Geschichte, Identität, Biographie:
Entliehene Erinnerung

Eine Studie von Viola B. Georgi zu Geschichtsbildern junger Migranten und Migrantinnen in Deutschland...

Inga Börjesson - tacheles-reden


Wie eignen sich Jugendliche, deren Eltern oder Großeltern nach dem zweiten Weltkrieg nach Deutschland eingewandert sind, die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust an? Viola Georgi befragte im Zeitraum von 1997-1999 Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren mit familienbiographischem Migrationshintergrund nach ihren Geschichtsbezügen und nach ihrer Selbstverortung in der deutschen Gesellschaft.


„Aber halt zu wissen, dass es passiert ist und dass man es nicht verdrängen und nicht vergessen darf“ (Fatima, S. 179), mit dieser Grundhaltung sind die meisten der von V. Georgi interviewten Jugendlichen in das Gespräch hineingegangen. Weshalb sie dem Wissen über und der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus Bedeutung beimessen, und welche Aspekte ihnen dabei besonders wichtig sind, wird anhand von elf ausgewählten Interviews differenziert dargestellt.

Nach einer kurzen biographischen Skizze lässt Georgi die Jugendlichen selbst in langen Interviewpassagen zu Wort kommen, die sie im Nachgang zusammenfasst, interpretiert und kommentiert. Thematisch werden die Interviewabschnitte - nach der vorangestellten Eröffnungssequenz - an den von den Jugendlichen gesetzten Schwerpunkten strukturiert. Anschließend arbeitet Georgi vier unterschiedliche Thematisierungstypen heraus: In der ersten Typengruppe ist der Vergangenheitsbezug geprägt durch eine Identifizierung mit den Opfern des Nationalsozialismus; selbsterfahrene Diskriminierung wird vor dem Hintergrund der rassistischen nationalsozialistischer Politik interpretiert, Deutschland ist aus dieser Sicht v.a. das Land der ehemaligen Zuschauer, Mitläufer und Täter.

Typ zwei setzt den Focus des Interesses auf die Motive und Sichtweise der Zuschauer, Mitläufer und Täter. Es geht darum, nachvollziehen zu können, warum die Deutschen ein solches Unrechtssystem unterstützten. Dabei werden häufig die Mythen der Nachkriegsgesellschaft reproduziert („Wir haben von Nichts gewusst“; „Hitler hat die Arbeitslosigkeit bekämpft“ etc.). Georgi führt diese emphatische Teilhabe am kommunikativen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft auf den Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit zurück.

Typ drei zentriert die Geschichtskonstruktionen um das kollektive Gedächtnis der eigenen ethnischen Gruppe sowie der Familie. Die Geschichte des Nationalsozialismus wird ausschließlich aus der Perspektive dieser Gruppe erzählt. Historische Identität verliert dadurch ihren Optionscharakter und wird zur Verpflichtung gegenüber der eigenen Gruppe.

Typ vier orientiert sich vornehmlich an universalistischen Fragestellungen. Der Holocaust wird als Zivilisationsbruch in einen weltgeschichtlichen Kontext gestellt und als Folie zur Bewertung auch aktueller Menschheitsverbrechen genutzt. Das Wissen um die Abgründe der Menschheit verpflichtet zur gesellschaftspolitischen Verantwortung und erfordert Handlungsoptionen für die Zukunft.

Auffällig ist, wie stark die Jugendlichen den Bezug zur Gegenwart herstellen. Dabei geht es nicht nur um die von ihnen aufgestellten Analogien von Ausländerfeindlichkeit/Rassismus heute und Judenverfolgung während des Nationalsozialismus, sondern auch um die selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem eigenen Deutschsein und der Selbst- und Fremdwahrnehmung von ihnen als (künftige) deutsche StaatsbügerInnen.

Es ist sicher kein Zufall, dass gerade durch die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus die Fragen nach Identität und Zugehörigkeit für die befragten Jugendlichen dringender erscheinen. Ist der Nationalsozialismus doch nach wie vor ein zentrales Thema „in den Auseinandersetzungen um das nationale, kollektive und individuelle Selbstverständnis“ (S. 10) in Deutschland.

Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen sind konstitutiver Bestandteil der Diskurse um das kulturelle und politische Selbstverständnis einer Gesellschaft. Sie sind notwendig für die soziale Binnenintegration und kulturelle Identitätsbildungen. Dabei geht es nicht um eine scheinbar objektive wahrheitsgemäße Rekonstruktion der Vergangenheit, denn wie sie benannt, eingeordnet und interpretiert wird, verweist auf Perspektiven und Interessen der Gegenwart.

Aber entsprechen die öffentlich verhandelten Geschichtsbilder der heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung der bundesdeutschen Gesellschaft? Zurecht konstatiert V. Georgi: „Die wiederholt geführten Vergangenheitsdiskurse drehen sich zumeist ausschließlich um die (durch Abstammung begründete) deutsche Schicksals-, Verantwortungs- oder Haftungsgemeinschaft“ und fragt weiter: „ob und inwiefern das Festhalten an einem solchen historisch unterfütterten ethnisch-nationalen Selbstverständnis zum Ausschluss von Menschen nicht-deutscher Herkunft führen kann....Kann sie [die Gemeinschaft] Menschen mit anderen kollektiven Gedächtnissen und familienbiographischen Erinnerungen integrieren?“

An dieser Stelle greift die Fragestellung meiner Meinung nach zu kurz und zeigt einen Zwiespalt auf, welcher die (west-)deutschen Erinnerungsdiskurse von Anfang an begleitet hat: die Übernahme der politischen und moralischen Verantwortung für die Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen begangen wurden, hat dazu geführt, alle Opfergruppen und die meisten Widerstandsgruppen aus dem kollektiven Gedächtnis als „die Anderen“ auszugrenzen. Das ermöglichte z.B. Martin Walser, ein von Schuldzuweisungen geplagtes deutsches Volk zu konstruieren, aus dem er Ignatz Bubis aufgrund dessen Biographie als Verfolgter systematisch ausschließen konnte. Die Anforderung an historisch-politische Bildung ist, deutlich zu machen, dass alle Facetten gesellschaftlichen, politischen und individuellen Lebens die damalige Gesellschaft ausmachten, und somit die verschiedenen historischen Gedächtnisse in das kulturelle und politische Gedächtnis einer Gesellschaft als dazugehörig integriert werden müssen. Mit diesem Verständnis von Gesellschaft wäre der Diskurs um die Anerkennung von MigrantInnen als Teil der deutschen Gesellschaft auch offener.

Für Georgi liegt eine richtungsweisende Tendenz für historisch-politische Bildung in der universalistischen Art und Weise, wie die vierte Typengruppe sich der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust nähert. Hier sieht sie, „einen Weg, [der] ... aus einer exklusiven Erinnerungsgemeinschaft, die sich immer noch maßgeblich über ethnische Abstammung definiert und damit unweigerlich auch die Züge einen deutschen »Schicksalsgemeinschaft« trägt, [hinausweisen kann]. Die Alternative, die sich andeutet, wäre die Begründung einer Erinnerungsgemeinschaft, die Menschen unabhängig von ihrer jeweiligen ethnischen Zugehörigkeit(en) dazu anhält, an vergangene Generationen und Geschehnisse zu erinnern.“ Sie plädiert für eine Neukonzeptionierung der historisch-politischen Bildung als historisch orientierte Menschenrechtsdidaktik, die im Gedenken und Erinnern an die Massenvernichtung im Nationalsozialismus aktuelle Bezüge zu Menschenrechtsfragen der Gegenwart herstellt.

Die Diskussion, ob eine Universalisierung des Holocaust, wie sie z.B. für das öffentliche Bewusstsein in den USA konstatiert wird, der richtige Weg für die Erinnerungsdiskurse des Landes sein können, von dem der systematische Massenmord ausgegangen ist, wird durch diese Studie auf neue Weise angeregt.
Es bleibt die Problematik, dass in diesem Land die über Familien tradierten Geschichtsgeschichten die der Täter oder Opfer dieses konkreten Geschehens sind. Wie bedeutsam die Familiengeschichten auch noch in der dritten Generation nach dem Holocaust sind, belegen zahlreiche Studien, die sich mit den Auswirkungen auf die Nachkommen von Tätern und Opfern beschäftigen.

Diese von Viola Georgi vorgelegte systematische Untersuchung der Problematik sollten alle kennen, die im Bereich der politischen und historischen Bildung arbeiten. Sie ist aber, trotz des vielleicht etwas übergewichtigen theoretischen und methodischen Teils, nicht nur für LehrerInnen, DozentInnen, MitarbeiterInnen von Gedenkstätten oder WissenschaftlerInnen interessant und aufschlussreich, sondern für alle, die sich mit Fragen des Gedenkens und Erinnerns sowie mit den vielfältigen Realitäten und Identitäten der deutschen Einwanderungsgesellschaft auseinandersetzen möchten.


Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburger Edition, Hamburg 2003, 350 S., 30 Euro

gs / tacheles-reden.de / 2004-09-01