Für deutsche Politiker offensichtlich nicht relevant:
Gedenktage zum 60. Jahrestag der Liquidierung des Ghettos in Lodz

Am 29. August 2004 fand in Lodz der sechzigste Jahrestag der Liquidierung des Ghettos statt....

Gudrun Schroeter / Tanja Kinzel - tacheles reden

Nach ihrem Einmarsch am 8. September 1941 hatten die Deutschen die fast 250.000 jüdischen BewohnerInnen der Stadt, ein Drittel der Bevölkerung der Industriestadt Lodz, analog der Nürnberger Rassegesetze enteignet, vertrieben und, bis auf wenige, denen rechtzeitig die Flucht gelungen war, ermordet. In dem von den Deutschen so benannten Ghetto Litzmannstadt, das von 8. Februar 1940 bis zur Deportation der letzten Verbliebenen am 29. August 1944 bestand, waren phasenweise über 160.000 Menschen eingepfercht. Ab November 1941 wurden Juden und Jüdinnen aus Tschechien, Österreich, Deutschland und Luxemburg auf dem Weg in die Vernichtungslager in das Ghetto Litzmannstadt deportiert.

Über 3.500 Menschen aus verschiedensten Ländern – Überlebende, Nachkommen und Gäste trafen sich zur Gedenkfeier zum Jahrestag der Liquidierung des Ghettos Litzmannstadt. Anlässlich der Gedenkveranstaltung hatte die Stadt Lodz ein umfangreiches Rahmenprogramm organisiert. Bisher im Stadtbild unsichtbare historische Orte erinnerten mit Tafeln an das Ghetto, das im Ghetto eingerichtete Waisen- und Obdachlosenhaus, das so genannte Zigeunerlager – ein kleiner Häuserblock, in dem 5.000 Roma vor der Vernichtung eingesperrt waren, das Krankenhaus oder Häuser der internen Verwaltung waren mit Gedenkplaketten versehen worden.

Die ehemaligen Ghettos, die von den Deutschen, ob in Wilna, Lublin und auch in Lodz, in den ärmsten Stadtvierteln errichtet wurden, sind, wenn sie nicht komplett zerstört wurden, auch heute wenig restaurierte Wohngebiete. Die Stimmung am Vorabend der Gedenktage in Lodz in den Straßen des ehemaligen Ghettos schien gespannt. Während auf dem Rynek die ersten Reden gehalten und Bilder aus dem Ghetto auf eine Leinwand projiziert wurden, stieß man in den umliegenden Straßen auf durchaus feindselige Blicke. Weiß übertünchte Graffitis an den Häuserwänden des Viertels des ehemaligen Ghettos ließen ahnen, dass hier judenfeindliche Parolen kurzfristig übermalt worden waren. Dennoch waren an einigen Stellen immer noch die Spuren der konkurrierenden Fußballclubs zu erkennen: der Gegner wird als Jude beschimpft, im Sprühkampf in den Straßen wird dies durch einen Magen David im jeweiligen Kürzel des gegnerischen Vereins ausgedrückt. Antisemitismus ohne Juden, unter anderem ein Erbe des rassistischen Antisemitismus und der mörderischen Indoktrination während des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs in Polen. Die Veranstaltungen zum Gedenktag an die jüdischen Ermordeten und Überlebenden in Lodz fanden unter großem Polizeiaufgebot statt.

In der ehemaligen Fabrik des jüdischen Textilindustriellen Israel Poznanski, vor der Vernichtung einer der wichtigen Arbeitgeber der Stadt, wurde mit einer Fotoausstellung an die Kinder des Ghettos erinnert, begleitet von einem an mehreren Abenden stattfindenden Multimedia-Konzert. Kunst- und Fotoausstellungen in verschiedenen Lokalitäten der Stadt widmeten sich jüdischen Künstlern, zeigten Chassidim, die sich zu einem Treffen in Lewow eingefunden hatten, eine andere Fotographien des jüdischen Friedhofs in Lodz, der einer der größten in Europa ist.

Im Historischen Museum war die vom Fritz Bauer Institut und dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main konzipierte Ausstellung zur Geschichte des Ghettos zu sehen, die mit historischen Informationen und Fotos die Zeit des Ghettos dokumentiert. Ein Zeichen, das dieser wichtigen und informativen Arbeit mit historischen Quellen, die bisher nur auf einem Dachboden in einem Lodzer Hinterhof zu sehen gewesen war, nun ein gebührender Ort zugewiesen wurde? In einem weiteren Raum des historischen Museums wurden einzelne historische Werke jüdischer Maler – Chagall, Liebermann, Samuel Bak und viele andere – gezeigt. In einem Lodzer Kunstmuseum waren bisher unveröffentlichte Fotos aus dem Ghetto zu sehen, die nach der Liquidierung des Ghettos dort gefunden wurden. Sie geben Einblicke in eine Binnenperspektive, zeigen Szenen kulturellen Widerstandes. Fragezeichen hinter den Bildunterschriften oder fehlende Untertitelungen wiesen auf die noch ausstehende historische Rekonstruktion dieses Teils der Geschichte hin. Das Foto eines Kinderchors – doch wie lange existierte dieser Chor, welche Bedeutung hatte er im Ghetto? Nur eines der Bilder, die mit einem Fragezeichen versehen waren.

Der Bürgermeister der Stadt, Jerzy Kropiwnicki, hatte im Vorfeld der Gedenkveranstaltungen Aufforderungen an die Bevölkerung gerichtet, sich mit der Geschichte der Stadt auseinanderzusetzen. In seinen Reden betonte er seine Perspektive und die Motivation, die Gedenktage zu organisieren: nachdem er anfangs wenig über das Ghetto gewusst habe, habe er dem Hinweis seines Freundes, dem ehemaligen polnischen Außenministers Wladislaw Bartoszewski folgend, die Bedeutung der Gedenkfeierlichkeiten für die Überlebenden eingesehen. Und die Notwendigkeit sich auch mit diesem Teil der Geschichte der Stadt, die Jahrhunderte von den jüdischen BewohnerInnen mitgeprägt wurde, auseinanderzusetzen. Vor allem appellierte er an polnische ZeugInnen der Verbrechen, die nicht schweigen dürfen. Die meisten der Veranstaltungen, die nur für angemeldete Personen zugänglich waren, wurden über Monitore auf die vor den Veranstaltungsorten liegenden Straße oder Plätze übertragen, vor denen sich Interessierte sammelten.

Das offizielle Gedenken wurde am Sonntagmorgen mit einer Gedenkveranstaltung auf dem jüdischen Friedhof eröffnet: Ansprachen der Überlebenden Jehuda Widawski und Eljezer Zyskind, Psalmen und das eindringliche El Male Rachamim des Kantors Henry Miller, das Kaddisch. In einem Teil des Friedhofs ruhen auch viele Juden und Jüdinnen, die im Ghetto verstarben, an Krankheiten, Hunger oder Alter.

Es folgte der Marsch vom Friedhof zum Bahnhof Radogoszcs – für die Deutschen der Bahnhof Radegast, von dem sie die Menschen ab dem 16. Januar 1942 in die Vernichtungslager deportierten. Ab Mai 1940 hatten die Besatzer die in der Umgebung des Bahnhofs liegenden Häuser enteignet, die BewohnerInnen umgesiedelt und das Gebiet, umgeben mit Zaun und Stacheldraht, dem Gelände des Ghettos zugeteilt, um die Transporte der ZwangsarbeiterInnen zu den Arbeitseinsätzen, und später die Deportationen durchzuführen. Etwa 145.000 Menschen wurden vom „Umschlagplatz Radegast“ in die Vernichtungslager Kulmhof (heute Chelmno) und nach Auschwitz transportiert.

Im Bahnhof, der bis zu den Planungen zu dieser Gedenkveranstaltung dem Vergessen und Verfall preisgegeben war, wurde ein Museum errichtet, das Bahnhofsgelände wird nach dem Konzept Czeslaw Bielecki zu einem Memorial gestaltet, dessen Bauarbeiten bis zu diesem Tag noch nicht abgeschlossen sind. Hinter dem Gebäude des Bahnhofs ragen hohe Matsevot mit den Namen der Todeslager auf. Die Symbolik des Mahnmals hatte bereits im Vorfeld der Bauarbeiten für Diskussionen gesorgt. An der Zufahrtstraße steht ein von weitem sichtbarer, an ein Krematorium erinnernder Turm mit der Innschrift „Du sollst nicht töten“ in den Sprachen Polnisch, Englisch und Hebräisch. Erweitert werden soll er durch einen „Tunnel“, an dessen Wänden die Namen von einigen zehntausend ermordeten Juden und Jüdinnen zu lesen sein werden. Eine andere Idee hatte eine eher an das Ghetto erinnernde Konstruktion favorisiert, eine hölzerne Brücke etwa, wie diejenigen, die früher die einzelnen Teile des Ghettos über die für die Besatzer verkehrstechnisch wichtigen Straßen hinweg verbanden. An diesem Tag jedoch schienen diese Diskussionen in den Hintergrund getreten zu sein. Es wird allgemein als ein positiver Schritt gewertet, dass überhaupt an die Zeit der Vernichtung erinnert wird.

Angekündigt war in diesem Teil der Veranstaltung, in dem Repräsentanten politischer Gruppierungen, Botschafter der teilnehmenden Länder, des europäischen Parlaments – sehr lange und ohne Übersetzung für viele ermüdende – Reden hielten, auch ein Vertreter der BRD. Herr Wowereit, der als Bürgermeister einer der Städte, aus denen Menschen nach Lodz deportiert wurden, stellvertretend für andere reden sollte, erschien jedoch nicht. Ein Staatssekretär verlas im Auftrag des Bundespräsidenten ein paar recht allgemeine Zeilen. Verglichen mit den prestigeträchtigen Auftritten hochrangiger deutscher Politiker auf dem internationalen Parkett und angesichts der deutschen politischen und historischen Verantwortung ein Armutszeugnis. Es scheint in der neuen Identitätspolitik des vereinten Deutschlands keine Notwendigkeit mehr zu bestehen, Empathie zu zeigen und den Opfern der Vernichtung gebührend zu gedenken – und die Reise nach Athen zur Unterstützung der nationalen Sportelite ist allemal amüsanter.

Sonntagabend wurde mit einem Galakonzert im Wielki Theater in Lodz ein für die Ehrung der Überlebenden würdiger Abschluss gefunden. David Harris der Direktor des AJC (American Jewish Congress) und Ron Huldai, Bürgermeister von Tel Aviv fanden sehr persönliche Worte für das Gedenken an das Ghetto, die Toten und die Würdigung der Überlebenden. Krönender Abschluss des Abends war das Konzert der drei Kantoren: Benzion Miller (USA), Alberto Mizrahi (USA) und Yaakov Motzen (Kanada) sangen begleitet von dem Chor der Großen Synagoge in Jerusalem und dem Pianisten Dani Gildar (USA). Nicht nur in dem Saal des Theaters schien die Stimmung gerührt und gelöst, auch vor der Leinwand vor dem Theater hatten sich zahlreiche Interessierte versammelt.

Zwei öffentliche Veranstaltungen beendeten am folgenden Tag die Gedenktage: In dem Block des so genannten „Zigeunerlagers“ wurde der ermordeten Roma gedacht und auf Initiative einer Überlebenden des Lodzer Ghettos der Park der Überlebenden geschaffen, begründet von dem Bürgermeister Lodz´. In diesem Park pflanzten die Überlebenden des Ghettos ihre Bäume – jeder Baum ein Zeichen des Lebens über den Tod. Ein wenig aus der Reihe des Konzepts der Bäume der Überlebenden, aber umso bemerkenswerter war die Initiative einer Gruppe Schüler und Schülerinnen aus Düsseldorf und einigen Städten aus dem Ruhrgebiet: Die Gruppe Freiwilliger nahm an den Gedenktagen teil und pflanzten stellvertretend für die aus ihren Städten über Lodz in die Vernichtungslager deportierten Juden und Jüdinnen, von denen niemand überlebte, einen Apfelbaum.

Für die Teilnehmenden boten die Gedenktage die Möglichkeit der Begegnung über Grenzen und Generationen. Daneben ist die Suche um das Schicksal von Angehörigen nicht abgeschlossen, wie die lange Reihe von Suchanfragen im Hotel Central oder mitgetragene Suchschilder demonstrierten. Zu hoffen ist, dass die Initiativen in Lodz einen Impuls gesetzt haben – in der Stadt und darüber hinaus, dass nicht vergessen wird, was nicht vergessen werden darf und dass der Imperativ „Zachkor“ mehr denn je Gültigkeit hat.



gs / tacheles-reden.de / 2004-09-01