Im Dezember 1994 hat der Europäische Rat, als er unter deutscher
Präsidentschaft in Essen tagte, einen bedeutsamen Beschluss gefasst. Der
Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs kam einstimmig
überein, dem Staat Israel in seinem Verhältnis zur Europäischen Union
einen "privilegierten Status" zuzuerkennen.Am 1. November 1995
empfing mich Ministerpräsident Jitzhak Rabin. Am folgenden Tag fand eine
Konferenz unter Vorsitz von Außenminister Shimon Peres statt, an der
ranghohe Führungskräfte der israelischen 'Wirtschaft, der
Finanzminister, die Präsidenten der Notenbank und des Industrieverbands
sowie mehrere leitende Beamte teilnahmen.
Am Schluss der Gespräche, in denen ich meine Ideen zur praktischen
Ausgestaltung des Status den Israel in seinen Beziehungen zur EU anstrebte
vortrug, erhielt ich grünes Licht, mich offiziell mit detaillierten
Vorschlägen an die Bundesregierung zu wenden. Nach Bonn zurückgekehrt,
machte ich mich sofort an den Entwurf eines Schreibens an Bundeskanzler
Helmut Kohl. Stunden später traf die Nachricht von der
Ermordung Jitzhak Rabins ein.
Nach Rabins Tod hat sich nicht nur die innenpolitische Situation in
Israel geändert, im gesamten Nahen Osten trat eine tief greifende Wende ein.
Nach wie vor aber ist es eines der vordringlichsten Ziele der israelischen
Regierung, den Sonderstatus des Staates Israel im Sinne derer zu nutzen, die
ihn seinerzeit verliehen und verkündet haben. Entsprechende Vorstellungen
sind in dem Brief enthalten, den ich im November 1995 dem deutschen Kanzler
zuleitete.
Das Schreiben nimmt, um Israels Interesse zu erklären, Bezug auf den
europäischen Wirtschaftsraum, wie er von der EU ursprünglich für die
ehemaligen Staaten, der Freihandelsassoziation, der EFTA, geschaffen worden
war, sozusagen als Brücke zum Eintritt in die Union. Praktisch erlaubte der
gemeinsame Wirtschaftsraum den EFTA-Staaten, von den meisten Privilegien,
die den Mitgliedsländern der Union zustanden, zu profitieren, ohne an deren
Entscheidungen verantwortlich beteiligt zu sein. Bei der großzügigen
Regelung konnte aufgrund der geographischen und geschichtlichen Bindungen
von der Annahme ausgegangen werden, der Beitritt der EFTA-Staaten zur Union
werde nur eine Frage der Zeit sein. Abgesehen von nur zwei Ausnahmen, der
Schweiz und Norwegen, sind tatsächlich alle ehemals in der EFTA assoziierten
Länder im Verlauf der neunziger Jahre Mitglieder der EU geworden.
Natürlich kann Israel kein EU-Mitgliedsstaat werden. Die Verfassung der
Union schließt Länder, die außerhalb des europäischen Kontinents liegen, von
der Aufnahme aus. Auch kann Israel sein Verhältnis zur EU nicht einfach
dadurch definieren, dass es Anspruch auf Teilhabe an einem Wirtschaftsraum
erhebt, wie er 1960 für die EFTA-Staaten eingerichtet wurde. Das alte Modell
könnte allenfalls richtungweisend wirken, kann nicht aber das mit einem
Anschluss an die Union erstrebte letzte Ziel sein. Vorgetragen wurde statt
dessen der Wunsch Israels, an den vier grundsätzlichen Freiheiten der
EU-Mitgliedsstaaten partizipieren zu dürfen: der Freiheit des Verkehrs von
Menschen, des Warenverkehrs, der Investitionen sowie sämtlicher
Dienstleistungen innerhalb der Union.
Natürlich wird sich dieses Wunschziel nicht von heute auf morgen
erreichen lassen; der Weg dorthin setzt politischen Willen auf beiden Seiten
voraus. Immerhin ist Israel vorerst schon mit der EU durch ein umfassendes
und neuen Entwicklungen angepasstes Freihandelszone-Abkommen verbunden.
Außerdem ist es Teil der Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft der
Europäer. In beiden Bereichen sind in den letzten Jahren Fortschritte
erzielt worden, die insgesamt auf noch engere und stärker erweiterte Formen
der Zusammenarbeit hoffen lassen, gerade auch auf wirtschaftlichem Gebiet.
Schon das bisher Erreichte sehen die meisten Israelis keineswegs als
selbstverständlich an.
Aus dem Kapitel "Herausforderung an Europa"
des Buches "Europa, Israel und der Nahe Osten"
von Avi Primor, ersch. bei Suhrkamp
Broschiert - 160 Seiten -
Suhrkamp
Erscheinungsdatum: 2000
ISBN: 3518395971, Euro 7.50