Karl Emil Franzos:
"Der Pojaz. Geschichte aus dem Osten"

Zum 100. Todestag des Dichters erinnerte eine musikalisch-szenische Lesung im Jüdischen Museum Berlin an Karl Emil Franzos. "Der Pojaz" ist der einzige Roman des Novellisten und Journalisten und wurde erst ein Jahr nach seinem Tod 1905 veröffentlicht...

Gudrun Schroeter - tacheles-reden

Jost Hermand stellt in seinem Nachwort zu der in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen Ausgabe von "Der Pojaz" (Hamburg 2002) fest, dass heute selbst bei Literaturwissenschaftlern der Name Emil Karl Franzos kaum Assoziationen wecke, vielleicht einige wenige ihn erinnern als einen jener "altmodischen und bereits angestaubten Novellisten im Gefolge des bürgerlichen Realismus" (357). Lediglich Büchner-Spezialisten ist Franzos ein Begriff, war er doch der herausgeber der ersten Büchner-Ausgabe, die den Erstdruck des "Woyzeck" enthielt.

 

Dichter und Engagierter in der Literatur

 

Karl Emil Franzos wurde an der russisch-österreichischen Grenze geboren und wuchs mit einem assimilierten Vater auf, der ihm deutschnationales wie jüdisches Glaubensgefühl vermittelte. Dieses Spannungsfeld, heute ein Antagonismen, wird die Werke Franzos´ zeitlebens prägen. Er besuchte die einzige Schule in Czortkow, die in einem Kloster der Dominikaner untergebracht war und lernte dort Polnisch und Latein. Sein Vater unterrichtete ihn im Deutschen, zudem gab es einen Privatdozenten für Hebräisch. Franzos beschreibt seine Beziehung zu den jüdischen Kindern in Czortkow: "Ich war ein Jude, aber von anderer Art als sie, und ihre Sprache war mir nicht ganz verständlich. ... Ich hatte viel Begeisterung für das Judentum, aber einen sehr dürftigen Einblick in das reale Leben der Juden um mich herum." (6/7)

Wie stark seine Bindung an das Judentum war, zeigt seine spätere Weigerung zum Christentum zu konvertieren, um sich in Wien den ersehnten Studienplatz im Fach "Klassische Philologie", das mit einem Numerus Clausus für Juden versehen war, zu erkaufen. Nach seinen eigenen Worten wurde die Bindung an die "Kaftanjuden in der Czernowitzer Gasse" nach dieser Weigerung umso stärker. "Ich beschloss also, Jura zu studieren, und tat´s. Das schreibt sich leicht hin, aber wie viel Schmerz, wie viel schlaflose Nächte zwischen jeder dieser Zeilen stehen, weiß nur, wer in ähnlicher Lage war." (8)

Er studierte in Graz und Wien und war Mitarbeiter verschiedener Zeitungen. 1873 begann Franzos mit der Veröffentlichung eigener Erzählungen in der "Neuen Freien Presse". 1877 erschien der Novellenband "Die Juden von Barnow", realistische und doch mitfühlende Geschichten über das Leben der Juden in Podolien und Galizien, dem Ort seiner Kindheit und Jugend. Und es gelang ihm seine Wirkung auf die zeitgenössische deutsche Literatur vor der vorletzten Jahrhundertwende auszuüben, sowohl durch seine Erzählungen als auch die Herausgabe der "Wiener Neuen Illustrierten Zeitung" und die zweiwöchentliche erscheinende "Deutsche Dichtung".

Franzos´ Beschreibungen der jüdischen Lebenswelten sind weder Verklärungen noch Beschönigungen. Das Schtetl wird in seiner ökonomischen Armut und sozialen Enge dargestellt. Franzos wirft vor allem den Blick auf die innere Enge der Gemeinschaft, die Aspekte des selbst geschaffenen Ghettos, die ihm als sich in der Tradition Mendelssohns verstehend, nicht mehr adäquat erschienen. Die westliche Aufklärung und die Gedanken der Humanität, Toleranz und Emanzipation, sind Topoi seines Schreibens und sowohl Chassidim wie orthodoxe Rabbiner mit ihrem strengen Regelwerk stehen in der Entwicklung seiner Erzählfiguren deren individueller Freiheit entgegen.

 

Eine musikalisch-szenische Lesung

 

Mit einer einfühlsamen Inszenierung stellten Oskar Ansull und Theo Jörgensmann im Jüdischen Museum das Werk, den Autor und die zeitlichen Hintergründe vor. Der Schriftsteller und Rezitator Ansull montiert Passagen des Bildungsromans "Der Pojaz" mit zusammenfassenden Texten. In den zitierten Fragmenten lebt die humoristische Tonart des Romans auf, die Franzos selber als einen entscheidenden Unterschied zu seinen früheren Werken sieht, denn "(...) vielleicht muss man älter geworden sein, mehr erfahren und mehr gelitten haben, um das ´Lächeln unter den Tränen` zu erlernen". (10) Die Zwischentexte liefern einen Einblick in das Leben des Dichters, Stimmen und Spuren seiner Zeitgenossen – wie Gustav Landauer, Joseph Roth oder Alexander Granach – und einen Überblick über das Geschehen vom Kaiserreich bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus zum Nationalsozialismus. Die Klarinette Jörgensmanns nimmt Stimmungen und Spannungen der Romanfragmente auf und setzt die Reise und die Suche des Pojaz, des jiddischen Bajazzos fort.

"Der Pojaz" ist die Geschichte des Ghettojungen Sender Glatteis – Sohn eines Schnorrers – des "echten" und angesehenen Schnorrers Mendele Glatteis. Das Kind, das bei einer Pflegemutter aufwächst, fällt auf durch seinen Drang herumzustreunen und die Fähigkeit, Menschen in Stimme und Geste genau nachahmen zu können. Man munkelt, dass von einem Schnorrer nur ein Schnorrer kommen könne. Kaum, und nur nach mehreren strengen und weniger strengen Versuchen gelingt es, ihn im Cheder zu disziplinieren. Nach dem Besuch eines Wandertheaters in Czernowitz hat Sender, der geborene Komiker, nur noch ein Ziel – die Schauspielerei. "Theater" wird das magische Wort im Leben des Pojaz. Der Hunger nach Wissen und Bildung, nach der Sprache der Dramen und Theaterstücke – Deutsch, nach Lessing und Schiller bestimmen sein Leben. Das Ziel Schauspieler werden zu wollen, stellt ihn vor immer wieder neue Reflexionen und Entscheidungen in Bezug auf seine Umgebung, sei diese chassidisch oder mignadisch, familiär oder gemeinschaftlich. So liest er den Nathan, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort und Satz für Satz, empathisch vor seiner eigenen Lebensrealität, erkennt und kritisiert den Juden Nathan, weicht vor ihm zurück und nähert sich an.

Doch die Romangeschichte geht weiter … und der beeindruckenden Inszenierung von Ansull und Jörgensmann gelingt es, in den ausgewählten Passagen des umfangreichen Romans, den Zwischentexten und der Musik das Leben des Pojaz und eine verlorene Zeit aufleuchten zu lassen und zusätzlich Ereignisse der Geschichte zu benennen.

 

Die späte Herausgabe des Buches

 

Ottilie Franzos, die Witwe des Autors gab "Der Pojaz" nach dessen Tod zur Veröffentlichung frei. Sie schreibt in einer kurzen Vornotiz, dass die späte Herausgabe des Buches zweierlei sicherlich nicht bedeute, dass es noch eventueller Änderungen bedurft habe, denn der Roman sei 1893 schon abgeschlossen gewesen, und dass der Autor sich den Kontroversen, die es hätte auslösen könnte, nicht hätte stellen wollen (11). Warum Karl Emil Franzos die Publikation nicht mehr zu Lebzeiten in Gang gesetzt hat, bleibt eine offene Frage.

Es liegt nahe, diese Erklärung in den politischen Entwicklungen in den neunziger Jahren des Jahrhunderts und dem wachsenden Antisemitismus zu suchen: die Dreyfus-Affaire in Frankreich, Pogrome in Russland und die lauter werdende Propaganda antisemitischer Parteien in Deutschland. Die große Begeisterung Franzos´ für die westliche, vor allem die deutsche geistige Kultur, für die Gedanken von Toleranz und Aufklärung und die Hoffnung auf eine humanistische Welt spiegelten diese Entwicklungen nicht wider. Die hetzerischen Stimmen eines Treitschke oder Stöcker oder des Alldeutschen Verbandes hallten wider in Massenveranstaltungen – kein Klima für einen sich mit ostjüdischen Lebenswelten und Gewohnheiten kritisch auseinandersetzender Roman. Franzos musste den Ausbruch von Massenhysterie und Barbarei nicht mehr erleben.

 

Weitere Termine der musikalisch-szenischen Lesung:

Sa. 31. 01. / 19:00 Uhr

Berlin, Jüdischer Kulturverein, Oranienburger Str. 26

So. 01.02. / 17:00 Uhr

Berlin, Hackesches HofTheater, Rosenthalerstr. 40/41

Mo. 02.02. / 19:30 Uhr

Berlin, Janusz-Korczak-Bibliothek, Berliner Str. / Hadlich Str.

Di. 03.02. / 20:00 Uhr 

Berlin, Hackesches HofTheater, Rosenthalerstr. 40/41

Mi. 04.02. / 20:00 Uhr 

Berlin, Hackesches HofTheater, Rosenthalerstr. 40/41

DG / tacheles-reden.de / 2004-01-27