Paraschat HaSchawua
Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz
Sefer Bereschit - Buch
Genesis
Sidra
Wajischlach
- Die Geschichte wiederholt sich selbst
Ramban beginnt seinen Kommentar zur Sidra mit der
folgenden Passage: Dieses Kapitel vermittelt die
Botschaft, dass der Ewige, Sein Name sei gelobt, Seinen Knecht befreite, aus
der Hand der Staerkeren erloeste und einen Engel sandte, um diese Befreiung
durchzufuehren. Es lehrt uns auch, dass er sich nicht auf seine eigene
Rechtschaffenheit verliess, sondern jede Anstrengung unternahm, um sich
selbst zu helfen. In diesem Kapitel gibt es noch eine andere Botschaft -
alles, was zwischen unserem Stammvater und seinem Bruder Esau geschah, wird
sich kontinuierlich in unseren Handlungen mit den Nachkommen Esaus
wiederholen ...
Ramban folgte der Interpretation, die von unseren Weisen
angenommen worden war. Sie betrachtet die Patriarchen als Modelle, denen
ihre Nachkommen nacheifern sollen, und ihre Erfahrungen als Archtypen des
Schicksals ihrer Kinder. Diese beiden Ideen wurden im Satz "Die Tat der
Vaeter ist ein Zeichen fuer die Kinder" ausgedrueckt.
Unsere Kommentatoren haben fuer die Begegnung zwischen Esau und Jakob viele
Parallelen in der juedischen Geschichte gefunden. So wie Jakob als Symbol
fuer das juedische Volk gesehen wird, ist Esau der Repraesentant Roms, der
Macht, die den Tempel zerstoerte und Israel zerstreute.
Am Ende des Treffens der beiden Brueder draengte Esau den Jakob, ihn zu
begleiten. Jakob jedoch lehnte die Ehre ab und suchte nach Entschuldigungen.
Auch dies wird im symbolischen Sinn, als Vorwegnahme des Ganges der
juedischen Geschichte, dargelegt.
Jakob suchte es zu vermeiden, sich mit seinem Bruder zu
verbruedern. Unsere Weisen zogen daraus eine Botschaft: Wenn Rabbi Yannai zu
den Behoerden ging, pflegte er seine Aufmerksamkeit auf dieses Kapitel zu
richten und hatte keine roemische Eskorte auf seinem Weg. Einmal
vernachlaessigte er dieses Kapitel und die Roemer begleiteten ihn. Woraufhin
er Akko nicht errreichte, bis er nicht den Mantel auf seinem Ruecken
hergegeben hatte.
Ramban erklaert, die rabbinische Tradition betrachtete die
Geschichte vom Zusammentreffen Jakobs und Esaus in unserer Sidra als "das
Kapitel des Exils" - das archetypische Muster der juedischen Existenz in der
Diaspora. Als Rabbi Yannai nach Rom reisen musste, um mit den roemischen
Behoerden - "den Koenigen Edoms" - zu verhandeln, nahm er die Methode
Jakobs, mit Esau umzugehen, als Vorbild. Daher lehnte er das Angebot der
Machthaber ab, ihn mit einer Eskorte zu vesorgen, denn "sie befreunden sich
mit jemandem nur fuer ihre eigene Zwecke und konfiszieren seine weltlichen
Gueter.
Die historische Parallele in unserem Kapitel ist offensichtlich: Jakob, der
schwache, winzige, ist mit dem maechtigen Esau konfrontiert, der versucht,
sich mit ihm zu versoehnen. Sehen wir uns einen bemerkenswerten Vers dieser
Erzaehlung naeher an:
Da lief ihm Esau entgegen und umarmte ihn und fiel ihm
um den Hals und kuesste ihn, und sie weinten.
Nicht nur der Vokalpunkt ueber der hebraeischen Phrase
"und kuesste ihn" zog die Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch die
aussergewoehnliche Entfaltung der fuer Esau so uncharakteristischen
Gefuehlsaeusserungen:
Rabbi Shimon ben Eliezer sagte: Wo immer man findet,
dass die Buchstaben die Anzahl der Vokalpunkte uebertreffen, legt man die
Buchstaben aus; wo die Punkte die Zahl der Buchstaben uebertreffen, legt man
die Punkte aus. Hier uebertreffen weder die Buchstaben die Punkte noch die
Punkte die Buchstaben. Dies lehrt, dass Esaus Leidenschaft zu diesem
Zeitpunkt gross war und er ihn aus ganzem Herzen kuesste. Rabbi Yannai sagte
zu ihm: Warum hat dann das Wort einen Punkt oben? Aber wir muessen
verstehen, dass er nicht kam, um ihn zu kuessen (naschko), sondern, um ihn
zu beissen (noschko). Daher verwandelte sich der Hals des Patriarchen in
Marmor, und die Zaehne des boesen Mannes trafen darauf. Was ist dann die
Bedeutung des Satzes: "und sie weinten?" Dieser weinte wegen seines Halses
und jener wegen seiner Zaehne. (Bereschit Rabbah 78,12)
Esau versuchte, ihn zu beissen, aber sein Hals
verwandelte sich in Marmor. Das ist der Grund fuer die Punkte, anzuzeigen,
dass sein Kuss nicht ehrlich war. Warum weinten beide? Womit kann dies
verglichen werden? Mit einem Wolf, der kam, um einen Widder zu schnappen.
Daher begann der Widder mit seinen Hoernern zu stossen, die Zaehne des
Wolfes verbissen sich in ihnen. Beide weinten. Der Wolf wegen seiner
Unfaehigkeit und der Widder aus Furcht, sein Feind koennte nochmals
versuchen, ihn zu toeten. So ist es auch hier mit Jakob und Esau. Esau
weinte, da sich Jakobs Hals in Marmor verwandelt hatte, und Jakob aus Angst,
Esau koennte zurueckkehren, um ihn zu beissen. Bezueglich Jakob haben wir
den Satz: "Dein Hals ist wie ein Elfenbeinturm" (Hohes Lied 7,5). Bezueglich
Esau haben wir den Satz: "Du hast zerschmettert die Backen all meiner
Feinde, die Zaehne der Frevler zerbrochen" (Psalmen 3.8).
Esaus Verhalten wird zweifach erklaert. Eine optimistische
Sichtweise, die eine revolutionaere Verbesserung zum Guten ausdrueckt und
eine pessimistische, die den alten Esau dahinter erblickt. Hier sind zwei
weitere Zitate, die diese beiden Sichtweisen vertreten:
Als Jakob in das Land Kanaan kam, stieg Esau voller
Zorn vom Berg Seir herab, um ihn zu treffen. Er hatte vor, ihn zu toeten,
wie es heisst: "Wider den Frommen planet der Gottlose Boeses, er knirscht
wider ihn mit den Zaehnen." (Psalm 37,12) Esau sagte: Ich werde Jakob nicht
mit Pfeil und Bogen schlagen, ich werde ihn mit meinem Mund toeten und sein
Blut saugen, wie es heisst: "Da lief ihm Esau entgegen und umarmte ihn und
fiel ihm um den Hals und kuesste ihn, und sie weinten." Lies nicht: "und
kuesste ihn", sondern "er biss ihn!" Deshalb verwandelte sich Jakobs Hals in
Marmor. Als Esau erkannte, dass er seinen Wunsch nicht erfuellen konnte,
wurde er zornig und knirschte mit den Zaehnen, wie es heisst: "Der Gottlose
sieht es voll Unmut, er knirscht mit den Zaehnen und schwindet dahin."
(Psalm 112,10) (Pirke derabi Eliezer)
...Kann dies ein Liebeskuss gewesen sein? Rabbi Shimon
ben Eliezer sagte: Sicherlich, alle Taten Esaus waren von Hass motiviert -
ausser dieser einen, die von Liebe inspiriert wurde! (Avot derabi Nathan)
Die optimistische Sicht, die vielleicht die Emanzipation
und den Liberalismus des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, wird abermals von
Rabbiner Samson Raphael Hirsch vorgelegt:
Der Hinweis auf das Weinen ist ein sicheres Zeichen,
dass wir es hier mit einer Enthuellung echter Menschlichkeit zu tun haben.
Ein Kuss kann falsch sein, aber der Ausbruch in Traenen laesst uns
Aufrichtigkeit annehmen. Esau verraet seine abrahamitische Abstammung und
zeigt sich nicht nur als grausamer Jaeger. Sonst haette er niemals eine
solche Fuehrungsposition in der Entwicklung der Menschheit einnehmen
koennen. Das Schwert allein und brutale Gewalt koennen dies nicht erreichen.
Sogar Esau gibt nach und nach das Schwert auf und beginnt, die Akkorde der
menschlichen Liebe anzuschlagen. Jakob gibt ihm Gelegenheit, diese
angeborene Menschlichkeit zu zeigen. Wenn der Starke den Starken
respektiert, dann ist dies Klugheit. Wenn aber der Starke, Esau, um den Hals
des Schwachen, Jakob, faellt und sein Schwert wegwirft, dann wissen wir,
dass Menschlichkeit und Gerechtigkeit die Oberhand gewannen.
Wir wollen nicht mit Hirsch streiten, der nicht wusste,
was wir heute wissen, dass sich das "Schwert" in den Holocaust verwandelte
und nicht in Liebe. Wir wollen zum Vergleich einen spaeteren juedischen
Gelehrten zitieren, einen der ersten Protagonisten der Rueckkehr in das
Heimatland in der Chovevei Zion Bewegung. Er entdeckt in unserem Kapitel
einen Aufruf, die Diaspora zu verlassen und das Heilige Land wieder zu
errichten:
Beide weinten. Dies impliziert, dass auch die Liebe
Jakobs zu Esau wuchs. Und so war es in allen Zeiten. Wenn immer die
Nachkommen Esaus aufrichtig die Nachkommen Israels anerkennen und
respektieren, dann anerkennen und respektieren auch wir die Nachkommen
Esaus: denn sie sind unsere Brueder. Als Parallele koennten wir auf die
wahre Freundschaft zwischen Rabbi Judah haNasi und dem roemischen Kaiser
Antoninus zitieren. Und es gibt weitere Beispiele. (Ha'amek Davar)
Das Oberhaupt der beruehmten Jeschiwa von Woloschin, der
Autor des Zitates, war nicht vom Weinen Esaus beeindruckt, sondern von dem
Jakobs, der trotz allem, was er durch Esau erlitten hatte, bereit war,
Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen, so lange die kleinste Geste der
Aufrichtigkeit hervor trat.
Aber kann uns nicht der Text selbst einen Hinweis auf den Charakter von
Esaus Gefuehlsaeusserungen geben? Benno Jacob bemueht sich, in seinem
Kommentar zu Genesis, einen solchen Hinweis zu finden, indem er alle Texte,
die ueber aehnliche Treffen berichten, sorgfaeltig vergleicht.
Jakob und Rachel:
Darauf kuesste Jakob Rachel und begann laut zu weinen. (Genesis 29,11)
Joseph und Benjamin:
Dann fiel er seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte... (Genesis
45,14)
Jakob und Joseph:
und liess Joseph seinen Wagen anspannen und fuhr seinem Vater nach Goschen
entgegen. Als dieser vor ihm erschien, fiel er ihm um den Hals und weinte
lange an seinem Halse. (Genesis 46,29)
Moses und Aaron:
Da machte er sich auf und traf ihn am Berge Gottes und kuesste ihn. (Exodus
4,27)
Alle diese Passagen kontrastieren unsere Stelle:
Da lief ihm Esau entgegen und umarmte ihn und fiel ihm um den Hals und
kuesste ihn, und sie weinten.
Keine der anderen Erzaehlungen sind von solchen
Ueberschwenglichkeiten begleitet.Benno Jacob schlaegt vor, dass diese
Beschreibung von Esaus Entgegenlaufen, Umarmen, Kuessen und Weinen
"verdaechtig" ist. Und tatsaechlich glaubt auch der Patriarch selbst nicht
an ihre Aufrichtigkeit und weist unmittelbar darauf Esaus Angebot, ihn zu
begleiten zurueck. Jakob geht seinen Weg, allein, Esau wendet sich nach
Seir. Jakobs Heim war wo anders im Land Kanaan. Aber der Tag wuerde kommen,
an dem Esau, und es gibt viele verschiedene Esaus, zu Jakob auf den Berg
Zion kaeme.
Weiterfuehrende Fragen
- Warum liess Jakob seinen ersten "Aktionsplan" fallen
(32, 8-9): "Und er teilte das Volk, das bei ihm, und die Schafe und die
Rinder und Kamele in zwei Lager. Und er sprach: Wenn Esau kommt ueber
das eine Lager und schlaegt es, so bleibt dem uebriggebliebenen Lager
Entrinnen." Unsere Weisen (siehe auch Raschi) kommentieren, dass er drei
Mittel anwandte, um Esau zu bekaempfen: Geschenke, Gebet und Kampf.
Dennoch finden wir keine Vorbereitungen fuer eine Schlacht, er teilt
auch das Volk nicht in zwei Lager auf. Er teilt die Kinder auf, jede
Mutter mit den Ihren. Welchen Grund gibt es fuer seine Aenderung des
Planes?
- Was bewirkte Esaus Sinnesaenderung? Die Geschenke oder
etwas Anderes?
- Esaus und Jakobs Bemerkungen:
Und Esau sprach: Ich habe genug; mein Bruder, bleibe dein, was dein ist.
Und Jaakob sprach: ... denn Gott hat mich begnadigt, und ich habe die
Fuelle. (33, 9-11)
Welchen Unterschied siehst du, und was lehrt es dich bezueglich ihrer
Charaktere?
- "Bis dass ich komme zu meinem Herrn nach Seir"
(33,14): Wann kam Jakob jemals nach Seir? Aber von hier aus koennen wir
verstehen, dass es zulaessig ist, Worte im Interesse des Friedens zu
modifizieren. Rabbi Nathan sagte: Ist es verpflichtend, Worte im
Interesse des Friedens zu modifizieren? Es heisst (I Samuel 16,2): "Wie
kann ich hingehen? Wenn Saul davon hoert, wird er mich umbringen. Der
Ewige aber entgegnete: Nimm ein junges Kuhrind mit dir und sage: Um dem
Ewigen ein Opfer darzubringen, bin ich gekommen." (Midrasch Haggadol)
Siehe, Esau bot an, ihn zu begleiten, bis er zu seinem Vater
zurueckkehrte, um ihm Ehre zu erweisen, auf seinem Weg nach Hause. Aber
Jakob antwortete, er wuerde seinen eigenen Weg gehen, Esau erlaubend, in
seine eigene Stadt zurueckzukehren. Jakob deutete aber an, falls er auf
dem Heimweg durch Esaus Stadt kaeme, wuerde er gluecklich sein, Esaus
Ehrenwache anzunehmen. Dies war jedoch kein definitives Versprechen, da
Esau seine Gegenwart nicht wirklich verlangte.(Ramban)
- Was fanden die Kommentatoren in unserem Text (33,14)
schwierig?
- Was ist die genaue Konnotation des Wortes "leshanot"
im Midrasch, das wir mit "modifizieren" uebersetzten?
- Warum zog es Rabbi Nathan vor, eine Passage aus den
Propheten zu zitieren, um seinen Grundsatz zu unterstuetzen. Warum
ueberging er passende Beispiele aus der Tora? (zum Beispiel: unseren
Kontext 33,14 oder 15 oder 18,12-13)
- Wie unterscheidet sich die Sicht des Ramban von dem
des Midrasch Haggadol?
Haftara zur Parascha Wajischlach: Fuer Aschkenasim: Hosea
XI, 7 bis XII, 12; fuer Sephardim: das Buch Obadja
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Pädagogik
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