Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte:
"Zwischen Amnesie und Aufarbeitung - zur Kultur der Erinnerung"

Das zweite Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert ist mit einem Schwerpunkt zur Erinnerungspolitik in Deutschland erschienen ...

Gudrun Schroeter

  

Das im Juni 2001 gegründete gemeinnützige Nürnberger Institut ist bisher mit einigen beachtenswerten Beiträgen zur historischen Forschung der NS-Geschichte und der jüdischen Geschichte vor allem im süddeutschen Raum in Erscheinung getreten.

 

Das Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte

 

Ein Hauptziel des Instituts ist es, die noch möglichen Kontakte zu Überlebenden der Shoah herzustellen und somit die Informationen der ZeitzeugInnen aus erster Hand für die Forschung zu nutzen. Bei Forschungsaufenthalten in Israel, Deutschland und den USA wurde eine Fülle an, in Deutschland weitgehend unbekanntem, autobiographischem und historischem Material gesammelt und in einzelnen Untersuchungen und Ergebnissen publiziert.

 

Im „Nürnberger Videoarchiv der Erinnerung“ des Instituts werden mittlerweile die Lebensgeschichten von über 30 ehemaligen Nürnberger und Fürther Jüdinnen und Juden, die vertrieben wurden oder emigrierten, aufbewahrt. Aus diesen Dokumenten entstanden bisher drei TV-Features sowie zwei TV-Dokumentationen, weitere Veröffentlichungen sind geplant. Recherchiert wurde auch die Geschichte der illegalen Haganah-Ausbildungslager in Bayern zwischen 1946 und 1948. Erste Zwischenergebnisse der hierzulande kaum bekannten Geschichte sind in dem ersten, 2002 erschienenen Jahrbuch veröffentlicht. Im Juni 2003 entstand eine TV-Dokumentation in Zusammenarbeit mit der Medienwerkstatt Franken. Eine umfassende Untersuchung zu diesem Thema soll Ende 2005 erscheinen. Das sind nur zwei Beispiele aus dem Bereich der Arbeit des Instituts zur jüdischen Geschichte.

 

Darüber hinaus konzentrieren sich die MitarbeiterInnen des Instituts auf Forschungen zur Regionalgeschichte zum Themenkomplex Nationalsozialismus und Antisemitismus, wie etwa der Antisemitismus in Franken während der Weimarer Republik oder die Entnazifizierungsphase in fränkischen Gemeinden. Über den regionalen Rahmen hinaus ging im Jahr 2004 die deutsche Veröffentlichung der bisher nur auf Polnisch zugänglichen Aufzeichnungen eines polnischen Journalisten, der aus einem Versteck heraus die Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung in Ponar in der Nähe von Wilna (heute Vilnius, Litauen) beobachtet hatte. „Die geheimen Notizen des K. Sakowicz“ geben einen Einblick in den Abgrund der deutschen Vernichtungspolitik, die neben der industriellen Vernichtung von Auschwitz praktiziert wurde und in Deutschland in einer breiteren Öffentlichkeit wenig beachtet wird.

 

nurinst 2004 – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte

 

Unter dem Schwerpunktthema „Zwischen Amnesie und Aufarbeitung – Zur Kultur der Erinnerung“ widmet sich das zweite Jahrbuch der immer noch mit starken Defiziten beladenen Erinnerungskultur in Deutschland. Zwei Beiträge befassen sich mit Geschichte und Gegenwart der jüdischen Museen. Bernhard Purin geht der Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung bestehender Einrichtungen nach: Sind sie Orte der Mahnung, des Gedenkens oder der Aufklärung? Nach der Darstellung einiger thematisch unterschiedlich gelagerter Debatten und Konflikte um die Konzeption von jüdischen Museen (Fürth, Rendsburg, Hohenems, Berlin, u.a.) gibt Bernhard Purin Gedankenimpulse für ihre Weiterentwicklung, die auf Gegenwartsbezug und Lebendigkeit zielen. So sieht er zum einen zukunftsgerichtete Möglichkeiten in einer differenzierteren Untersuchung der Herkunft der in den Museen ausgestellten Exponate, die, soweit sie aus Beständen vor 1945 hervorgehen, häufig Berührung zur Shoah hatten und Raubgut, gestohlene Kulturgüter sind. Die Recherche nach den ursprünglichen Besitzern dieser Gegenstände könne, wie er an Beispielen zeigt, statt des befürchteten Verlusts eines Exponats zu einem Gewinn und zu unerwarteten Möglichkeiten der Zusammenarbeit führen. Des Weiteren komme vor dem Hintergrund des zeitlichen Abstands zur Shoah und der unabdinglichen Änderung der Formen der Erinnerung, die mit dem Verstummen der letzten AugenzeugInnen einhergehe, dem Kontakt zur zweiten und dritten Generation der Nachfahren eine besondere Bedeutung zu.

 

Dieser Aspekt wird von Jutta Fleckenstein im zweiten Beitrag des Bandes konkretisiert. Sie beschreibt das Beispiel eines Treffens von drei Generationen der Familie Kunreuther im Jahr 2003, in dem das Jüdische Museum Fürth als Vermittlerstelle fungierte und ein Programm für die über dreißig Familienmitglieder ausrichtete. Das (allgemein feststellbare) wachsende Interesse der zweiten und dritten Generation, die Orte der Kindheit und Jugend der Eltern und Großeltern zu besuchen, war ein Anlass für das Treffen der Familie Kunreuther in Deutschland, die ab dem 19. Jahrhundert das ökonomische, politische und kulturelle Leben der Spiegelstadt Fürth mitgeprägt hatte. Diese Begegnung, die vor Ort sowohl Raum für die Erinnerungen der ZeitzeugInnen öffnete als auch für die spezifischen Fragen der Nachkommen, bewirkte, so die Autorin, auch eine Änderung des „Erinnerungsmilieus“ für das Jüdische Museum während und nach der Anwesenheit der Gruppe. Mit der Idee des gemeinsamen Austauschs an den historischen Orten habe das Jüdische Museum Fürth Neuland betreten. Diese Erfahrung sei nachhaltig bedeutsam für den Ort als Erinnerungsort, für alle Beteiligten und habe zu einer neuen und langfristig geplanten Zusammenarbeit geführt.

 

Eckart Dietzselbinger rekonstruiert die Phasen der Nachkriegszeit um die Erinnerungsgeschichte des NS-Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg: Das kollektive Beschweigen der 50er Jahre, die darauf folgenden Fragen der zweiten Generation nach den Ereignissen der Geschichte in den 60er bis 80er Jahren und die dann einsetzende Universalisierung und Nationalisierung des Gedächtnisses. Als besonderes Projekt der dritten Phase stellt er das im Rahmen der „Vergangenheitsbewahrung“ realisierte „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ vor, zeigt die Entwicklungsschritte des am 4. November 2001 eröffneten Zentrums auf und setzt das Projekt in den Kontext der Erinnerungspolitik.

 

Im folgenden Artikel beleuchtet Heike Scharf einen bisher weitgehend unbekannten Vorfall: das Palmsonntagpogrom vom 25. März 1934 in der fränkischen Kleinstadt Gunzenhausen. Interessant an der auf der Basis von Gerichtsakten und zeitgeschichtlichem Material vorgenommenen Rekonstruktion der lokalen Ereignisse war die Zusammensetzung der Forschungsgruppe: Die Historikerin gewann eine Gruppe des Platen-Gymnasiums in Ansbach. Die detaillierte Rekonstruktion der Prozessakten wurde begleitet von Unterrichtseinheiten zur Entwicklung des Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Region, was auch dazu diente, eine bessere Verortung der historischen Fakten zu ermöglichen. Außerdem setzte sich die Gruppe auch mit Fragen der kritischen Quellenarbeit auseinander: Ist jeder historische Text per se glaubwürdig? Was ist wichtig für die heutige Erinnerung? 

 

Der Frage nach dem Stellenwert der Fotografie als Quelle der Erinnerung geht Christian Tagsold nach. Er stellt die These auf, dass erst durch die Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944“ die Fotographie als eine relevante Quelle für die Geschichtswissenschaften entdeckt und analysiert wurde. Parallel zur Debatte um die Ausstellung, die in hohem Maße ideologisch und unter dem Aspekt um kulturelle Hegemonie in der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus geführt wurde, wurden einige methodische Ansätze andiskutiert, die sich jedoch schwerpunktmäßig – korrespondierend zur politischen Debatte – um den Beweiswert der Fotografie als Quelle in der NS-Geschichte drehten. Tagsold plädiert für eine Öffnung dieser Auseinandersetzung, für eine Blickrichtung in sozialgeschichtliche Bereiche und betont den wichtigen Stellenwert der Fotografie als Quelle der Erinnerung für die Zukunft, in der persönliche Begegnungen mit ZeitzeugInnen weniger werden.

 

Die „Stürmer-Bibliothek“ und der Umgang mit geraubten Büchern ist das Thema des Beitrags von Jim G. Tobias. Ganz Europa, wo auch immer die jüdische Bevölkerung deportiert und ermordet wurde, wurde zum Fundus für die Bibliotheken des Julius Streicher, des Herausgebers des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“. Tausende Bände wurden von amerikanischen Truppen in seiner Privatbibliothek gefunden, genaue Zahlen über den Bestand der Redaktionsbibliothek differieren. Ausgegangen wird davon, dass die Raubgutsammlung Streichers etwa 12 – 15.000 Bände umfasste. In den folgenden Jahren wurde der Verbleib der jüdischen Bücher in unterschiedlichen jüdischen Kommissionen diskutiert – sollten sie in die USA oder nach Palästina gebracht werden? Entschiedene Stimmen sprachen sich gegen ein Verbleiben der Nazibeute in den kleinen „ghost communities“ in Europa aus. Es kam zu keinem einheitlichen Entschluss. Um die „Stürmer-Bibliothek“ und ihre bis heute nicht endgültig geklärte Zukunft kehrte Stille ein. Jim G. Tobias spricht sich für eine Restitution der Bücher an die, soweit recherchierbar, ursprünglichen Institutionen oder die Nachkommen der ehemaligen Besitzer aus. In einigen wenigen Fällen hatte diese Zielsetzung auf Initiative des Nürnberger Instituts Erfolg, eine grundlegende Entscheidung scheint jedoch aufgrund der unklaren historischen Unterlagen und divergierenden aktuellen Interessen in weiter Ferne.

 

Regionalhistorische Forschungen

 

Neben dem Schwerpunktthema zur Erinnerung sind in dem Jahrbuch weitere Beiträge zur regionalen Forschung publiziert: es werden Themen bearbeitet wie die Verwertung von Eigentum deportierter Juden und Jüdinnen in Fürth, die Rolle Nürnberger völkischer Aktivisten im „Hitlerputsch“ von 1923, DP-Waisenhäuser in der Region nach 1945 und die ungesühnten Verbrechen einer SS-Einheit aus dem fränkischen Pottenstein. Als renommierte Einrichtung in der Forschung wird das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung vorgestellt.

 

In allen Beiträgen demonstriert das Jahrbuch, einerseits wie eng die deutsche Vernichtungsgeschichte des 20. Jahrhunderts mit der Gegenwart des 21. Jahrhunderts verbunden ist und wie notwendig umgekehrt der Gegenwartsbezug in der Forschung ist.  Andererseits zeigt es auf, dass auch sechzig Jahre nach der Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes erhebliche Leerstellen in der Rekonstruktion dieser Geschichte bestehen, wie vor allem in den Artikeln mit regionalem Bezug deutlich wird.

 

Für das folgende Jahr plant das „Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte“ die Herausgabe einer Buchreihe „Hefte zur Regionalgeschichte“: Im ersten Heft werden die Verbrechen einer Nürnberger Polizeikompanie thematisiert werden. Das zweite Heft wird dem 100. Jahrestag der zionistischen Ortsgruppe Nürnberg gewidmet sein.

 

Verfolgen lassen sich die Aktivitäten des Instituts unter:

 

Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts

 

 

nurinst 2004

Jim G. Tobias / Peter Zinke (Hg.): Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Zwischen Amnesie und Aufarbeitung – Zur Kultur der Erinnerung

Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, ANTOGO Verlag Nürnberg 2004

ISBN 3-9806636-7-1

 

weitere Informationen zum Jahrbuch

 

 

 

 

gs / tacheles-reden.de / 2004-11-2