iw 2000 / TSh''S
Am europäischen Tag der
jüdischen Kultur öffneten in ganz Europa Synagogen, Friedhöfe und Museen
ihre Tore, um dem interessierten Publikum Einblick in den jüdischen
Alltag zu gewähren. Auch in Luzern herrschte in der Synagoge
Hochbetrieb.
Jüdische
Kultur-Impressionen
aus Luzern
Von Shelley Kästner
Die Luzerner Synagoge war an
diesem 3. September, dem europäischen Tag der jüdischen Kultur sehr gut
besucht. Ungefähr gleich viele Männer wie Frauen, quer durch alle
Altersklassen, erschienen zu dem Anlass. Viele hatten lange darauf
gewartet, die Synagoge von innen zu sehen. Aus Sicherheitsgründen ist
deren Besuch für die nichtjüdische Öffentlichkeit jedoch nur zu
speziellen Gelegenheiten möglich.
Gekommen sind die meisten aber
nicht nur, weil sie an der Architektur und Innenausstattung der Synagoge
interessiert sind, sondern auch, weil sie mehr Einblick in die jüdische
Kultur und Religion erhalten wollen. Diesem Bedürfnis kam Alfred
Bodenheimer mit fundiertem Wissen und gut verständlichen Erklärungen in
einem knapp einstündigen Vortrag entgegen. Abschliessend beantwortete er
die Fragen aus dem Publikum. Besonders die hebräischen Schriftzeichen
erregten die Neugierde der Anwesenden und wollten übersetzt werden. Aber
auch eine ganze Menge anderer Fragen wurden vorgebracht.
Wo finden Beschneidungen statt?
«Gibt es eine Schabbatspflicht,
wie für die Katholiken die Sonntagspflicht?» Manch einer wird mit
Erstaunen auf die lange Liste der jüdischen Religionsgebote reagiert
haben, welche Alfred Bodenheimer in Antwort auf diese Frage aufzählte.
Ein Ratschlag, welcher den Gläubigen von der Stirnseite der Luzerner
Synagoge aus erteilt wird, regte zur Frage an: «Der Satz, ‘wisse vor wem
du stehst‘, bezieht sich der auf das reelle Stehen während des
G’ttesdienstes oder ist das im übertragenen Sinn gemeint?» Eine Frau in
den mittleren Jahren wollte wissen: «Wie muss man sich einen jüdischen
G‘ttesdienst vorstellen? Gibt es einen Vorbeter und wird nachgebetet?
Wird auch gesungen? Und unterscheiden sich die Gebete von Woche zu
Woche?» Eine andere Frau fragte: «Wo finden Beschneidungen statt, in der
Synagoge oder beim Arzt?» Und ein junger Mann: «Wird die ‘Messe‘ in
Hebräisch abgehalten?» Geduldig beantwortete Alfred Bodenheimer auch die
letzte Frage, «im Judentum gibt es verschiedene Strömungen. Wie sind die
entstanden?» und schloss mit seinen Ausführungen so manche Wissenslücke.
Zum Schluss der Veranstaltung wurde er dafür mit einem erst verhaltenen,
dann aber warmen Applaus bedacht.
«Messe» in Hebräisch?
Diese verzögerte Reaktion scheint
bezeichnend zu sein für die Atmosphäre der Unsicherheit, welche manchmal
bei Begegnungen zwischen Juden und Christen mitschwingt. Beatrice Näf
jedenfalls umschreibt ihre Bedenken so: «Man hat Hemmungen die Juden
anzusprechen, besonders, wenn sie ‘von aussen erkennbar‘ sind.» Sie
wohnt mit Mann Walter und Sohn Nicola in der Nähe der Synagoge und würde
eigentlich gerne religiöse Jüdinnen und Juden kennen lernen. Der etwa
siebenjährige Nicola ist sich nicht sicher, ob er überhaupt schon Juden
gesehen hat, glaubt aber, dass man sie daran erkennt, dass sie schwarz
gekleidet sind und Englisch sprechen. Sein Vater fügt an: «Wir haben
einige Zeit in den USA gelebt. In unserem Bekanntenkreis in Washington
gab es auch Juden, aber die waren äusserlich von den anderen Amerikanern
nicht zu unterscheiden.»
Ausstellung «Schweizer Juden»
zurzeit in Luzern
«Es wäre schön», meint auch die
Luzernerin Trudi Camenzind, «wenn man mit den Orthodoxen in Kontakt
kommen könnte. Aber man hat das Gefühl, dass sie sich von sich aus
abgrenzen.»
Einige der Besucherinnen und
Besucher haben sich aus eigenem Antrieb mit der jüdischen Kultur und
Religion befasst oder sind nach Israel gereist. Urban Müller-Küchler
beispielsweise, der in Begleitung seiner ganzen Familie gekommen ist,
hat sich vor seinem Medizinstudium intensiv in theologischen Kursen mit
dem Judentum beschäftigt. Er und sein Sohn gehören zu den wenigen
Besuchern, die in der Synagoge eine Kopfbedeckung tragen. Seine
Schwiegermutter Mireille Küchler begründet ihr Interesse am Judentum
unter anderem mit den Gemeinsamkeiten, welche die jüdische und die
christliche Religion haben: «Unsere christliche Religion ist auf der
jüdischen aufgebaut. Schliesslich berufen sich beide Religionen auf das
alte Testament.» Die ganze Familie ist sich einig, dass eine umfassende
Information wichtig wäre, und ein persönliches Kennenlernen zwischen
jüdischen und christlichen Schweizerinnen und Schweizern dazu beitragen
würde, dass etwaiges Misstrauen und Vorurteile abgebaut oder erst gar
nicht entstehen würden.
Im Anschluss an die Veranstaltung
nutzten viele die Gelegenheit, sich die Ausstellung «Schweizer Juden»
anzusehen, die zurzeit unweit der Synagoge, im Historischen Museum
gezeigt wird. Auf äusserst charmante und sympathische Weise führte am
Sonntag Viviane Liatowitsch durch die Ausstellung und kommentierte die
ausgestellten Objekte. Diese Ausstellung ist nach wie vor eine der
wichtigsten Veranstaltungen zum Thema. Sie ist informativ und besticht
durch die Beschränkung auf das Wesentliche. Die Darstellung ist frei von
Polemik. Wer sich trotzdem angegriffen fühlt – und solche gibt es ohne
Zweifel auch hier – ist auf sich selbst zurückgeworfen und kann sich
nicht auf die Inszenierung der Thematik berufen.
Positiven Zugang zum Judentum
vermitteln
Schade ist nur, dass die
statistischen Zahlen, ohne präzisierende Ausführung, etwas
missverständlich sind. Erfasst werden nämlich ausschliesslich jüdische
Schweizerinnen und Schweizer, die entweder in einer jüdischen Gemeinde
organisiert sind oder ihre Religionszugehörigkeit bei einer der
Volkszählungen angegeben haben. Dies sei aber nur am Rande bemerkt. Die
Ausstellung erfüllt ihren Zweck allemal. Viviane Liatowitsch ist sich
sicher, dass es einen Vorher-nachher-Effekt gibt: «Die überwiegende
Mehrheit der Besucherinnen und Besucher ist von der Ausstellung
begeistert und beeindruckt.» Dabei können sich besonders auch die vielen
Jugendlichen, welche sich die Ausstellung mit der ganzen Schulklasse
ansehen, mit den jüdischen Jugendlichen im Interviewfilm von Elisabeth
Weingarten Guggenheim identifizieren und finden auf diesem Weg, zum
zuvor möglicherweise mit Skepsis betrachteten Judentum, einen
unvoreingenommeneren und positiven Zugang.
Weitere Schwerpunkte im iw Nr.
37,
vom 15. September 2000/15. Elul 5760
- Brennpunkt: New Yorker
Verteilplan für Schoa-Gelder
- Israel: Psoriasis: Totes Meer
billiger als die Schweiz
- Österreich: «Drei Weise»:
Persilsc hein für Wien
Im Archiv:
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