[Chag
haSchawu'oth - Wochenfest]
Vor Erez Kn'an:
Der Weg durch die Wüste
Heinrich Graetz
Fast ein Jahr brachten die Israeliten am Sinaï zu,
eine folgenreiche Zeit. Im Frühjahr des zweiten Jahres nach dem Auszug
aus Ägypten zogen sie dem Lande ihrer Verheißung entgegen.
Als Führer in der Wüste, welche von Süd nach Nord bis zur Grenze des
Landes Kanaan führt, wo es nur selten Oasen gibt, diente ihnen der
Stammhäuptling der Keniten, Hobab, Moses Schwager. Er kannte alle Wege
und Stege und konnte ihnen Ruheplätze für das Lager angeben74.
74 Numeri 10, 31; I. Samuel 15, 6.
Nur die in der Wüste heimischen Nomaden besaßen
die Vertrautheit mit Straßen und Wasserquellen auf der Halbinsel Sinaj.
Wahrscheinlich haben die Israeliten vom Sinaï die Richtung nach Ost und
Nordost zum östlichen Meerbusen des roten Meeres (von Ailat)
eingeschlagen, weil sie auf geradem Wege in der großen Sandwüste mit
vielen Bergrücken auf wenig Wasser, aber desto mehr beschwerliche Wege
gestoßen wären. An einem wasserreichen Platze, in Chazerot
(Aïn-Hudhera), in einem schönen Talkessel, wo eine immerwährende Quelle
sprudelt und eine fruchtbare Oase bildet75,
weilten sie längere Zeit. Dieser Weg führte sie bis an die Südspitze des
Meerbusens von Ailat (Ejlath), von wo aus zwei Wege, ein westlicher und
ein östlicher, nach dem Lande Kanaan führten.
Ersterer führt fast auf geradem Wege zum toten Meere in einer Talebene
(Arabah) zwischen einer langgestreckten Bergkette von mehr als 2000 Fuß
Höhe rechts und einem niederen Höhenzuge links. Das hohe Gebirge, das
mit wunderlich gestalteten und gezackten Steingebilden von Porphyr und
Sandstein, etwa 30 Stunden lang, sich vom Meerbusen bis zum toten Meere
hinzieht und 6 bis 8 Stunden breit ist, führte damals den Namen das
Gebirge Seïr, dessen höchste Spitze, der Berg Hor (4000 Fuß über dem
Meeresspiegel, G'ebel Harun), mit seinen zwei Kuppen einem Wartturm und
Wegweiser gleicht. Bei einem Durchbruch des westlichen Höhenzuges
wendeten die Israeliten sich westlich, lenkten in die Trift oder Wüste
Paran ein und gelangten im vierten Monat auf einem Wege von nur elf
Tagemärschen nach der damals bekannten Stadt Kadesch (Meribat-Kadesch,
Kadesch-Barnea, auch Ain Mischpat genannt76.
75 S. Note 4.
76 Dieselbe Note.
Von hier aus sandte Mose Kundschafter in das Land Kanaan, um wahre Kunde
über seine Beschaffenheit zu erhalten und zu erfahren, ob es fruchtbar
oder unfruchtbar sei, ob sich Bäume darin befänden, ob die Bewohner
stark oder schwach seien, ob sie in Hirtendörfern oder festen Städten
wohnten. Die Kundschafter hatten vereinzelt an verschiedenen Punkten des
Landes Beobachtungen angestellt und waren bis in die Gegend, wo das
Hermongebirge jäh in die Tiefe abfällt, gedrungen77.
77 Numeri 13, 21 vgl. mit Richter 18, 28.
Die Kunde lautete nicht günstig. Sie priesen zwar die Fruchtbarkeit des
Landes und zeigten Riesentrauben, die sie abgepflückt, aber die Bewohner
des Landes schilderten sie als unbesiegbar. Beim Eindringen vom Süden
aus würde das Volk zunächst auf die Amalekiter stoßen und dann auf
Emoriter im Gebirge, auf Kanaaniter am Jordan und an der Küste, und
außerdem gäbe es noch Riesengeschlechter, und alle die Völkerschaften
stützten sich auf feste Städte. Der Bericht der Kundschafter konnte
nicht verfehlen, einen entmutigenden Eindruck auf das Volk im ganzen zu
machen. Einige machten Mose und Aharon Vorwürfe, dass sie das Volk aus
Ägypten geführt, um es dem Schwerte zu überliefern, andere schlugen vor,
sich einen Führer zu wählen, der sie nach Ägypten zurückführen sollte.
Zwei der Kundschafter, welche Gottvertrauen und Mut zeigten, Josua und
Kaleb, wären beinahe durch Steinwürfe getötet worden. Es kostete Mose
viele Mühe, die Aufregung zu beschwichtigen. Darauf gab er Befehl, den
Rückzug anzutreten. Mit diesem feigen Geschlechte war nichts anzufangen;
es sollte ein neues Geschlecht in der Wüste herangezogen werden,
welches, durch Gottvertrauen erstarkt, den Gefahren mutig ins Auge zu
schauen lernen sollte. Als der Rückzug angetreten werden sollte,
besannen sich viele und wollten lieber den Durchzug ertrotzen, als
wieder auf lange Zeit in der Wüste umherwandern. Sie bestiegen die
nächste Höhe von Kadesch aus, um mit Waffengewalt vorzudringen, wurden
aber von den Amalekitern und Kanaanitern wie von Bienen verfolgt oder
aufgerieben. Einige Zeit blieben die Israeliten noch in Kadesch78
mit der Bundeslade, dann zogen sie wieder in die Arawah ein, zwischen
die Felswände des Gebirges Seïr. Hier knüpften sie Verbindung mit den
stammverwandten Idumäern oder den Bene Esau an und erhielten von ihnen
für Geld oder Viehtausch Speise und Wasser79.
Sie waren von jetzt an vor Mangel geschützt.
78 Folgt aus Deuteron. 1, 46.
79 Folgt aus Deuteron. 2, 28-29.
Achtunddreißig Jahre brachten sie in dieser Gegend zu, führten ein
Nomadenleben, suchten Weideplätze für die Herden auf und wanderten von
Kadesch bis zum Meerbusen von Ailat hin und her. In dieser Gegend und
während dieser Zeit entfaltete Mose seine Erziehungstätigkeit. Das alte
Geschlecht starb nach und nach aus, und das jüngere wurde von ihm und
den ihm beistehenden Männern unter seiner Oberleitung zu einer
gottvertrauenden, ausdauernden, mutigen Gemeinde herangebildet. Er
teilte ihnen nach und nach Gesetze mit und sorgte dafür, dass sie in ihr
Inneres aufgenommen wurden.
Mose umgab sich mit einem Senate, bestehend aus den Häuptern der siebzig
Familien. Diese siebzig Ältesten, das Musterbild für spätere
Institutionen, sollten ihm die Last der öffentlichen Geschäfte
erleichtern und an allen wichtigen Beratungen und Ausführungen Teil
nehmen. Sodann setzte er, auf Anraten seines Verwandten Jethro, höhere
und niedere Richter ein, über je tausend, hundert und zehn Familien.
Ihre Wahl überließ er dem Volke, das seine besten Männer selbst
aussuchen und ihm empfehlen sollte. Den Richtern schärfte er ein,
gerecht zu richten nicht bloß in Streitigkeiten zwischen
Stammesgenossen, sondern auch zwischen Israeliten und Fremdlingen. Sie
sollten das Ansehen der Person nicht achten, den Geringen und den
Angesehenen gleich behandeln, sich von Bestechung fern halten und
furchtlos nach strengem Rechte urteilen, "denn das Recht ist Gottes". Er
selbst, die Quelle des Rechts, wache darüber80.
Nächstenliebe, brüderliche Gemeinschaft, Standesgleichheit, Milde und
Gerechtigkeit, das waren die Ideale, welche Mose dem von ihm erzogenen
jungen Geschlechte vor Augen stellte, die einst verwirklicht werden
sollten. Es war eine schöne Zeit, in der solche Lehren und Gesetze einem
Volke als die innerste Seele seines Wesens eingehaucht wurden. Die
Jugendzeit der israelitischen Volksbildung war mit Idealen verklärt. Es
war der Brautstand der jungfräulichen Tochter Israels, als sie ihrem
angetrauten Gotte in Liebe durch ein Land folgte, das keine Saat kannte81.
Es war eine reiche Gnadenzeit, welche der Poesie Stoff zur
Verherrlichung bot:
"Gott versorgte das Volk in der Wüste,
Umgab und erzog es,
Bewahrte es wie den Augapfel,
Wie ein Adler überwacht sein Nest,
Über seinen Jungen schwebt,
Seine Flügel ausbreitet,
Sie nimmt und auf seinen Schwingen fortträgt.
So hat Gott allein es geleitet,
Und kein fremder Gott war neben ihm"82.
Endlich sollte den Wanderungen ein Ende gemacht werden. Das alte
Geschlecht war ausgestorben, und das jüngere schien dem Führer Mose
gefügiger und mutiger zur Erreichung des Zieles. Beinahe vierzig Jahre
hatten die Stämme seit dem Auszuge aus Ägypten in der Wüste zugebracht83.
80 Deuteron. 1, 13-17; Leviticus 19, 15; Exodus
23, 6-9.
81 Jeremia 2, 2.
82 Deuteron. 32, 10-12 das Verbum geben die LXX gut wieder durch
aytarknse, gleich , und durch epaideysen.
83 Die vierzigjährige Wanderung ist auch durch den ältesten der
schriftstellerisch tätigen Propheten, durch Amos bezeugt 2, 10; 5, 25.
Ein längeres Verweilen darin hätte sie an das Wanderleben gewöhnt und zu
Schwarmstämmen gleich den Midianitern und Amalekitern herabgedrückt. Von
Kadesch aus scheinen sie zum zweiten Male einen Versuch gemacht zu
haben, nordwärts auf der alten Karawanenstraße vorzudringen. Aber auch
dieser zweite Versuch misslang; ein kanaanitischer König von Arad zog
ihnen entgegen; es entspann sich ein Kampf, wobei die Israeliten
unterlagen und Gefangene in den Händen der Sieger zurücklassen mussten.
Aber ein Teil der Israeliten vom Stamme Juda scheint mit Hilfe der
Simeoniten und Keniten die Niederlage dem Feinde vergolten zu haben. Sie
griffen ihn mit Waffen an, besiegten ihn bei Zephat (Horma), nahmen
mehrere Städte ein und besetzten sie84.
Die übrigen Stämme waren darauf vorbereitet, auf einem Umwege von Osten
her in das Land einzuziehen. Dieser Umweg konnte verkürzt werden, wenn
die auf den Höhen des Gebirgszuges Seïr, in der Arabah und jenseits
derselben wohnenden Idumäer ihnen den Durchzug durch ihr Gebiet
gestatten wollten. Zu diesem Zwecke sandte Mose Boten an den idumäischen
König, wohl nach der bedeutenden Stadt Taiman. Er war einer günstigen
Antwort gewärtig, weil die Israeliten sich als stammesverwandt mit den
Idumäern betrachteten und bisher in dem Wüstenzuge freundlich mit ihnen
verkehrt hatten. Sie fiel aber ungünstig aus. Die Idumäer mochten
befürchten, dass sie von dem Wohnsitze suchenden Volke aus ihrem Gebiet
verdrängt werden könnten, und zogen mit Waffen aus, um den Durchzug zu
verhindern. So mussten die Stämme einen weiten Umweg machen, abermals
durch die Arabah bis Ailat ziehen und von da aus östlich vom Gebirgszuge
Seïr das idumäische Gebiet umgehen, um von jenseits des Jordan sich dem
Lande Kanaan zu nähern85.
84 S. Note 10.
85 Wenn die Station (Numeri 33, 42-43) identisch sein sollte mit dem
späteren Painon, dessen Lage aus Eusebius' Onomasticon bekannt ist,
zwischen Zoar und Petra, so wäre ungefähr die Route gefunden, welche die
Israeliten im vierzigsten Jahre vom Meerbusen von Ailat bis zum Arnon
eingeschlagen haben. Eusebius sagt (ed. Legarde p. 299 [ed. Klostermann
S. 168]) aytn de esti Painon enta ta metalla tou xalkou (Ergänzung aus
Hieronymus' Übersetzung: nunc viculus ... ubi aeris metalla damnatorum
suppliciis effodiuntur) metaxy keimenn Petras poleos kai Zooron. Über
die Tatsache, dass in Phainon oder Phanun oder Phena Metallminen waren,
da noch zur Zeit Diokletians christliche Märtyrer in diese Gruben zur
Strafe geschickt werden, vgl. Ritter, Sinaïhalbinsel I, S. 126, wo die
Belege zusammengestellt sind, und Movers, Phönizier I, S. 20, der damit
die Sage von Phineus und seinen in der Erde Schoß eingekerkerten und
gezüchtigten Söhnen und den Städten Phinion in Thrazien und Bithynien in
Verbindung bringt. dass Phunon oder Phinon ein idumäischer Ort war,
folgt aus dem Verzeichnis der idumäischen Stämme (Genesis 36, 4) . Denn
die daselbst aufgezählten Stämme bezeichnen Lokalitäten, wie in Gatham
die wichtige Station Wady Getum (Gatum, Ithum) wiederzuerkennen ist,
welche von dem Meerbusen Ailat-Akaba und dem Gebirgspaß teils nach Osten
und teils nach Westen liegen, und welche die Israeliten auf ihren Zügen
öfter betreten haben müssen. Vgl. Ritter das. S. 96, 306 und an anderen
Stellen. Phunon oder Phinon, die Bergwerksstadt in Idumäa, muß nun an
der Ostseite des Gebirges Seïr gelegen haben, da die Idumäer ihnen den
Durchgang durch das Gebirge von der Arabah aus nicht gestatten mochten.
Haben sie ja auch Tophel an derselben Seite berührt (Deuteron. 1, 1): ,
das man in dem noch vorhandenen Tafileh, Tufileh wiedererkannt hat.
Haben Phunon und Tophel an der Ostseite des idumäischen Gebirges
gelegen, so ist die Angabe Eusebius', dass das in Deuteron. das.
erwähnte in der Nähe von Phainon lag und den Namen von den Goldgruben
hat, nicht so sehr zu verwerfen, Eusebius schreibt (Onom. das. p. 269 f.
[ed. Klostermann S. 114] unter Art. kata ta xrusea): legetai de en
Painon xalkou metallois to palaion parakeistai orn xrysou metallon. Denn
Di-Zahab mit Dhahab zu identifizieren, das weitab südlich an der
Westgrenze des ailanitischen Meerbusens gelegen hat, ist durchaus
unstatthaft. So weit südlich sind die Israeliten gewiß nicht gekommen,
es lag außerhalb der Route vom Sinaï zur Arabah; sie hätten denn von
Aïn-Hudhera durch das Wady Dhahab sich mehrere Meilen südlich wenden
müssen (gegen Ritters und anderer Annahme). Andererseits wissen wir,
dass in Idumäa Gold gegraben wurde, denn von der Stadt , dem idumäischen
Bostra, jetzt el-Buseireh, hat im Hebräischen das Wort die Bedeutung
Gold erhalten (Hiob 22, 24-25; 36, 19 für [vgl. auch Hoffmann in der
Ztschr. f. Assyrologie 1887, S. 48]; falsch ist Ableitung von "brechen",
diese Bedeutung hat das Verbum keineswegs). Der erste Vers Deuteron.
gibt also die Stationen näher an, wo Mose die in den vorangegangenen
Büchern enthaltenen Worte gesprochen ( im Gegensatz zu der Erklärung,
welche Mose im Lande Moab gegeben hat. V. 5): Jene Worte sind gesprochen
worden im allgemeinen und in der Arabah, speziell d.h. in der Nähe des
ailanitischen Meerbusens, , d.h. Kadesch in der Wüste Paran, , eben
Tufileh, ferner in wohl identisch mit (Numeri 33, 20-21), in , das
bekannt ist (s. Note 4) und endlich d.h. in der Nähe der idumäischen
Goldgruben. Mit Di-Zahab ist wohl identisch [Num. 21, 14], wo die LXX.
haben: Zoob und vielleicht auch (Genesis 36, 32).
Nördlich von den Idumäern wohnten die Moabiter, eine ebenfalls mit den
Israeliten stammverwandte Völkerschaft. Auch an diese schickte Mose eine
Gesandtschaft, um freien Durchzug bittend, aber auch diese verweigerten
ihn86. So waren sie
genötigt, da sie weder mit den Idumäern, noch mit den Moabitern Krieg
führen sollten, auch das Gebiet Moabs zu umgehen. Östlich von den
Moabitern wohnten die Ammoniter, ebenfalls Stammverwandte. Auch ihr
Gebiet sollten sie nicht gewaltsam betreten und waren genötigt einen
großen Bogen zu machen, um am Saume der östlichen Wüste und des
bewohnten Landes sich dem Quellgebiet des Flusses Arnon zu nähern,
welcher östlich in das tote Meer abfließt.
In dieser Gegend war kurz vorher eine große Veränderung vorgegangen, die
den wandernden Stämmen zugute kam. Ein emoritischer König Sichon hatte,
wahrscheinlich vom Lande Kanaan, von jenseits des Jordans aus, einen
Kriegszug gegen Ammon unternommen und ihm das fruchtbare Land an den
Abhängen des langgestreckten Landrückens am toten Meere und am Jordan
entrissen. Die durch Wasserreichtum blühende Stadt Hesbon wurde
Hauptstadt des neuen emoritischen Gebietes. Dieses erstreckte sich von
den Ufern des Arnon bis zu dem in einem abschüssigen Schluchtenbette87
sich in den Jordan stürzenden Jabbok und umfaßte auch die Jordansaue. Es
war ein fruchtbarer und weidenreicher Landstrich. Infolge dieser
Niederlage wurden die Stämme Ammon und Moab voneinander getrennt, die
Ammoniter nach Osten verdrängt, und die Moabiter selbst fühlten sich
bedroht. An Sichon, den neuen Herrscher dieses Gebietes, richtete Mose
eine Friedensbotschaft, den Israeliten freien Durchzug durch das Land zu
gestatten, um zum Jordan gelangen und von da in das Land der Verheißung
eindringen zu können. Auch Sichon verweigerte ihn und zog den Stämmen
mit Waffen an den Saum der Wüste entgegen, wo sie lagerten. Mit
Jugendmut nahm das herangewachsene Geschlecht, ganz anders geartet als
die Väter, unter seinem Führer den Kampf auf und schlug die emoritische
Schar samt ihrem Könige bei Jahaz.
Dieser Sieg war von großer Tragweite für die Israeliten nicht bloß in
der damaligen Lage, sondern auch für die Folgezeiten. Zunächst nahmen
sie das ganze Gebiet ein, verteilten sich darin und machten damit ihrem
Wanderleben ein Ende. Dann flößte ihnen der Sieg den Mut und die
Zuversicht ein, jeden Widerstand bei der Besetzung des ihnen verheißenen
Landes zu überwinden. Die Völkerschaften, die von der Niederlage des
mächtigen Sichon erfahren hatten, zitterten vor den israelitischen
Wanderstämmen:
"Es hörten die Völker und zitterten,
Schrecken ergriff die Bewohner des Philisterlandes.
Damals waren Edoms Stämme entsetzt,
Moabs Fürsten ergriff Beben.
Es verzagten alle Bewohner Kanaans.
Es überfiel sie Furcht und Bangen,
Bei der Größe deines Armes
Erstarrten sie gleich einem Steine (88)."
86 Richter, 11, 17-18, auch Deuteron. 2, 5 f.,
fehlt Numeri 21, 4 ff.
87 S. Note 12.
88 Exodus 15, 14-16.
Der erste Sieg verlockte zu neuen; sie fassten den Entschluß, das
eroberte Gebiet nicht bloß zu behalten, sondern auch es auszudehnen.
Jenseits des Jabbok war ein kleines von Emoritern besetztes Gemeinwesen,
Jaëser. Auch dieses nahmen sie ein. Weiter im Osten hatte ein König Og
das waldreiche Gebirge und die fruchtbaren Ebenen von Basan inne89.
Auch dieser wurde besiegt und sein Land den Stämmen überlassen. Og
gehörte zum Rest der Riesengeschlechter, man zeigte sein Grabmal, in
Basaltsteinen ausgehauen, in einer Ausdehnung von neun Armlängen. Der
Sieg über ihn bei Edreï öffnete den Stämmen den Weg nach Nordosten, wo
reiches Weideland war. Frei konnten sich nun die Israeliten auf einem
ausgedehnten Raume bewegen; sie waren nicht mehr in die Schranken
eingeengt, die ein wüstes Land und die Engherzigkeit der Angesessenen
ihnen gezogen hatten. So plötzlich aus großer Not zu sicherem Dasein
emporgehoben, erzeugte ihr rascher Aufschwung hier edle und dort
hässliche Leidenschaften.
Das geschwächte Moab sah seine Existenz durch die siegreichen
Israeliten, seine neuen Nachbarn, bedroht; es hatte um so mehr Grund zur
Furcht, als es ihnen unfreundlich den Durchzug verwehrt hatte. Der
moabitische König Balak fühlte sich aber zu schwach, mit Waffen gegen
die Israeliten anzukämpfen; er ließ darum einen midianitischen oder
idumäischen Zauberer Bileam, Sohn Beors, kommen, von dem der Volksglaube
wähnte, dass er durch Verwünschungen einem ganzen Volke, wie einem
einzelnen Menschen Unglück und Untergang bringen könne. Auf die höchsten
Spitzen des moabitischen Gebirgsrückens führte der König der Moabiter
den Zauberer Bileam, um ihm einen Überblick über die Lagerstätten der
Israeliten zu öffnen, damit er sie sämtlich mit dem Fluche seines Mundes
treffen könne. Aber hingerissen von dem großartigen Anblick, verwandelte
sich im Munde Bileams der Fluch zum Segen90;
er wurde inne, dass "nicht Zauberspruch Jakob und nicht Orakelsprüche
Israel schaden könne, es sei ein Volk, das die Zukunft auf seinen
Schultern trage."
Bileam riet91
aber dem König von Moab, einen anderen Zauber anzuwenden, der den
Israeliten verderblich werden könne, Verführung durch unkeusche
Tempeldirnen zu unzüchtigem Leben. Diesen Wink befolgte Balak. Aber
nicht moabitische Mädchen und Frauen gebrauchte er zur Verführung, weil
die Israeliten gegen diese Misstrauen gehegt hätten, sondern
midianitische. Mit den Wanderstämmen der Midianiter standen die
Israeliten in ihrer Wüstenwanderung in gutem Einvernehmen; jene kamen
unbeargwöhnt in die Lagerstätten und Zelte der Israeliten. Auf Bileams
Rat und Balaks Aufforderung kamen viele Midianiter zu den Zelten der
Israeliten und brachten ihre Weiber und Töchter mit. Zur Feier ihrer
götzendienerischen Feste an einem Wallfahrtsorte Baal-Peor luden sie die
israelitischen Männer und Jünglinge ein. Dabei war es Brauch, dass die
Weiber in einem Zelte ihre Keuschheit opferten und für den Erlös den
Götzen Opfer brachten. Nicht wenige Israeliten ließen sich durch diese
Anreizung zur Unzucht und zur Teilnahme an dem Opfermahle verführen,
zwei Sünden, die den Grundbau der am Sinaï geoffenbarten Lehre
angetastet haben würden, wenn sie noch mehr um sich gegriffen hätten. Es
war ein so tiefer Abfall, dass er sich dem Gedächtnisse des Volkes zur
Warnung einprägte:
"Wie Trauben in der Wüste
Fand ich Israel,
Wie Frühfeigen im Lenze
Sah ich eure Väter.
So wie sie nach Baal-Peor kamen,
Da weihten sie sich der Schandgöttin
Und wurden verworfen durch Liebesbrunst92."
89 S. Note 12.
90 Bileams Auftreten wird auch vom Propheten Micha bezeugt 6, 5.
91 In Numeri 31, 15-17 ist deutlich darauf hingewiesen, dass Bileam die
Verführung zur Unzucht geraten hat, wie es der Talmud richtig aufgefaßt
hat und auch der Verf. der Apokalypse 2, 14: didaxe Balam os edidasken
to Balak balein skandalon enopion ton yion Israel Pagein eidolotyta kai
porneusai. Die Tatsache ist noch belegt durch Hosea 9, 10; im ganzen
Verlaufe der Erzählung Numeri K. 25 und 31 ist von Midian und
Midianitern die Rede. Numeri 25, 1 heißt es dagegen ; es müssen also
auch hier die Töchter Midians darunter verstanden werden.
92 Hosea das.
Das Schlimme dabei war, dass keiner unter den Israeliten den Mut hatte,
auf Moses Befehl dem Unwesen zu steuern. Nur Pinehas, Aharons Enkel,
wurde vom Eifer ergriffen. Beim Anblick einer Midianiterin, welche ein
simeonitischer Stammeshäuptling vor den Augen aller in ein Zelt führte,
erstach er beide und wendete die Pest ab. Das Volk kam dadurch zur
Besinnung ob der begangenen Untaten. Es entspann sich infolgedessen ein
Krieg. Scharen wurden ausgesendet, die Midianiter, die sich zur
Überlistung und Verführung gebrauchen ließen, zu verfolgen. Die
Midianiter wurden besiegt und ihre Anführer getötet, auch der böse
Ratgeber Bileam. Dadurch wurde die Freundschaft mit den Midianitern für
lange Zeit gebrochen.
Auf der andern Seite hatte der Umschwung infolge der unerwarteten und
folgenreichen Siege bei Jahaz und Edreï Lieder erzeugt, die erste Spur
einer Begabung, ohne welche ein Volk eine hohe Stufe der Gesittung nicht
ersteigen kann. Zunächst waren es Kriegs- und Siegeslieder, welche die
hebräische Muse gesungen hat. Die Dichter derselben (Moschlim) fanden
von Anfang an so viel Beachtung, dass ihre Erzeugnisse in einer Sammlung
(Rolle der Kriege Gottes)93
aufbewahrt wurden. Es haben sich von diesen Liedern nur drei in
bruchstücklicher Gestalt erhalten. Das am wenigsten verständliche
schilderte wahrscheinlich die Züge der Stämme bis zum Augenblicke, wo
sie sichere Lagerstätten fanden. Das zweite ist ein Brunnenlied, als sie
zum ersten Male im ehemaligen Ammoniterlande Brunnen gruben und damit zu
verstehen gaben, dass sie festen Besitz davon zu nehmen beabsichtigten.
Alle Ältesten der Familien waren mit ihren Stäben beim Graben zugegen,
und davon erhielt der Platz den Namen Fürstenbrunnen (Beer- Elim)94.
Das dritte Lied ist beim Wiederaufbau des zerstörten Hesbon, der
Sichonstadt, gedichtet worden. Die junge hebräische Poesie zeigt zwar in
ihren Anfängen noch keine Tiefe und Glätte, aber sie hat schon zwei
Eigenheiten, die sie später bis zur äußersten Feinheit ausgebaut hat.
Von Seiten der Form hat sie schon das Gleichmaß der Versglieder
(parallelismus membrorum). In zwei oder drei Versteilen wird derselbe
Gedankengang mit passendem Wechsel wiederholt. Von Seiten des Inhalts
schlägt die junge hebräische Muse schon einen ironischen Ton an, der ein
Erzeugnis der Doppelbetrachtungen war, der Betrachtung des Ideals und
der ihm so wenig entsprechenden Wirklichkeit.
"Wehe dir Arnon (95),
Wehe dir Moab!
Untergegangen ist das Volk des Khemosch (Götzen),
Er selbst hat seine Söhne als Flüchtige
Und seine Töchter als Gefangene
Dem König der Emoriter Sichon überliefert."
93 Numeri 21, 14. Ob dieses Buch identisch ist mit
Josua 10, 13 und II. Samuel 1, 18 läßt sich nicht zur Gewißheit erheben.
- Der Vers in Numeri ist übrigens das Bruchstück eires größeren Liedes,
das untergegangen ist; das Prädikat fehlt vor . Die LXX haben zwar das
fehlende Verbum, ten Zoob ePlogise, aber dieses ist eine Übersetzung von
oder , sie lasen . Eher ist zu ergänzen "wir zogen vorbei".
Wahrscheinlich wurden die Stationen aufgezählt, welche die Stämme
berührten, und die Plätze, an denen sie vorübergegangen sind, weil sie
sie nicht angreifen durften. Man muß also ergänzen (vgl. o. S., 48
Anmerk.)
94 Das. 21, 17-18 ist nicht ein spielendes Schäferlied, wie Ewald meint,
sondern ein Brunnenlied, beim Graben des Brunnens gesungen, welches eine
Wichtigkeit für alle hatte. Man grub Zisternen nur in Territorien, die
man als Eigentum betrachten konnte, wie aus der Geschichte von Abraham
und Isaak bekannt ist. Beer-Elim, Jesaja 15, 8.
95 Das. 21, 27-29 ist wohl auch ein fragmentarisches Lied. Die syrische
Übersetzung hat in V. 29 passend: .
Sollten die Israeliten ihr Ziel erreichen, das Land der Verheißung in
Besitz zu nehmen, so durften sie nicht länger in dem fruchtbaren Gefilde
zwischen Arnon und Jabbok verweilen, es mußten Anstalten getroffen
werden, über den Jordan zu setzen. Dabei zeigte sich der Übelstand,
welcher die Eroberung der Besitzungen von Sichon und Og nach sich
gezogen hatte. Die Stämme Gad und Rëuben und ein Teil des Stammes
Manasse erklärten mit einem Male, dass sie in dem eroberten Lande
bleiben wollten, weil es weidenreich und günstig für ihre zahlreichen
Vieh- und Kamelherden sei. Es klang, als wollten sie sich vom
gemeinsamen Verbande lossagen und eine selbständige Existenz als
Wanderstämme führen. Es war ein neuer Schmerz für Mose. Er machte ihnen
wegen ihrer Absonderung bittere Vorwürfe, mußte ihnen aber doch
nachgeben, dass sie das eroberte Land behalten sollten; nur mußten sie
versprechen, dass ihre kriegstüchtigen Männer zur Hilfe der Bruderstämme
über den Jordan ziehen würden. So entstand ein eigener Landesteil, der
der dritthalb Stämme oder der jenseitige (Eber ha-Jarden, Peraea), der
gar nicht in Aussicht genommen war. Sein Besitz hatte mehr nachteilige
als vorteilhafte Folgen für den Verlauf der Geschichte. Der Jordan
bildete eine Scheidegrenze zwischen den diesseitigen und jenseitigen
Stämmen, und ihre Kraft war dadurch geteilt. Die dritthalb Stämme waren
Angriffen von angesiedelten Völkerschaften und von Wanderstämmen
ausgesetzt, und ihre diesseitigen Bruderstämme konnten ihnen nicht immer
zur Zeit der Gefahr rasche Hilfe zukommen lassen. Die Sonderexistenz der
Gaditen, Rëubeniten und Manassiten hemmte auch die innere Entwickelung;
den Einflüssen fremder Elemente war dadurch mehr Spielraum gewährt.
Die übrigen Stämme waren schon gerüstet, über den Jordan zu setzen, als
der große Führer Mose aus dem Leben schied. Wenn sämtliche Israeliten
seinen Tod dreißig Tage beweinten, so haben sie nicht zuviel getan, denn
sein Verlust war unersetzlich. Sie fühlten sich mit Recht verwaist.
Keiner unter allen Gesetzgebern, Staatenstiftern und Volksbildnern kann
mit Mose in Vergleich kommen. Er hat nicht bloß aus einer Sklavenhorde
in der allerungünstigsten Lage ein Volk geschaffen, sondern ihm auch das
Siegel der Unvergänglichkeit aufgedrückt. Er hat dem Volksleibe eine
unsterbliche Seele eingehaucht. Er hat seinem Blicke Ideale gezeigt,
denen es nachstreben, und an deren Verwirklichung oder
Nichtverwirklichung sein Wohl oder Wehe geknüpft sein sollte, Mose
konnte von sich sagen, dass er das Volk getragen habe, "wie ein Wärter
ein Kind", und selten wurde er unmutig und ungeduldig. Seine Sanftmut
auf der einen und seine Selbstlosigkeit auf der anderen Seite, zwei
hervorstechende Eigenschaften neben seinem klaren Seherblick, haben ihn
befähigt, Organ der Gottheit zu werden.
Er durfte vor dem ganzen Volke sich rühmen, dass er auch nicht eine
Kleinigkeit von irgend jemanden angenommen, und dass er niemandem etwas
zuleide getan habe. Neidlos wünschte er, dass sämtliche Israeliten
gleich ihm Propheten würden, dass Gott seinen Geist auf sie gäbe. Mose
war daher für die spätere Zeit das unerreichbare Ideal eines Propheten;
die Erinnerung daran, dass an der Wiege des israelitischen Volkes so ein
leuchtendes Vorbild stand, gab den folgenden Geschlechtern eine nicht
geringe Anregung. Selbst Moses Tod wirkte belehrend. Im Lande Moab, im
Tale, gegenüber dem den dortigen Bewohnern heiligen Berge Peor, wurde er
still begraben, und niemand kennt sein Grab bis auf den heutigen Tag.
Die Israeliten sollten nicht Vergötterung mit ihm treiben, wie die
Völker es mit ihren Königen und großen oder für groß gehaltenen Männern
und Religionsstiftern zu tun pflegten. Mit Trauer im Herzen um den Tod
des geliebten Führers, der sie nicht ins verheißene Land einführen
sollte, mit den großen Erinnerungen an die Erlösung aus Ägypten, an den
Durchgang durch das Meer, an die Offenbarung am Sinaï, und mutig
gestimmt infolge der Siege über die Könige Sichon, Og und die
Midianiter, überschritten die Stämme an einem sonnigen Frühlingstage den
Jordan, geführt von Mose's treuem Jünger Josua.
Aus
Heinrich Graetz:
Geschichte der Juden
Erster Zeitraum: 1. Kapitel. Die Vorgeschichte
Heinrich (Hirsch) Graetz:
Geschichte der Juden
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