktiven Selbstschutzes beginnen in diesem Papier zu wirken. Dass die Kirche als Institution versagt hat, wird nicht formuliert. Dass wir Christen ein grundlegendes theologisches Problem mit Juden und Judentum haben, wird nicht in aller Konsequenz beleuchtet. Nur in bezug auf einzelne Christen werden Schuld, Versagen und Gewalttaten unmissverständlich artikuliert.

Die anerkannt antijüdischen Stellen des Neuen Testaments werden in ihrem antijüdischen Gehalt geleugnet und als innerjüdischer Streit abgehakt. Nur die Auslegungsgeschichte habe gefehlt. Auch dies ist in meinen Augen gegenüber den Opfern antijüdischer Tendenzen im Neuen Testament verletzend. Was versucht die katholische Weltkirche zu schützen, wenn sie die grundlegende politische und kulturelle Verantwortung leugnet? Sie schützt ihren theologischen Begriff von «Heilsgeschichte» und den Wahrheitsanspruch einer geistlichen Institution. Ist dies ein Gestus der Reue?

Wir haben nicht genug getan, wir haben zu viel geschwiegen. Auch dieses Denkmodell bereitet mir mehr und mehr Mühe: ist dieses «zu wenig» nicht ein Feigenblatt vor dem unangenehmen Verdacht, dass Juden nicht nur nicht geliebt, sondern aktiv gehasst wurden?

Warum schwiegen die Christen?

Warum haben die meisten Christen geschwiegen? Ich bin überzeugt, dass falsche christliche und kirchliche Theologien eine Hauptschuld tragen. Wenn christliche Zeitdokumente bei den abzulehnenden Häresien das Nazi-Regime und den Kommunismus angreifen, nennen viele im gleichen Gedankengang auch das antisemitische Vorurteil des «zersetzenden Judentums».

Wenn Pius XII in seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Kommunismus positiv gesehen wird, merken wir, dass auch mehr als 50 Jahre nach der Schoa das Verteidigen von menschlichen Theologien wichtiger erscheint als der Schutz von Menschenleben. Am liebsten würde ich mit Worten von Rabbi Aqiva entgegnen, aber in diesem Kontext christlicher Selbstkritik soll das Matthäusevangelium (Mt. 25) in die Debatte sprechen: «Der ersehnte, wiederkommende Christus fragt nicht: ‹Habt ihr die Wahrheit verteidigt? Habt ihr den rechten Glauben gehabt?› Er fragt, ob wir die Hungrigen gespeist, den Durstigen zu trinken gegeben haben, ob wir den Fremden aufgenommen, die Nackten gekleidet und ob wir die Kranken und Gefangenen besucht haben.» Dass wir Christen diese Verantwortung zwar immer wieder mit Hingabe erfüllt haben und gleichzeitig die Juden offiziell und institutionell dem Tode ausgeliefert haben, birgt ein tiefes Problem, nämlich den christlichen und post-christlichen europäischen Antisemitismus. Diesen müssen wir kritisieren. Dass der Schluss der Aufforderungen, Genozid abzulehnen, darin mündet, den Nahen Osten zu erwähnen, auch dies verletzt. Reue ist nicht teilbar. Die Bestürzung von Oberrabbiner Israel Meir Lau und vieler Juden zeigt, dass der Gestus, Reue auszudrücken, einen tieferen und grundsätzlicheren Willen zur Umkehr fordert: gerade in unserem Selbstverständnis und in unserem Wahrheitsanspruch. Unser christliches Problem der Gegenwart ist, dass noch heute falsche, ja tödliche Theorien implizit und explizit Relegitimationen erhalten. Dass Juden davon mit Erstaunen und Bestürzung Kenntnis nehmen müssen, belastet.

Es reicht nicht, einem offiziellen «Nie wieder!» zuzustimmen, wir Christen müssen den Tatbeweis einer konsequenten und tiefgreifenden Antisemitismuskritik erbringen. Der Unterschied zu früher ist, dass heute Juden ohne Angst vor Repressionen ihre Bestürzung öffentlich ausdrücken können.

Nico Rubeli-Guthauser ist evang.-ref. Pfarrer, Leiter und Initiator der jüdisch-christlichen Projekte der Stiftung für Kirche und Judentum und Chefredaktor der wiss. Zeitschrift JUDAICA.

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