Ponar:
Die geheimen Notizen des K. Sakowicz

Auschwitz ist zum Synonym für die industrielle Massenvernichtung der Juden geworden, Ponar steht für eine andere Art des Massenmordes, die "manuelle" Vernichtung...

Gudrun Schroeter - tacheles reden

... In dem kleinen Ort unweit von Wilna, heute Vilnius, Litauen, wurden über 100.000 Menschen, etwa 70.000 jüdische, von Deutschen und litauischen Kollaborateuren erschossen. Zu Beginn dieses Jahres veröffentlichte der ANTOGO Verlag die deutsche Übersetzung (Elisabeth Nowak) des 1999 in Polnisch erschienen Buchs „Dziennik – Pisany w Ponarach“.

 

Die Geschichte der Aufzeichnungen

 

Es ist Rachel Margolis zu verdanken, dass diese Aufzeichnungen veröffentlicht wurden. Sie arbeitete Anfang der 90er Jahre im Jüdischen Museum in Vilnius (Vilna Gaon Jewish State Museum), als den MitarbeiterInnen des Museums die Aufzeichnungen zugänglich wurden. Seit der auf ein Dekret Stalins erfolgten Schließung des ersten jüdischen Museums in Wilna nach der Shoah im Jahr 1949 hatten die Dokumente im Litauischen Staatsarchiv mit dem Stempel ´unleserlich` gelagert. Rachel Margolis, die im Wilnaer Ghetto Mitglied der Widerstandsorganisation F.P.O. und Mitarbeiterin von Herman Kruk in der Ghettobibliothek war, entzifferte die in Heften, auf Zetteln und Kalenderblättern festgehaltenen Notizen von Kazimierz Sakowicz. Unter Zuhilfenahme zusätzlicher Quellen, von Tagebüchern, Zeugenaussagen und zeitgenössischen Publikationen rekonstruierte sie den letzten Weg der unschuldigen Frauen, Männer und Kinder, die in Ponar umgebracht wurden. Auch die bürokratisch akkurat geführten Mordlisten der Einsatzgruppe 3 und ihres Kommandeurs Karl Jäger gehörten zu den Unterlagen, die sie zusammentrug, um das Bild dieses von Deutschen verordneten und kommandierten und größtenteils von litauischen Männern durchgeführten Massenmordes zu vervollständigen.

 

In ihrer Einführung zur deutschen Ausgabe zitiert Rachel Margolis aus dem Tagebuch von Herman Kruk vom 4. September 1941 kurz vor der Errichtung des Ghettos, wo dieser sich ungläubig fragt, ob alle, "die man von hier abtransportiert hat, ermordet worden sein sollen, erschossen in Ponary?" Rachel Margolis resümiert, dass die Aufzeichnungen Sakowicz´ eine wichtige Ergänzung zu den schon bekannten Dokumenten darstellen, um ein Bild über das letzte Schicksal der Verschleppten zu zeichnen. Die jüdischen Menschen in Wilna, ab September 1941 im Ghetto eingesperrt, „konnten es sich nicht vorstellen, dass die Kulturnation Deutschland alle Juden töten wollte; sie waren fest überzeugt, dass Ponary ein Arbeitslager sei.“ (16) Nur langsam sickerte nach dem Aufruf der F.P.O. Ende des Jahres 1941 – indem auch geschrieben war: „…Alle Wege der Gestapo führen nach Ponar. Und Ponar ist der Tod! …“ – die grausame Wahrheit durch, vermochte jedoch den Zweifel und die Nichtvorstellbarkeit dessen, was passierte, nicht ausräumen.

 

Rachel Margolis rekonstruiert die Ereignisse über die Chronologie der Aufzeichnungen hinaus. Im Herbst 1943 hatten die Deutschen eine Zwangsarbeitsgruppe jüdischer Männer zusammengestellt, die die Spuren in Ponar zu beseitigen hatten. Claude Lanzmans Film „Shoah“ beginnt mit dem Augenzeugenbericht eines Überlebenden aus dieser Gruppe, die verurteilt war, die Tausenden von Leichen zu verbrennen. Einigen von diesen Männern gelang es, einen Tunnel zu graben und trotz strengster Bewachung zu entfliehen. Rachel Margolis erinnert sich an die Ankunft dieser Geflüchteten bei den Partisanen in den Rudniki-Wäldern und daran, dass sie noch Monate später glaubten, den Leichengeruch an den Körpern der geflüchteten Überlebenden zu riechen.

 

Der Blick in den Abgrund

 

Kazimierz Sakowicz lebte zur Zeit der Massenvernichtung in Ponar und beobachtete von einem Versteck auf dem Dachboden seines Hauses die grausamen Ereignisse. Der Chronist Sakowicz wurde am 15. Juli 1944 von einem Litauer ermordet. Am 4. November 1943 schreibt er: „ … Ich konnte das nicht länger beobachten, weil ich fürchtete verdächtig zu werden. Sie gucken mich sowieso misstrauisch an.“ (134) Zwei Tage später enden die Notizen. Ob seine Beobachtungen der Grund waren, ihn zu töten, ist nicht bekannt. Wie die Informationen über sein Leben weisen auch die Aufzeichnungen Lücken auf, die hier bearbeiteten hatte er in Limonadenflaschen im Wald von Ponar vergraben. Für Rachel Margolis ist es eine offene Frage, ob noch weitere Notizen existieren und noch nicht gefunden sind oder ob die Täter sie haben rechtzeitig vernichten können. (13)

 

Ponar (jidd.), Ponary (poln.), Panierai (lit.), eine kleine, im Wald verstreute Ansiedlung, war vor dem Zweiten Weltkrieg ein beliebter Erholungsort für die Wilnaer Bevölkerung. 1940 hatten die sowjetischen Behörden am Rande des Dorfes begonnen, ein Nachschublager für Heizöl zu errichten. Diese noch im Rohbau befindlichen Gruben sollten nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und dem Einmarsch in Litauen und den baltischen Ländern die Massengräber für tausende Menschen werden.

 

Sowohl wegen der (Sicht-)nähe des Vernichtungsgeländes zum Dorf, als auch wegen der Bahn- und Straßenverbindungen, auf denen die Menschen transportiert wurden, geschah der Massenmord keineswegs in aller Heimlichkeit. Wie nah das Geschehen am – und auch im – Alltag der dort wohnenden Bevölkerung passierte, dokumentieren die Aufzeichnungen des K. Sakowicz. Es ist der Blick in den Schlund der Hölle, aber auch ein Blick auf das Geschehen an ihrem Rand.

 

Kazimierz Sakowicz begann seine Aufzeichnungen am 11. Juli 1941: „Das Wetter ist recht schön, warm, weiße Wolken. … vom Wald (kommen) Schüsse. Anscheinend finden dort Übungen statt. … Auf der Grodzienka erfahre ich, dass man viele Juden in den Wald getrieben hat. Und plötzlich schießt man auf sie.

… Am nächsten Tag, dem 12. Juli, am Samstag, wissen wir bereits, was das bedeutet, als um circa drei Uhr nachmittags eine große Gruppe von Juden – ungefähr 300 Leute – in den Wald geführt wird. Überwiegend Intelligenz, gut gekleidet, mit Koffern, bekannt aus dem Wirtschaftsleben. Eine Stunde später begannen die Gewehrsalven.“ (51)

 

Während Kazimierz Sakowicz diese Zeilen schrieb, etwa drei Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen in Wilna, hielten jüdische Chronisten und Tagebuchschreiber ihre Erlebnisse von Menschenjagden in den Strassen von Wilna fest, die Angst und ständige Alarmbereitschaft vor den Chapones (Häschern). Beschrieben wurden auch die Verluste von Freunden und Familienangehörigen, nicht wissend, dass das vorgesehene Ziel für die Verschleppten nur wenige Kilometer von Wilna entfernt der Tod war – von den Deutschen wurden die Verschleppungen als Zwangsmaßnahmen für Arbeitseinsätze deklariert.

 

Von nun an beobachtete Sakowicz das Geschehen an den Gruben von Ponar, das aus den oberen Stockwerken nahe gelegener Häuser zu sehen war. Er verfolgte die Perfektionierung der Mordaktionen, notierte die Zahlen von Menschentransporten – Männer, Frauen, Kinder, die an einigen Tagen in die Tausende reichten, zählte die Stunden der Gewehrsalven, notierte Autokennzeichen der Transportfahrzeuge und dokumentierte den Tathergang sowie einzelne Ereignisse von Flucht- und Rettungsversuchen.

 

Auffällig sind die Kontraste in der Beschreibung, immer wieder scheint sein Blick in den Himmel und die idyllische Landschaft zu schweifen; verschränkte Sinndaten, die auf ein traumatische Moment in der Beobachtung weisen:

 

„23. Juli 1941 Ein schöner Tag. Es wurden ungefähr 500 Personen hergetrieben. … 30. Oktober Ein schönes sonniges Wetter. Um 9 Uhr morgens kommen 4 Lastwagen mit litauischen Soldaten und Offizieren an. Bald (folgen ihnen) 4 LKWs mit alten Frauen und Kindern. Die Schiesserei beginnt. …“ (52/64)

 

Schimmert das Traumatische in den Aufzeichnungen immer wieder durch, so ist die Beschreibung der Ereignisse generell sachlich und auf das Detail bedacht. Empathie mit den Opfern gibt es in diesen Aufzeichnungen nicht. Das, was passiert, was beobachtet wird, wird an einigen, wenigen Stellen als schrecklich, als unglaublich bezeichnet, doch tauchen weder Fragen nach einem eventuellen oder möglichen Eingreifen in das Geschehen auf, noch führen Gedanken in diese Richtung. Der Blick bleibt distanziert. Rachel Margolis weist in dem israelischen Film „Out of the Forest“ (Israel 2003), der auf der Grundlage der Aufzeichnungen entstand und auf der diesjährigen Berlinale zu sehen war, auf diese kalte Dokumentation hin und schließt nicht aus, dass Kazimierz Sakowicz seine Unterlagen für eine Zeit nach dem Ende des Krieges geschrieben hat, um sie in irgendeiner Form weiter zu verwerten.

 

Und Kazimierz Sakowicz beobachtete weiter, nicht nur, wie die litauischen Freiwilligen in Bewachungs-, Transport- und Erschießungsorganisation involviert waren, sondern auch das Nutznießen von Teilen der Bevölkerung in Ponar: Es entstand ein reger Handel mit den Kleidern der Ermordeten. Das Bahnwärterhäuschen wurde zum Warenumschlagplatz. In „Out of the Forest“ charakterisiert ein Augenzeuge das Geschehen: „Waren für die Deutschen 300 Juden 300 Menschenfeinde, waren sie für die am Handel Beteiligten in Ponar 300 Paar Stiefel.“ Auch das Geschäft mit selbst gebranntem Schnaps florierte, den die Mörder massenweise während ihres Handwerks konsumierten.

 

Es waren vor allem litauische Männer, die den nationalsozialistischen Plan an den Gruben ausführten. In den Aufzeichnungen taucht jedoch immer wieder der „vom Sehen ´Bekannte`, der Gestapo- Offizier mit Brille“ (hier: 75) auf. Martin Weiss, Waffen-SS und ab Sommer 1941 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Litauen. Gemeinsam mit August Hering koordinierte und beaufsichtigte er alle Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung, einschließlich der Exekutionen.

 

Ponar – deutsche Geschichte und Gerichte

 

Jim G. Tobias, der die deutsche Ausgabe der „Aufzeichnungen“ zusammen mit Rachel Margolis herausgegeben hat, stellt die Vorgänge in Ponar in einen historischen Kontext nationalsozialistischer Verfolgungspolitik.

 

So lagen Koordination und Durchführung der Morde gegen die jüdische Bevölkerung im Auftragsbereich der Einsatzgruppen – „mobile Todesschwadrone, die sich aus Mitgliedern des Sicherheitsdienstes (SD), der Sicherheitspolizei (SiPo) und der SS zusammensetzten ….“ (25). Die im Rückraum der Wehrmacht in Osteuropa agierenden Einsatzgruppen A bis D ermordeten in der zweiten Hälfte 1941 etwa 500.000 Menschen. Bis zum 20. Juli 1941 war in Wilna und Umgebung das Einsatzkommando 9 der Einsatzgruppe B (Filbert) stationiert, dann das Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A (Jäger).

 

Jim G. Tobias ergänzt die Veröffentlichung um einen wichtigen Beitrag, der auch auf die juristische Aufarbeitung des Massenmords in Ponar in der BRD, der DDR, Polen und der Sowjetunion thematisiert.

 

Auf zahlreiche juristische Dokumente und Urteile zurückgreifend, werden u.a. Stationen des Prozesses gegen den wegen tausendfacher Tötungsdelikte angeklagten „Gestapo-Offizier mit Brille“ Weiss und seines Mittäters August Hering vor dem Würzburger Schwurgericht im Jahr 1959 aufgezeigt. Es war der erste Prozess gegen Angehörige der Einsatzgruppen: Nach nur sieben Tagen verurteilte das Gericht beide Männer zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Zu Beginn des Jahres 1971 jedoch wurden auf eine Entschließung des Bayrischen Justizministeriums hin die Strafen zur Bewährung ausgesetzt. 1977 schließlich wurde die Strafe Weiss auf dem Gnadenweg ganz erlassen. Ähnlich verlief der Fall Hering. In weiteren Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Einsatzgruppen wurde eine Hauptverhandlung niemals eröffnet.

 

In der DDR wie in Polen beschäftigten die Prozesse gegen Angehörige der Mordkommandos keine größere Öffentlichkeit. Informationen über verhängte Freiheitsstrafen und weitere Entwicklungen versickerten. In Litauen selber begannen die sowjetischen Behörden zwar direkt nach dem Einzug der Roten Armee mit Vernehmungen, doch gibt es bis heute kein genaues Bild des Ausmaßes der Kollaboration. Erst 1994 wurden erste Zahlen über Verurteilungen durch sowjetische Gerichte veröffentlicht.

 

In „Out of the Forest“ beschreibt Rachel Margolis ihre Motivation, das grausame Geschehen zu rekonstruieren: Sie, die Naturwissenschaften studierte, um Fragen des Humanismus nicht zu einer zentralen Fragestellung ihres beruflichen Lebens machen zu müssen, habe mit dieser Arbeit ihrer ermordeten Familie und allen unschuldig Ermordeten erinnern und gedenken wollen. All diesen Menschen ist das Buch gewidmet ist.

 

Rachel Margolis / Jim G. Tobias (Hg.):

Die geheimen Notizen des K. Sakowicz

Nürnberg 2003, 12,80 €

http://www.antogo-verlag.de/index.htm

 

Berlinale 2004

Out of the Forest – Mikivun haya´ar

gs / tacheles-reden.de / 2004-02-17