"Ist die israelische
Demokratie gefährdet, Herr Primor?"
Avi Primor, Botschafter Israels in
Deutschland, gilt als „nichtangepaßter Diplomat". Im WELT-Gespräch äußert er
sich erstmals auch zur innenpolitischen Situation seines Landes. Über
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt der Botschafter: „Er ist Realist. Er
weiß, daß er die Friedensvereinbarungen umsetzen muß." Mit Avi Primor sprach
Jacques Schuster
DIE WELT: Israel steht vor den Wahlen. Schon
jetzt erlebt es einen totalen Umbruch der Parteienlandschaft. Immer
gewichtigere Persönlichkeiten verlassen die großen Parteien, zuletzt
Verteidigungsminster Mordechai den Likud. Haben die Parteien versagt?
Primor:
Im Grunde liegt es am demokratischen System, daß Parteien versagen, versagen
müssen. Parteien können nicht all die Versprechen einlösen, die sie im
Wahlkampf gemacht haben. Darin liegt einer der Gründe für ihr Versagen
allgemein. Was bei uns gegenwärtig allerdings geschieht, ist eine Folge des
geänderten Wahlrechts. Dieses Wahlrecht, das die Direktwahl des
Ministerpräsidenten durch die Bevölkerung vorsieht, bringt den Wähler dazu,
seine Stimme gleichsam zu teilen. Die Leute sagen, pauschal möchte ich diese
oder jene Richtung wählen, aber dieser eine Kandidat soll Regierungschef
werden. Dies führt zu Absplitterungen und zur Vermehrung von Parteien. Und
dies hat auch Auswirkungen auf die Politiker, weil sie neue Möglichkeiten
für sich sehen.
DIE WELT: Haben die großen Parteien Ihrer
Meinung nach noch eine Zukunft?
Primor: Eine gute Frage. Wenn es in Israel so
weiter geht: kaum. Aber ich glaube schon, daß es eine Mehrheit gibt, die das
Wahlrecht abermals ändern wird. Die Zeit dazu war jetzt zu knapp, so kurz
vor der Wahl. Nach den Wahlen wird es sicher zu einer nochmaligen
Veränderung des Wahlrechts kommen. Natürlich haben die kleinen Parteien
daran kein Interesse. Die großen Parteien aber werden ehe sie ganz
verschwinden das Wahlrecht verändern.
Übrigens möchte ich daran erinnern, daß das
gegenwärtige Wahlrecht von der Arbeiterpartei eingebracht wurde. Der Likud
hat den Entwurf bekämpft. Es gab nur wenige Abgeordnete aus seinen Reihen,
die für das Wahlrecht gestimmt haben. Einer von ihnen war Benjamin
Netanjahu. Er hat gewußt, daß er davon profitieren wird.
DIE WELT: Die kleineren, vor allem einige
religiöse Parteien, aber auch andere, etwa die neue russische
Einwanderungspartei des Netanjahu-Vertrauten Aviggdor Lieberman, griffen
massiv die Entscheidungen des Obersten Gerichtes in Israel an, derartig
heftig, daß sich Präsident Ezer Weizman genötigt sah, den Gerichtshof in
Schutz zu nehmen. Ist die israelische Demokratie gefährdet?
Primor: Das glaube ich nicht. Sie haben schon
recht, wenn Sie in dem israelischen Staat einigen Gruppierungen
nichtdemokratische Tendenzen unterstellen. Die gibt es ohne Zweifel, aber
man muß das von der historischen Warte aus beurteilen. Ich muß dazu
ausholen.
DIE WELT: Tun Sie sich keinen Zwang an.
Primor: Israel ist die einzige Demokratie im
Nahen Osten, eine echte parlamentarische Demokratie, die wie jede
parlamentarische Demokratie im Westen funktioniert. Eigentlich ist das
merkwürdig, wenn man bedenkt, wer den Staat gegründet hat. Nur ein Bruchteil
der Einwanderer kam aus demokratischen Ländern. Die meisten sind entweder
aus Nazideutschland geflohen oder stammten aus Osteuropa, das bis zum
Untergang der Sowjetunion keine Demokratie gekannt hat.
Auch die Gründer der zionistischen Bewegung
wußten sehr wenig von der Demokratie. Theodor Herzl war ein Kind des
Habsburger Reiches und ein Bewunderer Bismarcks, hat aber jahrelang als
Auslandskorrespondent in Paris gelebt und die parlamentarische Demokratie
kennengelernt. Von ihr wurde er beeinflußt. Sein Zionismus sollte auf
demokratischen Prinzipien beruhen. Herzl erstrebte eine Bewegung, die
sämtliche Richtungen innerhalb des Zionismus nicht nur zulassen, sondern
auch fördern wollte. Damit wollte Herzl garantieren, daß der jüdische Staat
demokratisch werde. Er, seine Anhänger und Nachfolger bildeten den harter
Kern der Demokraten.
DIE WELT: Und die anderen?
Primor: Alle, die später hinzu kamen, mußten
sich dem harten Kern anpassen. Das blieb so. Immer wieder strömten Wellen
von Einwanderern aus nichtdemokratischen Ländern ins Land, und immer war es
schwierig, sich in der Demokratie zurechtzufinden. Aber letztendlich gelang
es. Heute kann man schon von einer großen Mehrheit der Bevölkerung sprechen,
die gar nichts anderes kennt als die Demokratie. Also: Die Neueinwanderer
aus der Dritten Welt oder aus der ehemaligen Sowjetunion, die Demokratie
bisher nicht kannten, lernen nun, was es bedeutet, in einer Demokratie zu
leben.
DIE WELT: Würden Sie diese kleineren, ja
nennen wir sie Splitterparteien, die allerdings Mandate im Parlament haben,
als demokratisch charakterisieren?
Primor: Nein. Die Schas-Partei auf keinen
Fall. Sie beruht nicht auf demokratischen Grundsätzen. Sie basiert auf
göttlichem Gesetz und den Worten der Rabbiner. Auch die Vertreter dieser
Ansicht entstammen der ersten Generation von Einwanderern, die aus der
Dritten Welt kommen, die eben noch nicht mit demokratischen Werten
aufgewachsen sind. Mit der Zeit wird sich auch das ändern, wie es immer der
Fall ist. Die Schas ist übrigens nicht die einzige Partei, deren Prinzipien
nicht den parlamentarischen, demokratischen Grundsätzen entsprechen. Es gibt
noch andere orthodoxe Parteien, die auf nichtdemokratischen Prinzipien
beruhen.
DIE WELT: Der israelische Historiker Moshe
Zimmermann schrieb, der säkulare Zionismus sei von einem
religiös-nationalistischen Zionismus abgelöst worden. Teilen Sie diese
Ansicht?
Primor: Nein. Ich weiß, daß dies nicht nur
die Meinung des hochgeschätzten Professors Zimmermann ist. Es ist die
Meinung vielleicht der Mehrheit der israelischen Bevölkerung. Ich möchte es
so formulieren: Die Orthodoxen sind einflußreicher, aggressiver,
anspruchsvoller, sie sind aber nicht zahlreicher geworden. Das will ein Teil
der israelischen Bevölkerung nicht einsehen, weil er vor den Orthodoxen
Angst hat.
Vor 40 Jahren, als die Zahl der
Gesamtbevölkerung nicht mehr als 600 000 Einwohner betrug, gab es 20 Prozent
Orthodoxe. Heute, wo wir sechs Millionen sind, beträgt der Anteil der
Orthodoxen noch immer 20 Prozent.
DIE WELT: Woran liegt das?
Primor: Die Einwanderung, besonders aus der
Dritten Welt das sind heute etwa 40 Prozent der Bevölkerung , war eine
ausgesprochen orthodox geprägte Einwanderung. Darüber hinaus sind orthodoxe
Familien kinderreich. Wieso kommt es eigentlich, daß sie nicht schon längst
die Mehrheit in der Bevölkerung bilden? Es ist eine Tatsache, daß die
Orthodoxie einen Großteil ihrer Jugend verliert. Die Orthodoxen vertuschen
das. Und die Bevölkerung sieht nur ihren Einfluß auf das öffentliche Leben.
Ich glaube, der Einfluß der Orthodoxie ist koalitionsbedingt. Das ist ein
vorübergehender Zustand, der mit der gegenwärtigen Regierung verbunden ist,
die ohne die Unterstützung orthodoxer Kräfte über keine Mehrheit verfügen
kann.
DIE WELT: Walter Laqueur hat darauf
hingewiesen, daß es seit der Gründung des Staates Israel keine Regierung
gegeben hat, die derartig unpopulär bei den israelischen Intellektuellen
gewesen ist wie die Regierung Netanjahu. Woran liegt das?
Primor: Vor allem glaube ich, daß das mit dem
Friedensprozeß zu tun hat. Als es zu Vereinbarungen mit den Palästinensern
kam, nach Jahrzehnten des Kriegszustandes, erlebte Israel eine Zeit der
Hoffnung. Dann wurde Netanjahu gewählt. Er führte den Friedensprozeß zwar
weiter, aber langsamer, anders nennen Sie es, wie Sie wollen. Für manchen
in Israel war dieser Kurs eine Enttäuschung. Viele der Intellektuellen
sagen, Netanjahu hat diese Hoffnung zerstört.
Die zweite Sache drückt sich in einer Frage
aus, die immer wieder gestellt wird: Mit wem regiert Netanjahu eigentlich?
Mit allen Rechtsparteien Israels. Und das stimmt mit einer Ausnahme, der
Moledet-Partei, die zwei Abgeordnete hat. Mit dieser Ausnahme befinden sich
alle rechten und orthodoxen Parteien tatsächlich in dieser Regierung.
Den dritten Aspekt bildet die wirtschaftliche
Entwicklung. Unter Rabin und Peres hat Israel von einem Aufschwung, einer
wirtschaftlichen Wachstumsrate von etwa sieben bis neun Prozent im Jahr
profitiert und das trotz einer massiven Einwanderung sowjetischer Juden.
Die Arbeitslosenquote schrumpfte von etwa zwölf auf sechs Prozent. Das war
ein großes Ereignis. Dieser Aufschwung ist zur Zeit erlahmt.
DIE WELT: Wenn man Netanjahu beobachtet,
seine Auftritte, seine Reden, die immer nur aus Schlagworten bestehen, das
Wittern von Verschwörungen, seine Angriffe auf die Linken und die Medien,
stellt man fest, daß er eine für Israel untypische Figur ist. Wie läßt sich
das erklären?
Primor: Netanjahu ist ein ausgesprochener
PR-Mensch, einer, wie ihn Israel bisher nicht gekannt hat. Netanjahu weiß,
wie man zu Menschen spricht, weiß, wie man Massen bewegt. Er weiß, wie man
das Publikum anspricht. Das weiß er sogar viel besser als alle anderen in
Israel. Und er hat eine neue Art des Wahlkampfes ins Land gebracht.
DIE WELT: Sehen Sie noch eine Chance, daß das
Friedensabkommen von Wye auch in einer möglichen neuen Regierung Netanjahu
erfüllt wird?
Primor: Ja, ich bin fest davon überzeugt. Ich
sage Ihnen, Netanjahu ist Realist. Er weiß, daß er die Vereinbarungen
umsetzen muß. Er wird sie allerdings nicht während des Wahlkampfes umsetzen,
weil ich es nicht für wahrscheinlich halte, daß die palästinensischen
Behörden die für sie problematischen Verpflichtungen plötzlich erfüllen
werden. Sollte Netanjahu die Wahlen gewinnen, wird es möglicherweise dazu
kommen, daß er mit der Zentrumspartei eine Koalition bilden wird, wenn nicht
sogar mit der Arbeiterpartei. Dann wird er die Vereinbarungen umsetzen.
DIE WELT: Stichwort deutsch-israelische
Beziehungen. Kürzlich war Ihr Außenminister Arik Scharon in Bonn. Um den
Besuch ist es merkwürdig still geblieben. Was wurde konkret besprochen?
Primor: Scharon wollte dem neuen Präsidenten
des europäischen Ministerrates israelische Positionen erläutern.
Bundesaußenminister Fischer hat zugehört und sehr viele Fragen gestellt.
DIE WELT: Was erwarten Sie von der deutschen
Präsidentschaft in der Europäischen Union für Israel?
Primor: Sie wissen, daß uns die deutsche
Präsidentschaft 1994 einen privilegierten Status in der Europäischen
Gemeinschaft versprochen hat. Das war ein großer Sprung über viele Phasen
der Entwicklung der israelisch-europäischen Beziehungen hinweg. Diese
Beziehungen sind für uns in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Wir
wollen in der Europäischen Union verankert werden, nicht allein gute
Beziehungen haben, sondern in einer institutionalisierten Weise permanent
verankert sein.
Wir können kein Mitgliedsstaat werden. Aber
wir wollen so verankert werden, daß wir fast zu einem Teil der Europäischen
Union werden, sagen wir etwa wie die Efta-Staaten, bevor sie Mitglied der EU
wurden. Dieses Ziel hoffen wir mit Hilfe der Deutschen zu erreichen.
DIE WELT: Gerade zum Amtsbeginn der neuen
Regierung in Bonn hat es einige Irritationen über die Außenpolitik gegeben,
wenn ich etwa an die Äußerungen des polnischen Außenministers Bronislaw
Geremek denke, der der neuen Bundesregierung einen sorglosen Umgang mit der
Geschichte und eine gewisse Hemdsärmeligkeit vorwarf. Teilen Sie diese
Ansicht?
Primor: Ich kann das nur in bezug auf Israel
beurteilen. Ich war dreimal mit Gerhard Schröder in Israel. Ich konnte da
keine Unsensibilität erkennen auch und vor allem nicht bei Joschka
Fischer.
Die Grünen waren einmal eine Israel gegenüber
sehr feindselige Partei. Und wenn sich das so hervorragend verändert hat,
dann ist das zum größten Teil ein Verdienst von Herrn Fischer. Also, ich
kann das nicht bestätigen.
Man fragt mich oft in Israel, da ist doch
eine jüngere Generation an der Regierung. Hat sie noch ein Bewußtsein für
die Vergangenheit? Denen antworte ich immer: Je mehr Zeit vergeht, desto
intensiver beschäftigen sich die Deutschen mit der Vergangenheit. Das gilt
auch für die Regierung.
Israels
Botschafter Avi Primor:
Abschied von Diplomatie und Fettnäpfchen
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