Pressekonferenz:
"Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost"

Am Dienstag, den 3. Februar 2004, stellte sich in Berlin im Haus der Demokratie die Gruppe der EJJP Deutschland - European Jews for a Just Peace - der Öffentlichkeit vor....

Gudrun Schroeter - tacheles reden

„Wir, Frauen und Männer jüdischer Herkunft in Deutschland, haben uns vereinigt, um sichtbar zu machen, dass wir aus der historischen Erfahrungen unserer Vorfahren um die Entwürdigung und den Schmerz zu wissen, die Menschen zugefügt werden, wenn sie systematisch ausgegrenzt und entrechtet werden. Es darf sich kein Volk über ein anderes Volk und kein Mensch über einen anderen Menschen erheben. Alle Menschen sind mit gleichen Rechten geboren.“ So stellt sich die Gruppe „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ in ihrem „Vorläufigen Selbstverständnis“ dar.
 
 Die „Jüdische Stimme“ in Deutschland gründete sich im November 2003 als Teil einer Föderation von mittlerweile zwanzig vornehmlich jüdischen Friedensorganisationen aus zehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ziel des noch sehr jungen Zusammenschlusses von Gruppen ist es, in Europa ein Engagement für die Beendigung der israelischen Besatzungspolitik in Palästina zu entwickeln, die Gründung eines palästinensischen Staates und eine Koexistenz zweier Staaten zu erreichen.
 
 Nicht in unserem Namen
 
 Richard Kuper, der Generalsekretär des Exekutivkomitees der EJJP aus Großbritannien, bekräftigte die Notwendigkeit herauszustellen, dass die israelische Regierung nicht für alle Juden in der Welt sprechenkönne: „Die illegale Politik der Besetzungen, der Errichtung von Siedlungen, der extralegalen Tötungen, der Kollektivstrafen, der Zerstörung von Häusern und der Bau der so genannten Trennungsmauer sind alle mit weitreichenden Verletzungen der Menschenrechte von Palästinensern verbunden sowie mit Verstößen gegen die IV. Genfer Konvention. Als Juden erklären wir unsere Opposition gegen diese Politik und sagen „Nicht in unserem Namen“.
 
 Die repressive Politik der Regierung Sharon bedrohe auf lange Sicht auch die Sicherheit Israels und fördere langfristig nicht nur den Fundamentalismus auf beiden Seiten, sondern auch die Unlösbarkeit des immer gewalttätiger werdenden Konflikts. Eine scharfe Verurteilung sprach er gegenüber den Selbstmordattentaten aus, für die es keine politische und keine moralischeRechtfertigung gebe. Ein Ende der Gewalt sei jedoch nicht durch weitere Repression zu erreichen, die einzige Möglichkeit sei das Ende der Besatzung.
 
 Forderungen an die europäischen Regierungen
 
 Ziel der Gruppen ist es innerhalb der Länder der Europäischen Union all jenen Gruppen und Individuen Gehör zu verschaffen, die auf israelischer und palästinensischer Seite für Frieden und Gerechtigkeit zwischen beiden Völkern eintreten und an die jeweiligen Regierungen zu appellieren. In der Presseerklärung zum heutigen Tag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich den Forderungen anzuschließen, die
 
 1. den Internationalen Gerichtshof um die Erstellung eines Gutachtens zu den Rechtsfolgen des Baus der Trennungsmauer ersuchen;
 
 2. die Menschenrechtsverletzungen verurteilen, die infolge des Baus der Mauer entlang des geplanten Verlaufs entstehen … ;
 
 3. den Diskussionsprozess unterstützen, der mit der Genfer Übereinkunft initiiert wurde sowie alle ernsthaften Schritte zu verstärken, die wirksam für einen gerechten Frieden sind;
 
 4. den Aufruf des Europäischen Parlaments unterstützen, alle besonderen Privilegien, die Israel auf der Basis des Assoziationsabkommens gewährt wurden, auszusetzen, bis die israelische Regierung so, wie das Abkommen es vorsieht, „die Menschenrechte und Demokratieprinzipien achtet“.
 
 Richard Kuper erläuterte, dass der letzte dieser Punkte nicht mit einem Boykottaufruf verbunden sei, sondern es darum gehe, dass die Prinzipeien des Vertrags eingehalten werden.
 
 Jüdische Pluralität
 
 Leah Czollek, Autorin (Berlin), schloss in ihrem Statement an die Ausführungen Kupers an, nicht die israelische Regierung und keine andere Institution können in ihrem Namen sprechen oder zu handeln vorgeben. Ihre eigenen Beweggründe zur Aktivität in der Gruppe erklärt sie auch vor dem Hintergrund ihrer familiären Erfahrungen, die Erfahrungen der Trennungslinien und des Ausschlusses waren. „Und was ich (…)mitgenommen habe ist, dass wir etwas tun müssen. Die im Denken so gar nicht selbstverständliche Pluralität ist meine Hoffnung. Dass es nämlich neben Gewalt, neben Rassismus, neben Antisemitismus Menschen gibt, die sich davon nicht beirren lassen und auch nicht von den Zwängen der Kultur und ihre Stimme für ein friedliches Miteinander erheben.“ Diese Pluralität sieht sie auch in der Zusammensetzung der Gruppe „Jüdische Stimme“, deren unterschiedliche Mitglieder sich an dem Thema treffen, der Gewaltspirale im Nahen Osten ein Ende setzen zu wollen.
 
 Für Marianne Degginger-Unger, die den Nationalsozialismus versteckt überlebte, sind ihre Erfahrungen der Diskriminierung, der Degradierung zum Untermenschen der Motor sich gegen Menschenrechtsverletzungen zu engagieren. Diese, ihre eigenen Verletzungen und ihr emotionales Engagement führten sie zu der Gruppe der EJJP, was nicht heiße, dass die Erlebnisse ihrer Geschichte und die heutigen Ereignisse unbedingt vergleichbar seien.
 
 Die Sprache der Kritik
 
 Einer Gleichsetzung der politischen Situation des Nationalsozialismus und der gegenwärtigen Situation widersprachen die VertreterInnen der „Jüdischen Stimme“ auf Nachfrage vehement. Es sei jedoch eine Schwierigkeit, eine vollkommen unbelastete Sprache zu finden, etwa angesichts der Situation in Tulkarem an ein anderes Wort als Ghetto zu denken, so Richard Kuper. Kuper, der seine Jugend als aktiver Zionist in Südafrika verbrachte, thematisierte auch aus dieser politischen Erfahrung heraus Fragen der Übertragbarkeit der Begriffe und die Probleme der Sprache, die in repressiven Situationen entstehe angesichts konkreter kollektiver Verletzungen, Ausgangssperren und Checkpoints.
 
 Auch Ruth Fruchtman, Autorin (Berlin, Krakow), betonte, wie wichtig es sei, dass die Welt wisse, dass es Juden und Jüdinnen gebe, die die Haltung der Regierung Israels nicht teilen.
 
 Antisemitismus und Israelkritik
 
 Sie berichtete von einer Initiative, die sie vor zwei Jahren mit einem Aufruf initiierte, das eigene Rückkehrrecht als Jüdin nach Israel zurückzugeben – ein Rückkehrrecht, das alle Juden in Anspruch nehmen können, das jedoch für palästinensische Menschen nicht existiert. Um diesem Aufruf zu folgen und die Konsequenzen zu tragen, sei es allerdings unabdingbar, dass jüdische Menschen sich in den Ländern, in denen sie leben sicher fühlen. Ängste seien in Deutschland andere als in anderen Ländern. Ohne ein Ausmaß an Bedrohung oder Unsicherheit qualifizieren zu wollen, befördern Meldungen über fremdenfeindliche Angriffe, Morde an Obdachlosen nicht das Gefühl von Sicherheit. So folgten diesem Aufruf in den USA oder Großbritannien weitaus mehr Menschen als in Deutschland. Die generelle Ungleichbehandlung der jüdischen und palästinensischen Menschen an diesem Punkt lasse aber nichtsdestotrotz die Wut der arabischen Menschen verstehen.
 
 VertreterInnen der „Jüdischen Stimme“ waren sich einig, dass der in einigen Regionen Europas wachsende Antisemitismus nicht flächendeckend eine Kritik an der israelischen Regierungspolitik verunmöglichen darf. Leah Czollek betonte die Notwendigkeit, Antisemitismus im jeweiligen Kontext seiner Erscheinungsformen zu analysieren. Das uralte Muster des Antisemitismus, das älter ist als der Staat Israel, funktionierte auch immer unabhängig von jüdischen Handlungen oder Aktivitäten. Wachsamkeit gegenüber Erscheinungsformen des Antisemitismus in Europa sei ebenso geboten, wie der Aufruf an die Regierungen diesen zu verurteilen und zu verfolgen, so Richard Kuper.
 
 Die Presseerklärung der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ schließt: Eine legitime und sichere Existenz des israelischen Staates hängt auch davon ab, inwieweit er den palästinensischen Nachbarn ein Leben in Würde ermöglicht.
 
 Für den 7. Februar 2004 rufen verschiedene Initiativen und Gruppen, so auch die „Jüdische Stimme“ zu einer Protestkundgebung „Die Mauer muss weg! Gerechter Frieden statt Apartheid“ auf. Kundgebung um 16.00 Uhr am Checkpoint Charly, Berlin, Friedrichstraße

DG / tacheles-reden.de / 2004-02-03