Arnold Schönbergs Moses und Aron in der Berliner Staatsoper:
Der Konflikt des Abstrakten mit dem Konkreten

Die Berliner Staatsoper hat sich zum diesjährigen Auftakt ihrer Festwochen auf das Wagnis eingelassen, das unvollendete Werk Schönbergs „Moses und Aron“ zu inszenieren. Pünktlich zu Pessach wurde das Stück bereits zweimal - am 04. und am 10. April - aufgeführt. Eine Herausforderung, die anzunehmen gelungen ist. ...

Tanja Kinzel - tacheles reden

Als Schönberg im Sommer 1922 seinen Schülern während eines Spaziergangs anvertraute: "Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist", konnte er nicht ahnen, welche Wirkungen das sich ausweitende Problem deutschen Vorherrschaftsanspruchs über zehn Jahre später für seine Musik und sein Leben entfalten sollte. Was er entdeckt hatte, war die Zwölftonreihe, mit der er sich von seinen vormals spätromantischen Kompositionen verabschieden sollte. Das Prinzip der aus allen zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter gebildeten Reihe besteht darin, dass kein in dieser Reihe enthaltener Ton wiederholt werden darf, bevor alle anderen verwendet wurden.

 

Sein umfangreichstes und komplexestes Werk, dessen Partitur auf nur zwölf aufeinander bezogenen Tönen basiert, ist die unvollendete Oper „Moses und Aron“. Voller stolz wies er in seinem Aufsatz „Komposition mit zwölf Tönen“ darauf hin: „Ich konnte sogar eine ganze Oper `Moses und Aron` auf einer einzigen Reihe basieren lassen.“ Seine Ausarbeitung des Librettos stellt eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem biblischen Stoff des Alten Testaments dar: dabei geht es um Fragen der Auserwähltheit des jüdischen Volkes und seines Bezuges zu Gott – verwoben mit der philosophischen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Inhalt und Form und der Frage nach der Vermittelbarkeit. „Erwartet nicht die Form vor dem Inhalt“, dieser Ausspruch Arons an das ungeduldig auf Moses Rückkehr wartende israelische Volk ist gleichzeitig Synomym für Schönbergs eigene Komposition: Form und Inhalt fallen zusammen, auch in ihrer Sperrigkeit, gleich aufwühlend, fesselnd und gewaltig….

 

Die Entstehung der Oper „Moses und Aron“ fiel in eine Zeit, in der sich Schönberg, vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden und zuspitzenden Antisemitismus in Deutschland und Österreich, zum Judentum zurückorientierte. 1921 reiste der, in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsene und 1898 zum Protestantismus konvertierte, Schönberg mit seiner Familie nach Mattsee, einem seinerzeit beliebten Ferienort im Salzburger Land. Als ihm ein sich selbst wohl als „arisch“ verstehender Sommerfrischler mit einer Abbildung auf einer Postkarte zu verstehen gab, dass Juden hier unerwünscht seien, war Schönberg von dieser Begegnung mit dem rassistischen Antisemitismus so schockiert, dass er fluchtartig den Ort verließ. In der Folgezeit setzte er sich verstärkt mit jüdischen Themen auseinander und beschäftigte sich mit zionistischem Gedankengut. Diese Auseinandersetzung findet in dem dreiaktigen Schauspiel „Der biblische Weg“ ihren Ausdruck, an dem er zwischen 1926 und 1927 arbeitete und dessen Thema die Gründung eines modernen jüdischen Staates „Neupalästina“ ist.

 

In den Nachkriegswirren des ersten Weltkrieges war Schönberg Teil einer Avantgarde, die im Zuge der Aufbruchsstimmung nach neuen künstlerischen Wegen suchte. Die Verwendung von atonaler Musik und die Entdeckung der Zwölftonreihe waren von der Auseinandersetzung mit expressionistischer, abstrakter Malerei und moderner Literatur und Musik beeinflusst. Musikalisch und in der Verwendung der Oper zur Behandlung weltanschaulicher Themen steht Schönberg aber zugleich in der konservativen Tradition des Antisemiten Richard Wagner. Wagner hatte, indem er die Tonalität an ihre Grenzen gebracht hat – insbesondere in der Oper Tristan und Isolde -, den Weg für Schönbergs Überwindung der Tonalität geebnet.

 

Die dreiaktige Oper „Moses und Aron“ , in der er auf geniale Weise die Auseinandersetzung zwischen Abstraktem und Konkreten musikalisch vergegenwärtigt, war ursprünglich als Kantate mit dem Titel „Moses am brennenden Dornbusch“ konzipiert und 1928 von ihm als dreiteiliges Oratorium weiterbearbeitet worden. Zwischen 1930 und 1932 komponierte er die Musik für die ersten zwei Akte als Oper. Sie bildet, obwohl Fragment geblieben, den Höhepunkt seiner Bemühungen um das Musiktheater. Nachdem Schönberg 1933 die Berliner Akademie der Künste aufgrund der sich durchsetzenden nationalsozialistischen Linie verlassen und aus Deutschland fliehen musste, rekonvertierte er in Paris zum Judentum. Auch nach seiner Emigration in die USA verfolgte er den Plan die Oper fertig zustellen, den er jedoch nie realisierte. Die Frage warum die Oper letztlich Fragment blieb, wird in der Literatur vielfach behandelt – favorisiert werden Argumentationen, die die Ursache in der inhaltlichen Problematik des Stoffes sehen.

 

Der zentrale Konflikt in der Oper verläuft zwischen Moses, der den reinen Gedanken, das Abstrakte, das Bildverbot repräsentiert und Aron dem Vermittler zwischen Bild und Gedanken, seinem Sprecher. Schönberg hat, um sein Anliegen zu verdeutlichen, zwei für ihn zentrale Stellen aus der biblischen Geschichte ausgewählt: die Berufung Moses zum Missionar des israelischen Volkes und die Geschichte vom Tanz um das Goldene Kalb. Gleich in der ersten Szene erhält Moses aus dem brennenden Dornbusch heraus den Auftrag Gottes, das Volk Israels aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit zu führen. Auf den Einwand Moses, dass er Gott zwar denken könne, rhetorisch aber unbegabt sei – „meine ungelenke Zunge“, wird ihm Aron, sein Bruder, als Redner zur Seite gestellt, auf den er in der Wüste treffen soll. In dieser Szene ist der Konflikt bereits angelegt: Aron, sprachbegabt, einfühlsam für die Bedürfnisse des Volks, bezweifelt, ob das Volk einen Gott lieben kann, den es sich nicht vorstellen darf, während Moses am reinen Gedanken festhält - „unerbittliches Denkgesetz zwingt zur Erfüllung“. Aron verschreibt sich jedoch der Idee, die Israeliten aus der Knechtschaft zu befreien und zugleich das Unmögliche möglich zu machen: die Zustimmung des Volkes zu dieser religiösen Revolution, zum Glauben an einen Gott, der keine Nähe zulässt, dem nichts Menschliches zu eignen scheint, zu erwirken.

 

Die Inszenierung in der Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim und der dramaturgischen von Peter Mussbach schafft es, insbesondere im ersten Akt diesen Konflikt beeindruckend umzusetzen. Beeindruckend meistern der Bariton William White, als Moses, im Srechgesang und der Tenor Thomas Moser diese Auseinandersetzung, in der die beiden nicht eigentlich miteinander, sondern vielmehr aneinander vorbei reden – von Schönberg musikalisch in der Überlagerung ihrer Stimmen ausgedrückt. Das Volk erscheint in der Staatsoper als gesichts- und geschlechtslose Masse aus der Retorte - und verkörpert doch, bekleidet mit schwarzer Sonnenbrille, Anzug und Schlips, das männliche Prinzip – gewollt oder ungewollt eine analytische Wahrheit. Ununterscheidbar von Aron, dem Sprachrohr, gleitet es über die Bühne und hardert und zaudert angesichts der Verkündigung des „einzigen, unvorstellbaren, unüberblickbaren, unendlichen, allgegenwärtigen“ Gottes. Soll es Moses und Aron folgen, die versprechen, es ob seiner göttlichen Auserwähltheit aus Ägypten herauszuführen und damit aus der Knechtschaft zu befreien? Der von Eberhard Friedrich hervorragend einstudierte Chor, „die Kinder Israels“, drückt das Wechselspiel der Gefühle, Momente des Zweifelns und der Hoffnung meisterhaft aus. Der Chor repräsentiert das Massenverhalten, einzelne Solisten, die von Zeit zu Zeit aus der Masse heraustreten, sind nicht als Individuen hervorgehoben, sondern verleihen verschiedenen Meinungen und Stimmungen im Volk Ausdruck.

 

Den Hintergrund für diese aufwühlende musikalisch präzise und zugleich temperamentvoll gestaltete Szene bildet eine einfache, moderne Beton– und Eisenkonstruktion, dunkel gehalten wie eine Fabrikhalle, die es vor allem schafft, die Aufmerksamkeit auf dem Geschehen zu belassen. Abstrakt und wenig bildhaft ist die szenische Umsetzung, abstrakt und dennoch sinnlich erfahrbar bleiben auch die Wunder, die Aron dem Volk anbietet, als Moses schon verzweifeln will. Nachdem er Moses´ Stock, als Symbol für das starre Gesetz, in eine Schlange – Sinnbild der intellektuellen Gewandtheit – verwandelt und Moses´ Hand mit Aussatz versehen und wieder geheilt hat, stimmt das Volk, überzeugt von der Macht des neuen Gottes, in Lobeshymnen ein – bereit den beiden zu folgen. Der Warnung des hohen Priesters, dass es in der Wüste nichts zu essen gebe, entgegnet Moses - seinen Worten zufolge ist es die „Reinheit des Denkens“, die das Volk in der Wüste nähren, erhalten und entwickeln soll. Aron verspricht ihm mehr: die Verwandlung von Sand in Frucht, Gold, Wonne und Geist. Mit der Verwandlung von Wasser in Blut symbolisiert er die Notwendigkeit der Befreiung aus der Knechtschaft des Pharao – und schafft es endgültig die Masse zu gewinnen.

 

Die Forderung nach der Reinheit des Denkens, nach Abstraktion, ist es letztlich, die im zweiten Akt zum Stimmungsumschwung führt. Das Volk, das seit 40 Tagen auf Moses Rückkehr vom Berg der Offenbarung wartet, wo ihm Gott das Gesetz übergeben will, ist selbst abgespalten von der Offenbarung des einzigen Gottes und verliert die Hoffnung auf Einlösung des Versprechens der Auserwähltheit, das sinnliche Moment schlägt um in Raserei. Als die hohen Priester Aron angesichts der drohenden Exzesse um Hilfe bitten, verliert Aron, der Sprecher, seine Sicherheit. Von dem Volk, das auch vor physischer Gewalt nicht zurückschreckt, mit der Forderung nach der Wiedereinsetzung der alten Götter in Bedrängnis gebracht, bemerkt Aron, dass sein Wort seinen Bann verloren hat und gerät selbst ins Zweifeln. Weil ihm das Volk letztlich wichtiger ist als Gott, bietet er ihm mit den Worten „Ihr sollt glücklich werden“ ein Götzenbild an.

 

Was nun folgt ist - auch in der musikalischen Gestaltung - das Gegenteil von Moses Gottidee - heidnische Opferrituale werden praktiziert. Mit der Aufforderung „Verehret Euch selbst in diesem Sinnbild“ überlässt Aron dem Volk das Götzenbild. Folgerichtig ist das Abbild bei Mussbach ein Abbild des Volkes - eine Sonnenbrille tragende Statue. Dem Wechselspiel von Fanfaren und Paukenschlägen, die die Opfergaben ankündigen, und Musik von großer Innerlichkeit, entspricht jedoch kein Ausdruck auf der Bühne. Das Volk tappt wahlweise mit Blindenstöcken im Dunkeln oder hinterlässt dort flimmernde Bildschirme, die als allzu platt moralischer Fingerzeig gesehen werden könnten für die moderne Götzenverehrung. Was nach Schönbergs Regieanweisung Raserei, Freitod, Menschenopfer und wilde Orgien sind, rollt sich bei Mussbach nur stöhnend über die Bühne, robbt wie Käfer um die Statue und windet sich im Dunkeln am Boden. Absolute Hoffnungslosigkeit – die Zäsur? Vielleicht hätte man sich hier etwas mehr dramaturgische Abwechslung gewünscht, was auf der Bühne bleibt, ist ein Menschenknäuel. Auch die Verwandlung der drei Gläubigen: des Jünglings in den Märtyrer, des Mädchens in die Opferjungfrau und des Mannes in den Anführer der Stammesfürsten, bleibt letztlich nur musikalisch zu verfolgen.

 

Als Moses mit den Gesetzestafeln vom Berg hinunter steigt, zerstört er das Götzenbild mit einem Wort – es verblasst und das Volk zerstreut sich. In seiner darauffolgenden Auseinandersetzung mit Aron entwickelt sich aus wechselseitigen Vorwürfen und Rechtfertigungen, eine Diskussion um den richtigen Weg der Vermittlung des Glaubens, eine Rückkehr zu dem ersten Motiv – dieses Mal jedoch als Dialog, in dessen Zuge Aron Moses vorwirft, sich mit den Gesetzestafeln selbst ein Bild gemacht zu haben. Daraufhin zerschmettert Moses die Tafeln und gerät ins Zweifeln: Vielleicht habe ich mir auch nur ein Bild gemacht? Mit den Worten „Oh Wort, du Wort, das mir fehlt“, sinkt er auf die umgekippte Statue und der Vorhang fällt.

 

Der reine Gedanke macht wortlos – unfähig zur Kommunikation und einsam - vielleicht auch Synomym für Schönbergs eigene Einsamkeit, dessen radikale musikalische Neuerungen beim zeitgenössischen Publikum mehrheitlich auf Ablehnung stießen. Nur in Kombination mit der Vermittlung kann eine Brücke geschlagen werden, eine Brücke zum israelischen Volk. Und das Volk? – es scheint unmündig – ihr seid die Kinder Israels sagt Aron und nicht fähig den Gedanken zu erfassen. Vermittlung reicht ihm nicht aus, das Volk fordert die Abbildung, das Konkrete, Fassbare und scheint genau deshalb in seiner Unmündigkeit befangen – mit offenem Ausgang, ein Ausgang, der in Mussbachs Inszenierung recht düster erscheint und historisch durchaus folgerichtig ist.

Die hohen Ansprüche, die sich aus der programmatischen Verflechtung von Text, Sprache, Gesang und Musik ergeben, werden auf wunderbare Weise gemeistert. Als eine Welt, die längst untergegangen scheint, stimmt die Inszenierung nicht nur nachdenklich, sondern wühlt zugleich auf – und lohnt auf jeden Fall.

 

Weitere Termine:

26. und 29.6. und 01.07. 2004

 

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gs / tacheles-reden.de / 2004-04-15