Mystische Aspekte im
Judentum
Die Kabbala
Verfolgt man den Lauf jenes
mächtigen Stromes, der die Geheimlehre mit sich führt, bis zu seinen
Urquellen, so gelangt man zu den zwei Abschnitten der Bibel, die von der
Weltschöpfung und von der Majestät Gottes erzählen. Beide erheben sich
aus dem Rahmen der Gesetz und Geschichte lehrenden Bibel zum Ursprung
der Dinge selber.
Beide wurden daher, da in
Alexandrien griechische Philosophie, chaldäischer oder ägyptischer
Aberglaube und jüdische Theologie sich begegnet hatten, Gegenstand der
Spekulation, und sind es in Palästina, wo die Essäer ihre Geheimlehre
hatten, wie auch in Babylon geblieben, als die Gedankenarbeit des
Talmuds abgeschlossen und eine neue Strömung in das Bett der jüdischen
Literatur einmündete.
Damals entstand das die
kosmogonische Philosophie im Judentum zu einem System ausbildende
Sepher Jezira, in welchem das Geheimnis der Weltordnung in
Zahlen und Buchstaben dargelegt wird.
Dieses Buch wurde die Grundlage
einer ganzen Literatur. In jüngeren Midraschim, pseudepigraphischen
Schriften und zahlreichen Kommentaren zum Sepher Jezira wurden
die Ideen desselben weiter ausgeführt, erläutert und vergröbert. In
vielen dieser Schriften treten aber zur Theosophie der Aberglaube, die
Chiromantie, Magie und Dämonologie, die sogar auch im Talmud eine Stütze
gefunden, hinzu. Diese Art mystischer Theosophie hatte stets ihre
Anhänger und Fortbildner. Auch bedeutende Denker, wie Salomo Gabirol
wendeten sich ihr zuweilen zu, und die beschauliche Frömmigkeit eines
Bachja ibn Pakuda, eines Jehuda haLevi, wie der astrologische Aberglaube
eines Ibn Esra gaben ihr neue Nahrung.
Nur
Maimuni
(der RaMBaM) steht ihr gänzlich fern und entschieden feindlich
gegenüber. Der mystischen Versenkung in kosmogonische und theosophische
Theorien, dem astrologischen Treiben und Spielen mit Zahlen, der frommen
Beschaulichkeit, die alle im Neuplatonismus ihre Stütze fanden, setzte
er das analytische System reinen Denkens entgegen, welches leider von
einigen seiner Schüler zu einem flachen Rationalismus verwässert wurde.
Als ein schroffer Gegensatz zu
diesem trockenen Rationalismus, der die Gestalten der Bibel zu
philosophischen Schemen und leeren Abstraktionen verflüchtigte, trat nun
die Mystik von neuem hervor. Nicht durch alle Jahrhunderte lässt sich
die Strömung verfolgen. Von ihrem Ursprung aus bis zu dem Zeitalter
Maimuni's hüllt sie sich in Dunkel; erst am Anfang des dreizehnten
Jahrhunderts tritt sie wieder deutlich sichtbar hervor, um immer stärker
zum mächtigen Strome anzuschwellen, der bald alle Gefilde der Literatur
überflutet und die größten Verheerungen anrichtet.
Wie überall, so trat sie auch
innerhalb des Judentums das Erbe einer großen Zeit an und bildete den
Grundzug einer Epoche, in der die Bildung gesunken, der Geist ermüdet
war. Einer solchen Zeit musste die Mystik als die schroffe Reaktion
gegen die einseitige philosophische Verstandesrichtung willkommen sein.
Daher erklärt sich die in analogen Erscheinungen auch in der
christlichen Welt des dreizehnten Jahrhunderts genau mit denselben
Symptomen auftretende Macht der Mystik. Ob aber alle diese Richtungen
denselben Ursprung haben oder verschiedenen Quellen entspringen, ist ein
bis jetzt noch ungelöstes Rätsel.
Die einen schreiben der
orientalischen Theosophie, die anderen dem Parsismus, die dritten den
Chaldäern und Griechen maßgebenden Einfluß auf die Entwicklung der
Geheimlehre zu. Einige glauben ihre Wiege in Aegypten zu finden; andere
setzen sie gar in das patriarchalische Zeitalter und lassen sie neben
der mosaischen Tradition als eine tatsächliche Geheimlehre auf dem Wege
mündlicher Vererbung einhergehen.
Allen diesen Meinungen fehlt aber
ausreichende historische Begründung, und so hat es keine bis jetzt
vermocht, den Ursprung der Geheimlehre, Kabbala, zu erklären, die auf
einmal als eine geistige Macht in Erscheinung trat. Und zwar war es die
Provence, wo sich im Gegensatz zu der christlichen Scholastik, die die
Glaubenslehren begrifflich entwickelte und zu begründen versuchte,
gleichzeitig auch in der Kirche eine Richtung ausbildete, welche alles
Gewicht auf den unmittelbaren Glauben und die im Glauben und der Liebe
erlebte Gottesgemeinschaft des Individuums legte, und wo auch innerhalb
des Judentums zuerst von einer Geheimlehre der Kabbala die Rede ist, die
über die Mystik der gaonäischen Periode, welche selbst dem "Buch
der Schöpfung" noch eine rationalistische Unterlage zu geben
wußte, weit hinausgeht und von dieser streng zu sondern ist.
Awraham und Jizhak Ben David
Abraham b. David, der
streitfertige und gelehrte Rabbi von Nimes, namentlich aber sein Sohn,
der blinde Isaak (Jizhak), werden nach einer wenig verbürgten Sage als
die ersten Träger oder Neubegründer jener Lehre aufgeführt. Als Lehrer
des Abraham b. David wird ein Jakob Nasir aus dem zwölften Jahrhundert
genannt, und von da aus führt der Faden der mystischen Tradition bis zum
Propheten Elia und dem Erzvater Abraham hinauf. Der blinde Isaak wird
schon im nächsten Jahrhundert als der Urheber der Kabbala gefeiert, die
zunächst das Bedürfnis, die anthropomorphistische Haggada buchstäblich
und doch annehmbar zu deuten, hervorgerufen zu haben scheint.
Seine Lehre wird als "tief und
rein" gerühmt; er hat das Zahlensystem der Sephiroth, wie es uns zuerst
im Sepher Jezira
entgegengetreten, weiter ausgebildet und die Idee des Metempsychose
verkündet. Als seine beiden vornehmsten Jünger und als die Träger der
kabbalistischen Lehre im ersten nachmaimunischen Jahrhundert gelten Esra
und Asriel, die auch als Lehrer Nachmani's (Rabbi
Moses ben Nachman, haRaMBaN) in der Kabbala ausgegeben werden.
Aus diesem Kreise ist wohl auch das Sefer haBahir hervorgegangen,
eines der dunkelsten und wichtigsten Werke für die Entwickelung der
Kabbala.
Hauptlehren der Kabbala
Die Hauptlehren der Kabbala sind
die Begriffe vom En-Soph (Unendlichem) und den Sephiroth,
die beide vordem in dieser Auffassung dem jüdischen Schrifttum fremd
waren. Der erste dieser Begriffe, der aus dem Neuplatonismus
herübergeholt ist, setzt, obwohl die negative Attribution stark betont
wird, doch die drei Eigenschaften der absoluten Vollkommenheit,
All-Einheit und Unveränderlichkeit voraus, deren mittelste, dass nichts
außer Gott sei, d.h. alles in ihm, zu der Schlußfolgerung führt, daß
also notwendig auch die Welt in ihm sein müsse. Da aber die Welt,
einerseits mangelhaft, andererseits nach einem von Vernunft geleiteten
schöpferischen Willen geordnet ist, so kann sie der En-Soph nicht
unmittelbar geschaffen haben.
Es müssen vielmehr, auch nach der
von Gabirol ausgeführten neuplatonischen Idee, intelligible
Substanzen zwischen Gott und der Welt angenommen werden: die Sephiroth,
Mittelwesen zwischen dem vollkommenen Gotte und der unvollkommenen Welt,
die durch Emanation aus dem En-Soph sich abgesondert haben. Die Zahl
dieser Sephiroth ist bei Asriel und auch in der spätem Kabbala zehn;
ihre Namen werden aber verschieden angegeben. Die Deutung derselben
verliert sich schon in die Untiefen der Kabbala, in die ihr das Auge der
Forschung nicht folgen kann. Merkwürdigerweise schließt sie mit ihrer
sinnlichen Glut genau wie die christliche Mystik sich an das Hohelied
an, das ihr als Folie dient, um die abenteuerlichsten Deutungen daran zu
knüpfen.
Chassidej Aschkenas
Neben dieser kabbalistischen geht
aber auch noch eine andere mystische Strömung, ähnlich wie die beiden
Strömungen eines Flusses im Frühjahr, durch die jüdische Literatur jener
Epoche, die man eher als eine Fortsetzung der gaonäischen Geheimlehre
ansehen könnte, und die in Deutschland ihre Heimat, in den Leiden und
Verfolgungen der Juden in jenem Lande aber ihren Ursprung haben mag.
Noch lebten in Deutschland, in
Böhmen und Oesterreich die letzten Thosaphisten oder deren Schüler, und
das Talmudstudium hatte in jenen Ländern eifrige Pfleger und Förderer.
Die trübe soziale Lage der Juden in Deutschland gestattete ihnen aber
nicht, im Geiste ihrer Brüder in den romanischen Ländern zu forschen und
zu lehren. Vielmehr suchten sie in der rigorosesten Frömmigkeit und in
der Versenkung in das Gotteswort den einzigen Trost. Die religiöse
Strenge der deutschen Juden wurde sprichwörtlich in der Galluth, und
diese wurden den minderfrommen Glaubensgenossen Spaniens und der
Provence oft als Muster aufgestellt.
Die tiefe Versenkung in den Geist
der Vorzeit förderte aber andererseits auch wieder eine mystische
Richtung zutage, die mit analogen Erscheinungen innerhalb der
christlichen Kirche eine auffallende Verwandtschaft zeigt, so daß die
Ansicht berechtigt ist, die Geistesrichtungen der Bekenner beider
Religionen seien vielleicht niemals verwandter und beziehungsreicher
gewesen, als im dreizehnten Jahrhundert, in welchem sie im Leben sich am
feindseligsten gegenüber gestanden und durch die tiefste Kluft von
einander geschieden waren.
Jehuda haChasid
Diese Wahlverwandtschaft tritt in
der Erscheinung und den Ansichten eines von der Sage mit besonderer
Geschäftigkeit verherrlichten Mannes hervor, des Jehuda b. Samuel
ha-Chasid (der Fromme), der gegen Ende des zwölften und anfangs des
dreizehnten Jahrhunderts in Regensburg lebte.
Er hat das Gebiet der mystischen
Theosophie in Deutschland wahrscheinlich zuerst in eine Bahn gelenkt,
die ziemlich verschieden von der war, welche die Kabbala in Spanien
einschlug. Seine mystische Richtung entsprang nicht aus Opposition gegen
die Philosophie, welche ja den deutschen Juden nicht fremd war, sondern
aus dem Schmerz des Lebens und aus dem Leid der Zeiten. So bildete
Jehuda der Fromme sich eine eigene Lebensanschauung, der man sogar
zuweilen eine gewissermaßen oppositionelle Richtung gegen das
vorwiegende Talmudstudium kaum wird absprechen können. "Einem Ideal der
Erkenntnis und der Frömmigkeit hingegeben, schritt sein Leben und sein
Denken über die Zeitgenossen hinweg."
Seine Aussprüche und
Lehrmeinungen wurden später gesammelt und unter seinem Namen
herausgegeben; wieviel von der ursprünglichen Fassung dabei
verlorengegangen, ist kaum noch zu ermitteln. Sicher aber sind jene
Ansichten, die den Grundstock seiner Weltanschauung bilden, verschieden
von denen der Zeitgenossen gewesen, deren übereifriges Talmudstudium er
zu tadeln wagt, und von denen er sich in manchen Dingen, die auch in das
Gebiet der religiösen Praxis hineinragen, entschieden trennt.
Über die auf halachische Quellen
sich stützende Rigorosität stellt er die Liebe zu Gott und das Versenken
in seine heiligen Geheimnisse - die "Gottesminne der christlichen
Mystik" - die ungleich wichtiger seien als die praktische Frömmigkeit.
Das Edle in dem Menschlichen, das Höchste in dem Tun des Israeliten zur
Geltung zu bringen, in den Andeutungen der heiligen Bücher die innerste
Wahrheit aufzufinden, das wird als Ziel seines tiefen und reinen Geistes
bezeichnet, in dem "Dichterisches, Sittliches und Göttliches" ineinander
verschmolzen erscheinen. Von seinen Schriften, die, wie gesagt, nur noch
in Trümmern erhalten sind, wird hauptsächlich das später sehr
hochgehaltene Sepher hach- Chasidim (Buch der Frommen) genannt.
Das Buch der Frommen
Erhabenes und Kleinliches,
Schönes und Abstoßendes liegen hier neben- und untereinander,
Edelsteine, die unvergänglichen Glanz ausstrahlen, sind unter Gerölle
verschüttet, Goldkörner unter Schlacken und Sand verstreut, duftende.
Blumen sprießen aus Schutt und Moder auf, das Bild frischesten Lebens
neben dem der Verwesung und des Todes. Der Grundzug des Buchs aber ist
die Liebe zu Gott und den Menschen. Und darum führt es mit Recht den
Titel des "Buches der Frommen".
Sein Begründer - denn als solcher
darf Jehuda ha-Chasid unbedingt angesehen werden - ist von dieser Liebe selbst
so schwärmerisch erfasst und durchdrungen, dass er sie für alle Beziehungen des
Lebens und des Glaubens geltend macht. So ist der Eindruck seines Werkes ein
seltsamer: neben den zartesten Tönen reiner Liebe und edler Menschlichkeit
erklingen die dumpfen Laute des tiefsten Aberglaubens und einer
weltverzweifelnden Mystik, der Jehuda ha-Chasid mit Leib und Seele angehört.
Eine Versöhnung zwischen diesen himmelweit auseinandergehenden Richtungen bietet
allein die ethische Weltanschauung des Mannes.
Für das Verhalten des Menschen zu
Gott wie zu seinen Nebenmenschen, des Juden und Christen, der Kinder und
Eltern gegeneinander, bietet das "Buch der Frommen" Anweisungen lauterer
Sittlichkeit und Idealität, von denen nur einige wenige zur
Charakteristik des Werkes herausgehoben seien:
"Auch der Frömmste hat keinen Anspruch auf göttliche Belohnung,
und lebte er Tausende von Jahren, er kann auch nicht die kleinste der vielen
Wohltaten vergelten, die ihm Gott erzeigt. Darum diene niemand seinem
Schöpfer wegen des zu erwartenden Paradieses, sondern aus reiner Liebe zu
ihm und zu seinem Gebote.
Täusche niemanden absichtlich durch
deine Handlungen, auch keinen Nichtjuden; sei nicht zänkisch gegen die
Leute, wes Glaubens sie auch seien. Handle ehrlich in deinem Geschäfte.
Man soll niemandem Unrecht tun, auch
nicht anderen Glaubensgenossen. In dem Verkehr mit Nichtjuden befleißige
dich derselben Redlichkeit als mit Juden; mache den Nichtjuden auf seinen
Irrtum aufmerksam, und besser, du lebst von Almosen, als dass du zur Schmach
des Judentums und des jüdischen Namens mit fremdem Gelde davon läufst.
Übrigens richtet sich das Verhalten der Juden an den meisten Orten nach dem
der Christen. Sind diese in einer Stadt unsittlich, so sind es auch die
Juden daselbst.
An dem Geld von Leuten, die die
Münzen beschneiden, Wuchergeschäfte machen, unredlich Maß und Gewicht führen
und im Handel nicht ehrlich sind, haftet kein Segen; ihre Kinder und
Helfershelfer kommen an den Bettelstab.
Wer Erbarmen hat mit den Menschen,
dessen erbarmet sich Gott.
Der größte Fehler ist Undankbarkeit;
sie ist auch gegen das Tier nicht gestattet.
Sprich nicht: "Ich werde das Böse
vergelten!" Hoffe auf Gott, und er wird dir helfen.
Neid und Hass tue ab von dir; sei
still, wenn man dich schmähet.
Wenn deine Frau dich kränkt und du
sie hassest, so bitte Gott, nicht dass er dir eine andere gebe, sondern dass
er diese in Liebe dir zuwende.
Die Alten haben Werke verfasst, aber
ihre Namen nicht an die Spitze geschrieben; sie wollten den Genus ihres Tuns
nicht in diesem irdischen Leben haben.
Wer sich durch Fasten kasteit,
sündigt. Hätte Gott am Fasten Gefallen, so würde er es verlangt haben. Man
soll nur in der Sprache beten, die man versteht. Das Gebet erfordert
Andacht, die ohne Verständnis dessen, was man betet, nicht möglich ist.
Von Frommen, die Gutes getan, sie
seien Juden oder Christen, soll man sagen: Sie seien zum Guten gedacht!
Eine unrichtige Äußerung eines
frommen Mannes soll man nicht verbreiten, denn es heißt: Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst, und man wünscht die eigenen Irrtümer auch nicht
verbreitet zu sehen.
Am Tage des jüngsten Gerichtes
werden die zusammen sein, die ihren Verdiensten nach zusammengehören. Es
trauert aber dann der Vater nicht über den abwesenden Sohn, weil die Freuden
des Paradieses und die Wonnen an dem Abglanz der Gottheit allen Schmerz
überwinden."
So mündete die Ethik Jehuda
des Frommen in den Hafen der Mystik ein. Aber sind auch seine
Ideale wie seine Werke nur in Trümmern geblieben, so hat seine
Richtung doch in den Schülern und Nachfolgern nach der ethischen
Seite hin, leider allerdings auch nach der mystischen, weitere
Ausbildung erhalten. Dagegen gelangten die Keime jener leisen
und schüchternen Opposition, die in seiner Weltanschauung gegen
die halachische Zeitrichtung kaum zu verkennen ist, nicht zur
Reife.
Ein Tropfen philosophischen
Oels hätte vielleicht diese schüchterne Opposition zur hellen
Flamme angefacht; aber auch dieser Tropfen fehlte den Juden
jener Zeit, die in der Sorge um das Leben, dessen sie jeder neue
Tag zu berauben drohte, das Studium der Wissenschaften
vernachlässigen mussten. Als dann vielleicht die dunkle Kunde
von einer geistigen Bewegung in den südlichen Ländern und von
dem daran sich knüpfenden Streit für und gegen
Maimuni zu ihnen gedrungen, da wurde diese
Vernachlässigung der Wissenschaften geradezu gelehrt und als
Gebot, als verdienstliche Tat gepriesen. Nur allein in der
Wissenschaft des Talmuds leisteten sie Bedeutendes, wenn auch
nichts Schöpferisches.
Die Schüler des Jehuda
haChasid
El'asar Ben Jeh udah
Von den Schülern Jehuda,
des Chasid, ist in erster Reihe Eleasar b. Jeh uda, der
Hauptvertreter jenes mystischen Chasidismus in Worms
(1160—1237), zu nennen. Bekannt ist er unter dem Namen seines
halachisch ethischen Werkes Rokeach. Er war Talmudist und
Mystiker, Bußdichter und moralischer Autor, studierte Astronomie
und schrieb Kommentare zu biblischen Büchern, zu den Gebeten und
zu dem unvermeidlichen Sepher
Jezira. Ihm waren jedoch die hervorragenden Denker
der spanisch-arabischen Schule, wie Saadja, Ibn Esra u. a. nicht
fremd. In seinen Werken, die sich fast über alle Wissensgebiete
erstrecken, mischen sich Engellehre und Mi drasch, Philosophie
und Kabbala, Aberglaube und Ethik bunt durcheinander.
Dagegen sind seine Bußlieder — etwa
sechzig an der Zahl — einfach und schlicht, ohne alle mystische Zutaten. Als
seine bekannten Hauptwerke gelten der Rokeach (Der Apotheker, nach dem
Zahlenwert seines Namens), sowie eine Schrift gegen die jüdischen
Anthropomorphisten Sch'arej haSod, haJichud vehaEmunah (Pforten des
Geheimnisses der Einheit und des Glaubens), in der die Geistigkeit des
Gottesbegriffes, nach Saadja's Auffassung, scharf betont und der Glaube jener,
welche die Haggada buchstäblich nehmen, verleugnet wird. Zu einer klaren
Stellung dieser Haggada gegenüber kann freilich auch er nicht gelangen. Und
seine Vorstellungen von dem himmlischen Gottesthron mit seinen Engelsscharen
stehen kaum auf der Höhe der damaligen jüdisch-philosophischen Schule Spaniens.
Er füllt die ganze Welt mit Engeln, gibt jedem Menschen einen Schutzengel oder
Schicksalsengel und sucht in dem Wort der Schrift einen versteckten "inneren
Sinn", welcher den phantastischen Gespinnsten der Zeit natürlich freien
Spielraum eröffnet.
Seine wissenschaftliche Anschauung vom
Weltgebäude stützt sich auf die Kosmogenie der Baraitha Eleasar's, die mit der
Buchstaben- und Zahlenexegese zu einer abenteuerlichen Kosmographie ausgebildet
wird. Ueberdies erscheint wohl er als der erste, der die mystische
Zahlenspielerei in seinem großen Werk Sode Raze über die Geheimnisse der
Kabbala, in ihrem äußersten Umfang zur Anwendung bringt, nämlich: die Buchstaben
der Gottesnamen und Schriftverse zu versetzen, sie in Zahlzeichen zu übertragen
oder als Abkürzungen bedeutungsvoller Wörter zu behandeln (Ziruph, Gematria,
Notarikon), ein Spiel, das die spätere Kabbala stark für ihre Zwecke
ausgebeutet hat.
Was ihn aber wiederum über
viele Zeitgenossen erhebt, ist seine ethische Weltanschauung.
Die Liebe zu Gott und die Demut sind die Leitsterne seines
Lebens, die Liebe zu dem Menschen und die Tugend sind seine
höchsten Ideale. Alle Tugenden aber: Demut und Frömmigkeit, Buße
und Keuschheit, Redlichkeit und Treue, sind ihm nur
Ausstrahlungen des Gottesbewußtseins, die er nach einem edlen
Muster, nach Bachja's "Herzenspflichten", in allen seinen
Schriften anpreist und als Ideale reiner Gesinnung vorführt.
Zu anderen Zeiten und in
günstigeren Verhältnissen hätte dieser Mann unzweifelhaft eine
außerordentliche Wirksamkeit entfalten und Bedeutendes schaffen
können. Sein Einfluss auf die Zeitgenossen war ein nicht
gewöhnlicher, und seine Richtung wurde von minderbegabten, aber
gleich eifrigen Schülern Eleasar's im Sinne des Meisters
fortgebildet.
Einer dieser Jünger,
Menachem aus Aquileja, hat vielleicht die Verbindung zwischen
der deutschen Mystik und der spanisch-provencalischen Kabbala
durch verschiedene seiner Schriften hergestellt, vornehmlich
wohl durch einen Kommentar zu den zehn Sephiroth und durch ein
dieselbe Materie erörterndes Werk Kether Schem tow (Die
Krone des guten Namens).
Gegner der Chassidej
Aschkenas
Indes huldigten nicht alle
Schüler Jehuda des Frommen und Eleasar's b. Jakob, die man als
die Väter der deutschen Mystik ansehen kann, der in ihren
Schriften vorgezeichneten Bahn. Ja es scheint, daß schon den
jüngeren Zeitgenossen und Schülern eine Ahnung der Gefahr
aufgestiegen sei, die diese Gottessehnsucht und Demut in ihrer
verhüllten Opposition gegen die traditionelle Lehre
heraufbeschwören könnte. Zum mindesten einer derselben, Mose Ben
Chisdaj aus Tachau, daher auch Moshe Taku, von dem außer
Gutachten, Talmudkommentaren und rituellen Erläuterungen auch
eine Schrift über religionsphilosophische Fragen erschienen ist,
polemisiert entschieden gegen die Richtung Jehuda's, freilich
ebenso scharf gegen die Vertreter der Philosophie, gegen Saadja,
Maimuni, Ibn Esra. Er will die haggadischen Aussprüche über Gott
buchstäblich aufrecht erhalten, verwirft aber nichtsdestoweniger
die mystischen Schriften mit ihrem groben Anthropomorphismus,
die er, als von den Karäern untergeschoben und eingeschmuggelt
erklärt.
Mose Taku scheint also die
dritte Richtung innerhalb des damaligen Judentums, die der
Halacha, im Gegensatz zur Philosophie und Mystik repräsentiert
zu haben. Und in der Tat wird er auf halachischem Gebiet als
Autorität zitiert und um Rechtsbescheide angegangen.
Seine Kenntnis der karäischen Schriften
verdankt er zweifellos einem älteren Zeitgenossen, Petachja Ben J'akow aus
Regensburg, der als Reiseschriftsteller bekannt geworden, und dessen Berichte
von seinem Landsmann Jehuda ha-Chasid geordnet wurden. Sie führen jetzt den
Titel Siwuw schel Rabi Petachjah (Reise des Rabbi Petachja) und schildern
die von diesem von Prag aus etwa um 1170-1180 unternommene Reise, die ihn über
Polen und Ruß land, die Tartarei, die Länder der Turkmenen nach dem Orient und
von dort aus über Griechenland nach Böhmen zurückführte. Seine Reisenotizen
entbehren nicht allgemeinen Interesses, wenn sie auch denen Benjamin's von
Tudela nachstehen, wie etwa ein damaliger deutscher Jude einem spanischen. Aber
wie diese sind sie auch in verschiedenen Uebersetzungen verbreitet.
Die halachische und
talmudistische Richtung erlangte schließlich aber in jenem
Zeitalter, der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, in
Deutschland und Oesterreich doch das Uebergewicht. Scharfsinnige
und gelehrte Forscher machten sie zur herrschenden innerhalb der
deutschen Judenschaft, und sowohl der einseitige Rationalismus
wie die Gefühlsschwärmerei traten vor dem ernsten
Gesetzesstudium in den Hintergrund, das von Männern, wie Meir
aus Rothenburg und dessen Lehrer Isaak b. Mose aus Wien (ca.
1250) zu ansehnlicher Höhe erhoben wurde.
Der letztere -
gemeinhin nach seinem Hauptwerk Or saruah (Das ausgesäte Licht) genannt -
war ein Schüler des Jehuda Sir Leon in Paris und scheint dessen thosaphistische
Lehrweise nach Deutschland übertragen zu haben. Sein Werk, das erst in neuerer
Zeit vollständig erschienen, erläutert den Talmud nach der Reihe seiner
Ordnungen so, daß der Inhalt zu selbständigen Abschnitten der einzelnen Materien
— Halachoth — verarbeitet worden, ohne sich jedoch an die Reihenfolge des
Talmuds selbst zu halten. Für die Geschichte der Auffassung und Behandlung
vieler in jene Gebiete des Talmuds fallenden Gegenstände ist das Werk von großer
Bedeutung.
Aus dem II. Kapitel
des II. Bandes der
"Geschichte der jüdischen Literatur"
von Gustav Karpeles
Erschienen im Verlag
M.Poppelauer
Berlin, 2. Aufl. 1909 p57ff
Kabalah
Zum Inhaltsverzeichnis: Jahaduth
Zum Inhaltsverzeichnis: haGalil onLine
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