Durchgangsghettos im Distrikt Lublin:
"Vorzimmer der Vernichtung"

Dokumentation nach einem Vortrag von und Interview mit Robert Kuwalek, Historiker der Gedenkstätte Majdanek in Lublin...

Tanja Kinzel – tacheles-reden

„Als im November 1942 ein polnischer Jude aus Zamosc, einem kleinen Ort im Distrikt Lublin nach einem 24km langen Fußmarsch abends in Izbica ankam, war die Stadt voll von Leuten, die auf ihren Koffern saßen und gewartet haben,… in den Häusern, auf den Straßen, einfach überall, und er hatte den Eindruck, dass Izbica ein einziger großer Bahnhof ist, wo die Leute auf ihren Weitertransport warten….“, so schildert Robert Kuwalek die Situation in Izbica, einem der drei Durchgangsghettos in Polen, kurz vor der Liquidierung. Und tatsächlich, sagt er, Ziel von diesen Durchgangsghettos sei ja auch gewesen, die Juden und Jüdinnen dann weiterzutransportieren, denn die Durchgangsghettos seien als “Vorzimmer der Vernichtung“ der verlängerte Arm der Gaskammern gewesen.

Während Auschwitz als Symbol für die Vernichtung der europäischen Juden zum Synomym schlechthin geworden ist, ist weitaus weniger über andere Lager, wie beispielsweise Treblinka, Belzec und Sobibor bekannt, die als reine Vernichtungslager im Rahmen der „Aktion Rheinhard“ im Distrikt Lublin zur industriemäßigen Ermordung der bis dahin in den Ghettos lebenden jüdischen Gemeinden eingerichtet wurden. In diesem Zusammenhang spielen auch die fast völlig in Vergessenheit geratenen Durchgangsghettos eine zentrale Rolle. Robert Kuwalek, Historiker der Gedenkstätte Majdanek, dessen Forschungsschwerpunkt die Geschichte und das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Zusammenhang mit der „Aktion Reinhard“ ist, hat sich mit der Planung und Entstehung der Durchgangsghettos sowie mit den Lebensbedingungen und Konflikten der dort zusammengepferchten jüdischen Bevölkerung auseinandergesetzt.

Bei den Durchgangsghettos handelte es sich um Einrichtungen, die es in dieser Form nur im Generalgouvernement (heutiges Ostpolen) im Rahmen der Aktion Rheinhard gab. Im Februar 1942 kurz nach der Wannseekonferenz wurde auf Befehl aus Berlin von Globotnik, dem Chef von SS, Polizei und Verantwortlichem für die „Aktion Rheinhard“ im Distrikt Lublin die Einrichtung von Transitghettos vorbereitet. Der „Einsatz Reinhard“, benannt nach dem SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, dem Koordinator der „Endlösung der Judenfrage“, der im Mai 1942 in dem von deutschen Truppen besetzten Tschechien von tschechischen Widerstandskämpfern ermordet wurde, richtete sich nicht nur gegen die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernement, sondern ebenso gegen die dorthin deportierten Juden und Jüdinnen aus Deutschland, Österreich, Tschechien und anderen Ländern. Die Aktion Rheinhard dauerte von März 1942 bis November 1943. In den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka und dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek wurden in diesem Zeitraum zwei Millionen Menschen ermordet. Das Ausmaß der Morde zeigt, wie Robert Kuwalek betont, wie groß das Ausmaß des gesamten Projektes war, denn in der kurzen Zeit wurden dort mehr Menschen umgebracht, als während der gesamten Zeit des Bestehens von Auschwitz Birkenau. Die Juden, die in den Distrikt Lublin deportiert wurden, kamen aus Deutschland (ca. 10 000), aus Tschechien (ca. 15 000) und aus der Slowakei (ca. 40 000), sowie in einer zweiten Welle 1943 aus Holland (etwa 40 000). Während dieser zweiten Deportationswelle waren die Durchgangslager bereits liquidiert und so wurden seit Juni 1942 Transporte aus der Slowakei, aus Deutschland oder Holland direkt nach der Selektion in der kleinen Stadt Lublin oder in Sobibor in Arbeitslager in der Umgebung von Sobibor oder in eines der Vernichtungslager deportiert.

Durch die Durchgangsghettos wurden mehr als 40.000 ausländische Juden geschleust, die sich mit den dort bereits ansässigen Juden auf engstem Raum einrichten mussten. Die Orte und Städtchen, in denen diese Transitghettos eingerichtet wurden, wurden nicht nach dem Kriterium ausgewählt Platz zu haben, um möglichst viele Menschen unterzubringen, wie Kuwalek betont, sondern ausschlaggebend war lediglich die Lage an den Bahnstrecken zu den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Das größte der Durchgangsghettos war Izbica, wo vor dem Krieg ungefähr 5 000 Menschen wohnten und insgesamt 26 000 Jüdinnen und Juden durchgeschleust wurden, das zweitgrößte war Piaski, dort lebten vorher 7 000 Menschen und 14 000 wurden dorthin deportiert und schließlich gab es noch Rejowiec, wo vor dem Krieg 2 000 Menschen lebten und das 10 000 Juden und Jüdinnen durchlaufen haben. Durchgangsghettos gab es aber auch in Opole Lubelskie, Deblin, Zamosc, Chelm Wlodawa und Miedzyrzec Podlaski.

Konflikte zwischen Zivilverwaltung und SS

Die unterschiedliche Verteilung der Zuständigkeiten von SS, deutscher Zivilverwaltung und Wehrmacht in den besetzten Gebieten führte häufig zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Instanzen, die jeweils die alleinige Entscheidungsgewalt für sich beanspruchten und unterschiedliche Interessen verfolgten. Als 1942 mit der Einrichtung der Durchgangsghettos begonnen wurde, führte dies, wie Kuwalek berichtet, sofort zu einem Konflikt zwischen der SS und der dortigen deutschen Zivilverwaltung. Die deutsche Zivilverwaltung war der Meinung, es gäbe nicht genug Platz, um so viele Menschen aufzunehmen, während die SS den Plan verfolgte, erst die polnischen Juden wegzuschaffen, um dann die Jüdinnen und Juden aus anderen Ländern dort unterzubringen. „Aber in Wirklichkeit sah es anders aus, weil die polnischen Juden als die Transporte aus dem Ausland ankamen, immer noch da waren“, so Kuwalek. „Das hat zu einem sehr großen Chaos geführt und die jüdischen Hilfsorganisationen, die die Ankommenden unterbringen sollten, haben gar nicht gewusst wohin mit ihnen“ erzählt er.

Zeitzeugnisse

Die Briefe der deportierten Jüdinnen und Juden aus den Durchgangsghettos gehören, so betont Kuwalek, neben den Zeitzeugenberichten der wenigen Überlebenden und nichtjüdischer polnischer BeobachterInnen zu den wichtigsten Informationsquellen, die uns über das Schicksal dieser Menschen berichten. Laut einer Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes von Mai 1942 wurde es bei Todesstrafe verboten, Briefe aus dem Lubliner Distrikt in den Westen zu verschicken: „Am Anfang konnten die Deportierten nach Deutschland oder Tschechien Briefe schicken, aber natürlich war es so, dass sobald sie angefangen haben zu schreiben, wie es dort wirklich aussah oder um Geld, Lebensmittel und alles Mögliche gebeten haben, in dem Moment hat die SS natürlich gesehen, dass es so nicht geht und dass sie nicht wollen, dass diese Informationen weitergegeben werden.“ Wenn dies dennoch geschah, wurden die Briefe konfisziert und die Todesstrafe auch tatsächlich ausgeführt. So verloren die deportierten Juden und Jüdinnen schon bald den Kontakt mit ihren Angehörigen und FreundInnen zu Hause.

Kulturschock

Neben Unverständnis und Verzweiflung gegenüber der Situation, der entwürdigenden Zustände und Behandlung, zeugen die erhaltenen Briefe von dem Kulturschock, den es für die Deportierten bedeutete, in die Durchgangsghettos zu kommen. Denn aus dem Zusammentreffen der größtenteils assimilierten Juden und Jüdinnen aus Deutschland, Österreich oder Tschechien und der ansässigen jüdischen Bevölkerung ergaben sich zahlreiche Probleme.

„Der erste Schock für die Leute, die dort angekommen sind“, erzählt Kuwalek, „waren die schlechten Lebensbedingungen. Die als Durchgangsghettos ausgesuchten Städtchen waren sehr arm. Es gab kein fließendes Wasser, kaum Toiletten und kaum etwas zu essen und die neu Eingetroffenen waren von den alten, teilweise verrotteten Holzhäusern sehr schockiert.“ „Der zweite Schock, der dann auf sie zukam war, dass sie in Häuser gesteckt wurden, in denen zum Teil schon Familien lebten und es wohnten dann oft 15 Personen in einem Zimmer“, berichtet er weiter. Und der dritte Schock sei dann gewesen, dass die polnischen Juden sehr orthodox religiös waren und die aus den anderen Ländern Verschleppten in ihren Augen eigentlich schon gar nicht mehr Juden waren, weil sie teilweise getauft waren. „Es war ein großer Kulturschock für beide Gruppen“, fasst Kuwalek die Situation zusammen, „sowohl für die polnischen Juden als auch für die Deportierten aus dem Ausland, weil große kulturelle Unterschiede zwischen ihnen bestanden.“

Zeitzeugen haben versucht, ihm diese Situation anschaulich zu machen. So habe ihm eine ältere Frau aus Izbica erzählt, wie sich in ihrer Erinnerung die tschechischen Juden verhielten, als sie dort ankamen: Eine Gruppe tschechischer Juden habe jeden Morgen Löcher in den Garten gegraben und abends habe sie sie wieder zugeschüttet und am nächsten Tag habe sie wieder neue ausgehoben… und die Frau habe ihm erzählt, dass alle polnischen Juden schockiert waren – warum sollte man diese Löcher ausheben und Toiletten bauen, wenn man doch auch so in den Garten oder die Umgegend gehen könne. Eine andere Geschichte aus Wlodawa behandelt die religiösen Unterschiede: „Dorthin kamen Juden aus Österreich“, berichtet Robert Kuwalek, „und die polnischen Juden waren schockiert über diese Juden mit dem gelben Stern, die aber trotzdem am Sonntag in die Kirche gegangen sind.“

Konflikte zwischen unterschiedlichen Kulturen auf engstem Raum

Dieser Kulturschock ist nur zu verstehen, wenn man sich die unterschiedlichen Hintergründe der verschiedenen jüdischen Gruppen vor Augen führt, die im Ausnahmezustand und auf engstem Raum aus unterschiedlichen Kulturen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten aufeinander trafen. „Juden aus Österreich , Tschechien, Deutschland und der Slowakei waren meist gut ausgebildet, sie hatten häufig eine Universitätsausbildung hinter sich, waren Ärzte, Rechtsanwälte, etc. kamen also aus der so genannten Intelligenz“ gibt Robert Kuwalek zu bedenken, „und begegneten dann dort in den letzten Momenten des Lebens den Juden aus dem Osten“. Entsprechend unverständlich und abfällig wurde auch über die jeweils andere Gruppe gesprochen: „So haben deutsche oder tschechische über polnische Juden gesagt, sie seien dreckig und primitiv … Und polnische Juden dachten über deutsche: das seien keine Juden, sie kochten sogar Milch und Fleisch im selben Topf, das seien Leute von der Gestapo, die man also eigentlich töten müsste…“. Die grundsätzlichen Unterschiede drückten sich auch in der Kleidung aus, fasst Robert zusammen: „Die polnischen Juden zogen sich traditionell an, sie trugen Bärte und Schläfenlocken und die jüdischen Menschen aus den anderen Ländern waren sehr viel moderner angezogen.“

Unter anderem diese Faktoren waren Gründe, dass es wenig Solidarität unter den verschiedenen Gruppen in den Durchgangslagern gab. Als ein Beispiel für die mangelnde Solidarität nennt Kuwalek den Handel. Anfangs, als die Transporte aus dem Ausland noch mit Gepäck kamen, hatten sich die Durchgangsghettos schnell zu Zentren des Handels entwickelt. So durften deutsche Juden zwar nicht mehr als 50 kg Gepäck mitnehmen und auch keine Wertgegenstände, sondern nur Dinge, die zur Arbeit notwendig waren, aber diese hatten trotzdem meist eine bessere Qualität und damit einen größeren Wert, als das, was die Juden in Izbica besaßen. So seien nach Izbica anfangs auch Einwohner aus Warschau gekommen, die mit Geld handelten, weil es dort DM gab. „Es ist natürlich so, dass diejenigen, die dorthin kamen, sich überhaupt nicht auskannten mit den Preisen und das führte dazu, dass diejenigen, die mit ihnen gehandelt haben, sie betrogen haben“, erzählt Kuwalek. Obwohl die Durchgangsghettos in landwirtschaftlichen Gegenden lagen, also nicht unbedingt ein Versorgungsproblem habe entstehen müssen, wurde die Nahrung von der SS vorsätzlich verknappt, berichtet er. Die Ernährungslage und damit auch die Bedeutung des Handels habe sich zudem sofort verändert, als die vielen tausend Menschen aus anderen Ländern in die Durchgangsghettos gekommen seien: „Das führte sofort zu einem Problem in der Versorgungslage, weil es nicht genug Nahrung gab und besonders für die ausländischen Juden war es so, dass die Preise für Essen/Ernährung sehr schnell hochschossen, etwa auf den gleichen Stand wie im Warschauer Ghetto.“

„Ich habe Leute gefragt“ erzählt der Historiker,“ wie das aussah mit der dem Handel und sie berichteten, es sei wie auf einem ganz normalen Schwarzmarkt gewesen, man versuchte, möglichst viel herauszuholen und so wurde schon mal ein Laib Brot gegen eine goldene Uhr oder einen Edelstein gehandelt.“ Man habe also alles kaufen können, es sei nur eine Frage des Geldes gewesen. Und diese problematische Situation verschärfte sich, als die Menschen, die dort ankamen, überhaupt kein Gepäck mehr bei sich hatten: „Es kam sehr oft vor, dass sie auch ihre eigene Kleidung für Nahrung verkauften und so führte es schnell zu großem Hunger ….und natürlich kam es durch Mangelernährung und die grausamen Bedingungen zu Epidemien.“ Der Totengräber von Izbica habe ihm erzählt, dass allein in Izbica in einem Monat 3000 Jüdinnen und Juden an Typhus gestorben seien. „Und genauso, wie man das auch aus dem Warschauer Ghetto hört, sind die Leute auf der Straße gestorben, v.a. ausländische Juden, weil sie an die Verhältnisse dort nicht gewöhnt waren... und Arbeit gab es sowieso nicht.“

Deutschen Lügen: der Arbeitseinsatz

Für die jüdischen Deportierten aus Tschechien, der Slowakei, Deutschland und Holland war die Situation zusätzlich unverständlich, weil sie davon ausgingen, zur Zwangsarbeit nach Polen deportiert worden zu sein. „Laut Zeitzeugenberichten von Überlebenden und polnischen Augenzeugen“, erzählt Kuwalek, „waren die Deportierten sicher, dass das Ziel ihrer Deportation war, sie im Osten zur Arbeit zu schicken.“ Deshalb fragten sie die örtlichen Bewohner nach den Fabriken, in denen sie arbeiten sollten. „Es gibt ein Zeugnis von einem Polen, der in Piaski am Bahnhof arbeitete und ein tschechischer Jude, der dorthin kam, fragte ihn, ob es denn wahr sei, dass es dort Fabriken gäbe und er habe dann geantwortet: hier in Piaski gab es noch nie Fabriken. In dieser Gegend gab es keine Industrie, das war eine rein landwirtschaftliche Region – da gab es keine Arbeit“, berichtet Kuwalek.

Gleichzeitig bereiteten die Deutschen eine Propagandaaktion vor, in der verbreitet wurde, dass es den Deportierten im Osten gar nicht so schlecht gehe: „So gibt es einen Brief von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde aus Stuttgart, den sie wahrscheinlich unter Zwang der SS geschrieben haben und in dem beschrieben ist, dass Izbica so ist wie ein Kurort, dass auch 40 Ärzte mitgefahren sind aus Deutschland, dass es ihnen sehr gut geht, dass sie dort in der Landwirtschaft arbeiten… - es wurde also ein sehr positives Bild gezeichnet. Und in diesem Brief steht auch geschrieben, dass es rund um das Ghetto Arbeitslager gibt und dass sie dort auch besser ernährt werden als die polnischen Arbeiter.“ Tatsächlich, berichtet er weiter, habe es auch ein Arbeitslager dort in der Nähe von Izbica gegeben und es sei auch so gewesen, dass die Juden dort besser ernährt wurden als in Izbica, aber das sei auch schon alles gewesen, dafür hätten sie bis zu zehn Stunden am Tag im Wasser stehen müssen. So habe es in Izbica 50 Gramm Brot und ½ Liter Suppe am Tag gegeben und in dem Arbeitslager 150 Gramm Brot und 2x am Tag Suppe. Tatsächlich habe es auch eine Gruppe von sehr ausgezeichneten Ärzten gegeben, aber in Izbica existierte kein Krankenhaus, das wurde nur sehr notdürftig in der Synagoge eingerichtet. „Leute aus Izbica, die bis heute da leben, erzählten, wie das Krankenhaus aussah, dass die Kranken dort auf Stroh lagen und der Operationstisch ein Küchentisch war. Und eine Frau aus Izbica sagte mir, das Krankenhaus sei kein Ort gewesen, um geheilt zu werden, sondern um zu sterben, also in das Krankenhaus seien nur diejenigen gekommen, von denen klar war, dass die nächsten Tage nicht überleben.“

Sprachprobleme …

Das Zusammenleben der verschiedenen jüdischen Gruppen wurde, wie Robert Kuwalek betont, zusätzlich dadurch erschwert, dass es Probleme mit der Sprache und damit der Kommunikation gab. Im Fall der tschechischen Juden war das Problem geringer, da das Polnische dem Tschechischen ähnlich ist, aber ganz anders sah es in Bezug auf die deutschsprachigen Juden aus: „Wenn auch die polnischen Juden vielleicht noch etwas Deutsch verstehen konnten, weil das Jiddisch dem Deutschen sehr ähnlich ist, konnten umgekehrt die deutschen die polnischen Juden überhaupt nicht verstehen, d.h. dass es überhaupt keine privaten Kontakte gab“, so Kuwalek.

Diese Tatsache war auch bedeutsam in Bezug auf das Wissen um die Todeslager. Da im Distrikt Lublin die Distanzen zwischen den Städten nicht sehr groß sind, verbreiteten sich die Gerüchte darüber, was mit den Juden geschah, sehr schnell, erst unter der polnischen nichtjüdischen Bevölkerung und dann auch unter den Juden, jedoch nur unter den polnischen Juden: „Belzec lag auf dem Weg von Lublin nach Lwow (Lemberg). Es war nicht etwa ein Lager, versteckt im einem tiefen Wald, es lag sehr nah an der Hauptbahnlinie. So gelangten die ersten Gerüchte über die Transporte und dass niemand lebend aus den Lagern herauskam, von den Bahnarbeitern an die polnische Bevölkerung. So kamen die Gerüchte auch bei den Juden an. Aber da es keine Kontakte zwischen den polnischen Juden und den aus anderen Ländern Deportierten gab, gab es auch keinen wirklichen Austausch über das Schicksal der Juden generell.“

… und das Wissen um die Vernichtung

Selbst diejenigen Deportierten, die zur Selektion die Vernichtungslager durchlaufen hatten, die also dort selektiert und dann weitergeschickt wurden in ein Arbeitslager, hatten – so nimmt Robert Kuwalek an - von der Vernichtung häufig keine Ahnung. Er berichtet von einer Frau, die nach dem Krieg interviewt und gefragt wurde, ob sie von den Vernichtungslagern gewusst habe. Ihr Fall sei deshalb speziell, weil sie in ein Arbeitslager, nach Sawini, gebracht wurde und die vorherige Selektion in Sobibor stattgefunden hatte und sie selbst dort während der Selektion nicht wusste, dass es ein Vernichtungslager war und erst nach dem Krieg von der Existenz von Vernichtungslagern erfuhr. „Es ist einfach so, dass die allermeisten ausländischen Juden nicht wussten, was das Ziel ihrer Deportation war. Und das kann auch als Beweis gesehen werden, dass es wenig Solidarität unter den Opfern gab, weil viele polnische Juden sehr wohl wussten, worum es ging und wohin die Deportationen gingen.“ Von polnischen Juden, die den Krieg überlebt haben, hörte der Historiker, dass sie sich sehr gewundert haben, dass in dem Moment, wenn die jüdische Polizei von Haus zu Haus ging, um alle auf dem Markplatz zu versammeln, weil ein Transport anstand, viele von den ausländischen Juden freiwillig hingegangen seien, während die polnischen Juden sich versteckten. So erzählt er die Geschichte eines Mannes, dessen Familie aus dem Durchgangsghetto nach Sobibor deportiert wurde: „Dort gab es eine Selektion und ein Teil des Transportes – auch Freunde dieses Mannes – wurden weitergeschickt in ein Arbeitslager. Und von dort schickten sie ihm eine Karte und er glaubte, dass alle überlebt hätten. Er wusste nicht, dass seine Familie in Sobibor ermordet wurde. Und bei der nächsten Selektion versteckte er sich nicht besonders, weil er dachte, dass er dann auch dorthin komme in das Arbeitslager….“

Von den jüdischen Deportierten aus anderen Ländern haben insgesamt nur sehr wenige überlebt, berichtet Robert Kuwalek, eigentlich nur die, die Kontakt hatten zu polnischen Juden oder zu Polen. „So kamen zum Beispiel in Zamosc zwei Transporte aus dem Ausland an, einer aus Dortmund, von diesem überlebte niemand und eine weiterer aus Tschechien, von diesem überlebten sechs Menschen und sie überlebten nur deshalb, weil ihnen in dem Moment, als sie sich auf dem Platz versammeln sollten, polnische Juden sagten, sie sollen sich verstecken und dann lieber flüchten.“ Insgesamt sind wenige Zeugnisse über die Situation in den Durchgangsghettos erhalten, die von nichtpolnischen Juden und Jüdinnen stammen. Kuwalek geht von zehn, vielleicht fünfzehn Zeugnissen aus. „Deshalb wissen wir auch nicht wirklich, was diese Menschen wussten. Aber in den Briefen, die nach Deutschland gekommen sind, werden die Vernichtungslager nicht erwähnt“, betont Kuwalek.

Ein Beispiel aus Zamosc zeigt, dass dort die Mitglieder des Judenrates zwar über das Schicksal der Juden und Jüdinnen Bescheid wussten, diese Information jedoch nicht weitergaben: „Es gab die erste Deportation im April 42 von dort nach Belzec und ein Junge, der aus dem Lager geflohen war, hatte beobachtet, was mit dem gesamten Transport in Belzec geschah. Zurück in Zamosc, informierte er die Mitglieder des Judenrates und diese befahlen ihm, nicht mit den Menschen im Ghetto darüber zu sprechen“, erzählt er. Warum sie diese Anordnung gaben, bleibt offen.

Politik des „Teile und Herrsche“ der Deutschen

Die Konflikte zwischen den Juden und Jüdinnen aus dem Westen und den polnischen Jüdinnen und Juden wurden von der SS befördert und ausgenutzt, um die Deportationen effektiver zu organisieren. So waren häufig deutsche und tschechische Juden, die fließend Deutsch sprachen, Mitglieder des Judenrates und der jüdischen Polizei in den Ghettos. Für Transporte hätten sie dann eben meist die Leute eingesammelt, die sie nicht kannten und das seien meist polnische Juden gewesen, so Robert Kuwalek. In Izbica, dem größten Durchgangsghetto gab es zwei Judenräte, berichtet er, einen für die polnischen Juden und einen für die Juden aus dem Westen, außerdem gab es zwei Wohlfahrtskomitees und zwei jüdische Polizeieinheiten. In dieser Konstellation spiegelt sich das Ausmaß der Konflikte wieder. Kuwalek schildert: „So hatte in Izbica der örtliche Gestapochef eine eigene Polizeieinheit, die aus tschechischen Juden rekrutiert worden war. Diese musste an Selektionen teilnehmen. Und so kam es in Izbica zu der Situation, dass die jüdische Polizei aus den westlichen Ländern vor allem polnische Jüdinnen und Juden selektierte, während die polnische Polizei, die dem polnischen Judenrat unterstand, vor allem westliche Jüdinnen und Juden aussuchte.“ Eine ähnliche Situation gab es auch in Majdanek, erzählt Kuwalek: „Es waren meist tschechische und slowakische Juden, die dort Kapofunktionen innehatten. Einzelne Überlebende, polnische Juden, die sich der Situation nach dem Krieg erinnerten und darüber sprachen, sprachen noch voller Hass über diese Funktionsträger.“ Und bis heute habe das Auswirkungen in der Region, denn bis heute seien deutsche und tschechische Juden dort bei einigen nicht sehr angesehen, hält er fest.

Jüdische Selbstorganisierung

In den Durchgangsghettos gab es auch Organisationen jüdischer Selbsthilfe. So hat es zum Beispiel selbst organisierte Volksküchen gegeben, schon bevor die ausländischen Juden dorthin kamen. „Es ist bekannt“ sagt Kuwalek, „dass etwa 70% der Jüdinnen und Juden dadurch versorgt wurden.“ Nachdem die ausländischen Jüdinnen und Juden angekommen waren und viele von den polnischen Juden deportiert worden waren, übernahmen diese dann bald die Aufgaben der Versorgung. Es habe jedoch keinen gemeinschaftlich organisierten Widerstand gegeben, berichtet Kuwalek und obwohl zum Beispiel in Izbica nur zwei SS Männer zur Bewachung des Ghettos abgestellt waren, habe sich, wenn Deportationen anstanden, niemand gewehrt oder sei geflüchtet – viele natürlich auch deshalb nicht, weil sie nicht wussten, was ihnen bevorstand. Es habe auch christliche polnische Unterstützer gegeben, die Kontakte zum Untergrund hatten. „Aber die Möglichkeiten wie in Warschau, Krakau oder Lwow, z.B. falsche Papiere zu organisieren, gab es in den kleinen Städten nicht.“ Obwohl der Kontakt mit der christlichen polnischen Bevölkerung theoretisch vorhanden war, wie Robert Kuwalek festhält, denn bis auf Piaski, gab es keine geschlossen Ghettos. Es habe zwar jüdische Viertel gegeben, aber ohne Grenzen oder Mauern. In Izbica etwa wohnten christliche polnische Leute und jüdische in den gleichen Häusern. So sei es auch dazu gekommen, dass slowakische oder tschechische Juden und Jüdinnen aufgrund ihrer Schulbildung in den christlichen polnischen Familien häufig LehrerInnen waren, erzählt er. „Und das ist auch der Grund, dass aus den tschechischen und slowakischen Transporten mehr Menschen überlebt haben als aus den deutschen, weil die mangelnden Sprachkenntnisse auf beiden Seiten bewirkten, dass es keine Kontakte gab und das war auch der Grund, warum es ihnen nicht möglich war in die Wälder zu flüchten, denn um dort zu überleben, muss man die Bedingungen und die Sprache kennen.“

Die Zufälligkeit des Überlebens

In den kleinen Ghettos war es nur mit Hilfe anderer möglich zu überleben, bzw. von dort wegzukommen, betont Kuwalek. Er berichtet von einer Frau aus Tschechien, die den Krieg überlebt hat: „Ein tschechischer Historiker fragte sie: Du hast Dich wahrscheinlich versteckt, weil Du wusstest, wohin die Deportationen gehen.“ Doch auch diese Frau wusste nicht, worum es gegangen sei, berichtet Kuwalek. Sie habe dort mit einer polnischen jüdischen Familie zusammengewohnt und dort habe es eine Frau im gleichen Alter gegeben und als die Deportationen begannen, habe diese ihr vorgeschlagen, sich gemeinsam zu verstecken. „Und später habe diese polnische Frau, die wahrscheinlich den Krieg nicht überlebt hat, zu ihr gesagt: Du siehst nicht jüdisch aus, Du sprichst gut Deutsch, es gibt keinen Grund für Dich, warum Du nicht flüchten solltest aus dem Ghetto. Und tatsächlich hat sie das so gemacht und ist mit falschen Papieren nach Prag geflüchtet und hat dort den Krieg überlebt…und erst nach dem Krieg hat sie davon gehört, dass die deportierten Juden nach Belzec verschleppt und dort vernichtet wurden.“ Häufig war es also nur Zufall, der Einzelne dazu gebracht hat sich zu verstecken oder eine andere Lösung zu finden, hält der Historiker fest. „Es war wichtig einen persönlichen Kontakt zu haben. Es gibt die Geschichte einer deutschen Jüdin in Izbica, die für einen Fotografen arbeitete, einen polnischen jungen Mann, der sich in sie verliebt hatte. Als Fotograf besaß er Kontakte zum polnischen Untergrund, weil Fotografen wichtige Personen waren für die Erstellung falscher Papiere“, so Kuwalek. Dieser junge Mann habe ihr dann einen falschen deutschen Pass besorgt und geraten sich zu verstecken. Sie flüchtete nach Katowice und überlebte dort bis 45 als nichtjüdische Deutsche. „Das ist die einzig bekannte Geschichte einer deutschen Jüdin aus Izbica, die den Krieg überlebt hat“, betont er. Denn auch für die Organisierung falscher Papiere seien natürlich Kontakte nötig gewesen, die die meisten ausländischen Jüdinnen und Juden nicht hatten. Und auf Grund des Mangels an politisch organisierten Strukturen, waren diese Papiere teuer: „Und selbst wenn polnische Juden und Jüdinnen die Kontakte besaßen, kostete es häufig einen Haufen Geld die Papiere zu besorgen und die armen Leute, die armen Juden aus den Stetlech hatten nicht viele Möglichkeiten Papiere zu kaufen.“ So waren es vor allem die Mitglieder des Judenrates und der Polizei, denen diese Möglichkeit offen stand.

Im November 1942 wurden die Durchgangsghettos von der SS mit Hilfe der Trawniki (ukrainische Wachmänner, die der SS unterstellt waren) liquidiert, auch die deutsche Zivilverwaltung war involviert. „Aus ihrer Perspektive war es ein großes Problem“, erzählt Kuwalek, „weil zum Beispiel die Eisenbahnwaggons nicht ausreichten. Die Situation gab es vor allem in Piaski und auch in Izbica und in Izbica wurden direkt 3000 Menschen erschossen, und in Piaski 1000-2000 und da hat sich dann gezeigt, dass eigentlich alle dasselbe Schicksal hatten.“

DG / tacheles-reden.de / 2004-01-27