Frauenleben in Deutschland:
"Ich trage den goldenen Stern"

Die Geschichte einer Tochter des Exils, eine Frauengeschichte, die Geschichte wieder entdeckten Jüdischseins: die Autobiographie von Annette Kuhn zeichnet chronologische und diskontinuierliche Stränge eines Lebens, dessen zentrale Erfahrungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte angesiedelt sind...

Gudrun Schroeter

Das erste bedeutende Datum in ihrer Autobiographie ist für die 1934 in Berlin geborene Annette Kuhn der 30. Januar 1933 – die tiefste Zäsur in der deutschen Geschichte, ein nie wieder gutzumachender Kultureinbruch. „Erst langsam fasse ich Mut, die Trümmer zu berühren, die Leichen zu identifizieren, ihnen Namen, ihnen Leben in meiner Erinnerung zu geben. … Ich war noch nicht geboren, und doch glaube ich heute, damals dabei gewesen zu sein. Der 30. Januar 1933 – meine Geburtsstunde.“ (11)

Dieses Datum stellt den Bezugspunkt dar, um den sich Reflexionen und Fluchtlinien des Vorher und Nachher drehen und es symbolisiert einen Wendepunkt in der Lebensgeschichte der Mutter, die diesen Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung aus ihrem Kalender zu streichen sucht. Das Erkennen und Verstehen der Mutter und die sich wandelnde Tochter – Mutter – Beziehung durchzieht den Lauf der Lebenserinnerungen.

1937 emigrierte die Familie, der von den Nationalsozialisten als „Halbjude“ abqualifizierte Vater, Privatdozent der Philosophie, die jüdische Mutter und zwei Kinder über England in die USA. Annette Kuhn erinnert eine glückliche Kindheit im Exil, in der die Mutter sowohl vor der grausamen Realität auf dem europäischen Kontinent wie auch vor der eigenen Verfolgungsgeschichte einen Schutzwall errichtete. Sie ist für die Tochter eine Freundin und ein Vorbild, mehr jedoch sieht Annette Kuhn sich in dieser Zeit als Vater-Tochter, die den konservativen philosophischen Denker der Demokratie und erklärten Gegner des Nationalsozialismus bewundert. „Bis auf eine Winzigkeit: Diese Winzigkeit wurde später zum ausschlaggebenden Punkt: gerne war ich die Philosophentochter. Ich wollte aber mehr. Für mich suchte ich das Leitbild der Philosophin. Hier war mir meine Mutter näher.“ (47) 

Die Familie kehrte 1947 nach Deutschland zurück in der Hoffnung, in das „gute Deutschland“ (55) zurückzukehren. Die Mutter engagierte sich im „Hilfswerk 20. Juli“ und fungierte gemeinsam mit Helmut Gollwitzer und Reinhold Schneider als Mitherausgeberin eines Erinnerungsbuches, einer Sammlung von Briefen, der häufig letzten Kommunikation zwischen Familienangehörigen und den im Zusammenhang mit den Aktivitäten des 20. Juli Hingerichteten. Die Tochter reflektiert die auf die Veröffentlichung folgende Einsamkeit der Mutter: „Erst heute beginne ich die Ursachen für ihre Einsamkeit zu verstehen. Meine Mutter spielte eine Rolle im Nachkriegsdeutschland, die nicht spielbar war. Sie, die stolze Jüdin, hoffte insgeheim und zutiefst, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft akzeptiert zu werden, und verschwieg ihr Judentum. Zwischen ihr und ihrer Umgebung herrschte ein unausgesprochenes Abkommen: das gegenseitige Schweigeabkommen zwischen Juden und Deutschen, das beiderseitige Einverständnis mit den Adenauer-Normen des Verdrängens, der materiellen Wiedergutmachung und den Bequemlichkeiten eines judenfreien Deutschlands.“ (63) 

Offen bleibt für die Tochter die Frage, ob der Mutter, die ansonsten alle Belange der Familie entschieden in die Hand nahm, bewusst war, dass diese Identität verschweigende  „Rolle nicht spielbar, dass sie tödlich war“. (64)

Ihre Rolle während der Schulzeit in Deutschland erinnert Annette Kuhn als die einer Fremden in einer deutschen Schule – die einzige Remigrantin, der die Alltagsrituale der Mitschülerinnen nicht vertraut waren. Worüber lachten sie, worüber nicht? Das unbehagliche Gefühl im Klassenverband verstärkte die Fragen der Zurückgekehrten nach der Bedeutung des Begriffs „Heimat, the treasured word“, eine Heimat, die die Familie im Deutschland der „guten Deutschen“ hatte wieder finden wollen.

Eine Jahre später stattfindende Begegnung mit einer Klassenlehrerin, die sich in antisemitischen Tiraden verlor, lässt Annette Kuhn nachdenken über ihre Selbstempfindung in diesen frühen Jahren, in denen ihr ihre eigenen jüdischen Wurzeln nicht bewusst waren: „Mein Körper wurde aus judenfreien Zonen zusammengesetzt …“ (79) und sie charakterisiert damit auch die Stimmung in der homogenen deutschen Mehrheitsgesellschaft.

Es folgten das Studium, ein Stipendium in den USA, die Promotion bei Franz Schnabel und eine Phase der Begeisterung für die sozialgeschichtlichen Ansätze Werner Conzes und ihre Mitarbeit in der Gruppe, an die sie sich nicht ohne Scham erinnern kann. (Exkurs „Historikerzunft und Nationalsozialismus“)

Das Angebot, in Bonn einen Lehrstuhl für „Geschichte und ihre Didaktik“ anzunehmen, führte für Annette Kuhn zur Trennung vom Conze-Kreis, in dem sie sich nicht wohl fühlte, ohne jedoch damals zu erkennen, dass dort die wichtigsten Fragen der deutschen Geschichte nicht behandelt wurden. (93) In diesem Zeitraum konvertierte sie vom Protestantismus zum Katholizismus, wie schon zuvor ihre Eltern. Der Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini wurde ihr zu einem wichtigen Freund. Das Zusammenleben mit einer Freundin, ebenfalls aus gutem Hause, brachte ihr die für ihr Amt notwendige Sicherheit in der von Männern dominierten akademischen Welt. (109/110)

Geschichte und ihre Didaktik

Die erst 30jährige Professorin wählte Promethea, die Göttin der Phantasie, zu ihrer Begleiterin in dem Fachbereich „Geschichte und ihre Didaktik“ der pädagogischen Hochschule Bonn, der später der Universität angeschlossen wurde. Die Aufgabenbereiche waren noch nicht klar umrissen und zentrale Fragestellungen mussten erarbeitet werden. Mehr und mehr wurde ihr deutlich, dass Frauen das Doppelte und zusätzlich etwas ganz anderes leisten müssen, und dass sie lernen musste, „mit dem patriarchalen Gepäck, das ich mit mir herum schleppte kritischer, selbstbewusster um(zu)gehen.“ (153) Den Tod der Mutter beschreibt sie als eine Zäsur, die ihre Erfahrung von Zeit änderte. Sie erkennt, dass „Geschichte: eine Beziehungsgeschichte“ ist und erfährt sukzessive: „Beziehungswelten verbinden uns in der Zeit“ (155). Das Tor zur Frauenforschung war geöffnet und in der politischen Dynamik der 68er Bewegung drängten die Forderungen, die Frauen in der Universität und auf der Straße formulierten, in den akademischen Apparat. Annette Kuhn erlebte Frauen als treibende Kraft und Motor der Bewegung und widerspricht damit einem adaptierten Bild der Frau als Assistentin des rebellischen männlichen Studenten. Die Sympathie mit den Forderungen der Studentenbewegung ließ sie ihre aus ihrer Position an der Universität resultierende Zerrissenheit spüren, die sie mit dem Satz: „Hampelfrau – wer zieht an deinen Strippen?“ umschreibt, eine Metapher, mit der sie nicht zum ersten Mal ihre Position jenseits von Schwarz-Weiß-Schemata charakterisiert. In dieser Zeit entstand ihre „Einführung in die Didaktik der Geschichte“, die wiederum eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus einbezog. 

Reise in die Frauengeschichte

Die Frage nach der Rolle der Frauen in der NS-Zeit eröffnete die Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden patriarchalen historischen Diskurs und die Suche nach einer Geschichte jenseits dieses „frauenlosen Geschichtsbild(es)“ (167). Konkrete Konfrontationen in der Historischen Fakultät, etwa die Zulassung feministischer Themen und frauengeschichtlicher Perspektiven und Methoden in die institutionelle Prüfungsordnung verdeutlichen die Härte des Kampfes um die Definitionsmacht und die Hegemonie des patriarchalen Diskurses Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Das Insistieren auf feministischen Inhalten führte für die Professorin 1992 zu einem vier Jahre dauernden Ausschluss aus der Prüfungskommission. Wie sehr der alte männliche Zahn der Zeit in die Forschung verbissen ist, zeigt, dass nach der Eremitierung Annette Kuhns 1999 der Lehrstuhl, der im Jahr 1986 um das Lehrgebiet Frauengeschichte erweitert worden war, nicht mehr besetzt wurde und die Frauengeschichtsforschung in Bonn sich heute über Drittmittel finanziert. 

Parallel zu ihrem Kampf um Begriffe und Inhalte in der Institution reflektiert Annette Kuhn ihre ganz persönlichen Ursprünge der Frauengeschichte, die zwischen der starken Bindung an den Vater und dessen bildungsbürgerlicher Vorbildfunktion und den verborgeneren Wegen der Mutter oszillieren. Retrospektiv stellt sie fest, dass die Reise in die Frauengeschichte und deren wissenschaftliche Untersuchung und Bearbeitung die Hampelfrau „zusammen wachsen“ ließ (182).  

Sie schreibt ihre Biographie als Eremita, als eine Frau, die weiterhin Vergangenes und Vergessenes erforscht, und die erfährt, dass sie immer noch „bisher Übersehenes“ entdeckt (226), und die auf die Frage von Freundinnen, wofür sie gekämpft habe, lurianisch antwortet: „Die Tonvase, die bei meiner Geburt zerbrach, sie füge ich wieder zusammen. Ich finde in den Ecken die verlorenen Scherben.“ (208)


Exkurs: Historikerzunft und Nationalsozialismus

Wenn Annette Kuhn in ihren Erinnerungen an ihre Studienzeit und den Conze-Kreis mit Beschämung spricht, lässt sich das als eine retrospektive Erklärung lesen. Als angesehener Ordinarius, Mitglied der Wissenschafts-Akademien und Vorsitzender des Historikerverbands, war Werner Conze eine zentrale Figur des wissenschaftlichen Betriebs. Er galt als einer der innovativsten Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, öffnete den Blick auf die westliche Forschung, plädierte für eine Rezeption der französischen „Annales-Schule“ und entwickelte seine Methoden in eine neue Richtung zur Analyse der Strukturgeschichte.

Dass die relativ anonymen Kategorisierungen seiner Strukturgeschichte, die die individuelle Verantwortung Einzelner in Forschung und Leben in den Hintergrund treten ließen, deutliche Affinitäten zur ehemaligen „Volksgeschichte“ aufwiesen, wurde im Fall Conze erst Ende der 80er Jahre durch neu zugängliches Archivmaterial wahrgenommen. Und erst zu diesem späten Zeitpunkt entbrannte, ausgelöst von jungen WissenschaftlerInnen, innerhalb der historischen Zunft die Debatte um die Verstrickung der Wissenschaft in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und Ideologie und um die Verantwortung einzelner Wissenschaftler.

Werner Conze hatte seine Laufbahn als „Volkshistoriker“ in der völkischen Ostforschung begonnen. Neben dem Historiker Theodor Schieder hatte er von der Universität Königsberg aus an der wissenschaftlichen Ausarbeitung der deutschen Volksgeschichte geforscht. Gegenstand der Forschung waren die Ostgebiete, Begriffe wie „Entpolung“ und „Entjudung“ Bestandteile des Vokabulars. 1943 lehrte er an der „Reichsuniversität Posen“.

Die späte Kritik richtete sich einerseits gegen die inhaltliche Verstrickung der historischen Wissenschaft in die Kriegspläne der Nationalsozialisten als kriegswichtige Wissenschaft und somit Verstrickung in die Verbrechen. Andererseits verurteilte sie die jahrzehntelange Vertuschung dieser Tatsache einmal durch das Schweigen der Protagonisten selber, richtete sich aber auch gegen deren Schüler, die sich weder mit der Vorgeschichte ihrer akademischen Lehrer noch mit deren Gegenstandsbereichen auseinander gesetzt hätten.

(Literaturvorschläge zu dieser Auseinandersetzung: Götz Aly / Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung, 1993; Peter Schöttler: Geschichtswissenschaft als Legitimationswissenschaft, 1997; Götz Aly: Macht, Geist, Wahn, 1997; Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, 2001)

Annette Kuhn: Ich trage den goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland, Aufbau-Verlag, Berlin 2003

 


 

gs / tacheles-reden.de / 2004-06-15