Savyon Liebrecht:
Die fremden Frauen
Drei Novellen
DIANAS SOHN
Ihr mit roter Farbe einbalsamiertes Haar in
ein altes Handtuch gewickelt, stand sie in der Küche vor dem Pirouetten
drehenden Mixer und sah hin und wieder auf die Uhr, um zu prüfen, ob die
fünfundzwanzig Minuten vorbei waren und sie die Farbe laut
Gebrauchsanweisung des Herstellers ausspülen konnte. Während sie die wie
eine dicke Perlenkette auf der Arbeitsplatte aufgereihten Eier eines nach
dem anderen in den Teig brach, dachte Schulamit ununterbrochen an das Baby,
das sie heute früh auf die Welt geholt hatte, an den kleinen Körper, der,
bis sie ihn endlich hinausbefördert hatten, schon ganz blau gewesen war, an
die zweimal um den Hals gewickelte Nabelschnur, den vor Atemnot
aufgesperrten Mund und an die Lernschwester, die stellvertretend für das
Neugeborene einen Schrei ausstieß.
Schulamit hielt plötzlich inne. Während
Eiweiß und Dotter ihr durch die Finger glitten, durchfuhr sie jäh ein Stich,
und ihre Knie wurden weich. Vor dem Küchenfenster, in Höhe der
Guavenbaumkrone, schwebte die Gestalt ihres Sohnes Ejtan. Er hatte das
Soldatenschiffchen aufgesetzt, doch das Gesicht eines Fünfjährigen.
Später, während der sieben Trauertage, wenn
sie automatisch mit der einen Hand versuchen wird, ihr feuerrot glänzendes
Haar zu verbergen, während die andere Hand schützend auf ihrem Herz liegt,
wird sie immer wieder sagen: »Ich habe ihm einen Kuchen gebacken, als es
passiert ist.«
Doch an jenem Nachmittag, als ihr Herz
unruhig schlug und sie Schwäche in den Beinen fühlte, versuchte sie immer
wieder die Telephonnummer, die er ihr gegeben hatte, anzurufen, und da
niemand abhob, nahm sie an, daß er schon zur Übung aufgebrochen war. Und als
Dani, ihr Ehemann, am Abend nach Hause kam, erzählte sie ihm von ihrem
seltsamen Erlebnis: »Ich habe Ejtan im Küchenfenster gesehen.«
»Wie kam er denn dorthin?«
»Er tauchte plötzlich auf. Es war, als ob
er schwebte. Chemda behauptet, das sei ein Zeichen für ein langes Leben.«
»Unsinn. Es ist ein Zeichen dafür, daß du
ihn vermißt.«
»Du hast recht.« Sie ließ sich bereitwillig
beruhigen.
»Wenn er nicht wieder ein Ausgangsverbot
aufgebrummt bekommt, ist er am Wochenende hier.«
»Hoffentlich.«
Doch ein altes Gefühl, das sie in den
letzten Monaten unterdrückt hatte, meldete sich zurück; jenes Gefühl, das
sie übermannt hatte, als er nach der Geburt, die wie durch ein Wunder gut
ausgegangen war, auf ihre Brust gelegt wurde, zusammengekauert und röchelnd
und noch immer zitternd, und sein feuchtes Gesichtchen in die nasse Grube
ihres Halses geglitten war. Sie hatte den Kleinen eng an sich gepreßt und
mit großer, erschreckender Klarheit gewußt, daß er ihr nur als Pfand gegeben
worden war. Und von jenem Tag an machte sie sich auf den Moment gefaßt, da
jemand angerannt kommen und gegen die Tür hämmern oder schon am Tor ihren
Namen rufen würde, oder daß man sie anrief und sie weinend oder schreiend
benachrichtigte, daß Ejtan mit seinem Fahrrad zwischen die Räder eines LKWs
geraten, von den Zaunstäben des Kindergartens aufgespießt worden war, im
Chemiesaal in Flammen aufgegangen, mit seinem Surfbrett gegen einen Fels
geschleudert, vom Rücken eines Pferdes geworfen oder von fallenden Ziegeln
erschlagen worden war, daß er vom Blitz getroffen, in einen Abgrund gefallen
oder in einem Wadi ertrunken war.
Als sie am nächsten Tag früh am Morgen die
Tür öffnete und Amir, seinem besten Freund, gegenüberstand, der sie ansah,
als wäre er erblindet, und der von zwei Männern in frisch gebügelten
Uniformen und mit verschlossenen Gesichtern begleitet wurde, wußte sie auf
der Stelle, was für eine Nachricht sie ihr brachten, als ob dieses Treffen
schon vor zwanzig Jahren vereinbart worden wäre.
An die Beerdigung selbst hatte sie keine
Erinnerung. Es herrschte großer Tumult, und sie war von uniformierten
Soldaten umringt. Es fielen Worte, die nicht an ihre Ohren drangen, und die
Gesichter ihrer beiden älteren Söhne, das Antlitz einer Cousine aus dem
Kibbuz, das Amirs, derJael im Arm hielt, das von Aharoni, Ejtans
Klassenlehrer, näherten und entfernten sich zwischen den Fremden. Mitten in
diesem Chaos war der Arm Danis das einzig verläßliche Element. Stark lag er
um ihre Schultern wie ein Rettungsring. Doch als er diesen Arm am Abend nach
ihrem Kopf ausstreckte, wich sie aus, und er zog sich zurück. In den
folgenden Nächten kehrten sie einander den Rük-ken zu, versanken in sich
selbst, lauschten dem gegen das Fenster schlagenden Regen und dachten an
Ejtan, der unter den Blumengestecken lag, unter der feuchten Erde, unter dem
Deckel seines Sarges.
Von Tag zu Tag vergrub ihr Mann sich mehr
in sein Schweigen, und sie war dankbar, daß er nichts von ihr verlangte, sie
abtauchen ließ zu der Stelle, an der die Grenzen zwischen dem Gewesenen und
dem, was hätte sein können, verwischt sind.
Während der sieben Trauertage saß sie auf
dem Sofa und empfand weder Kälte noch Hunger, weder Durst noch Schmerz, als
ob auch ihr eigener Körper sich von der Welt verabschiedet hätte. Die
Mädchen und Jungen, die Kindergartenfreunde, die Mitschüler aus der
Grundschule, aus dem Gymnasium, die Freunde aus dem Tauchkurs und die aus
der Armee, die ihre matschigen Schuhe vor der Tür ausgezogen hatten und in
ihren Socken in kleinen Kreisen, mit Grimassen des Schmerzes und der
Verlegenheit auf den Gesichtern, auf den Teppichen saßen, wußten nicht, wie
sie mit dieser neuen Trauer umgehen sollten, und sie starrten die Wände an,
oder ihre Fußspitzen, oder die die Runde machenden Photos von Ejtan.
Schulamit saß dabei und betrachtete Jael, mit der Ejtan seit der u. Klasse
befreundet gewesen war. Ihre Lider waren wie durch eine Bindehautentzündung
geschwollen, und sie zog die Ärmel ihres Pullovers über die geballten
Fäuste, als wären sie Stümpfe. Sie sah, wie die Mädchen sich Schulter an
Schulter lehnten und weinten und wie sich die Gesichter der Jungen vor
Anstrengung, Tränen zu unterdrücken, spannten, sie sah, wie verbittert sie
alle waren, weil sie sich so betrogen fühlten - als ob ihnen etwas
versprochen gewesen wäre, das man ihnen plötzlich wieder genommen hatte -,
und sie hätte sie gerne getröstet und ihnen versichert, daß sie es schon
immer, seit seiner Geburt, gewußt habe: Ejtan würde eines Tages ohne ein
Wort des Abschieds aus ihrem Leben verschwinden, und jeder Tag, den er unter
ihnen gelebt hatte, war nur geborgt. Seltsam, dachte sie jetzt, bei ihren
beiden anderen Söhnen hatte sie nie so empfunden. Sie waren mit dem
Versprechen zu bleiben auf die Welt gekommen; allein bei Ejtan hatte sie vom
ersten Augenblick an die Vergänglichkeit seiner Existenz gespürt, und es war
ihr, als ob sie all die Jahre hindurch auf der Lauer gelegen hätte, als ob
eine Hälfte ihres Herzens betete, die Prophezeiung würde sich als Trug
erweisen, und die andere Hälfte damit rechnete, daß ihr Kind plötzlich
verschwand. Immer wieder hatte sie seinen Blick gesucht, ihn schon zu seinen
Lebzeiten vermißt. Immer wieder hatte sie aufgeatmet, wenn er heil von
Schulausflügen zurückkam, von den Pfadfinderzeltlagern, von nächtlichem
Schwimmen, von militärischen Übungen. Und er hatte es über sich ergehen
lassen, wie an dem Tag, da er allein vom Kindergarten nach Hause gekommen
war, kaum vier Jahre alt, und vor dem Gartentor stehen blieb, während sie
auf ihn zurannte; er hatte sich umarmen lassen, und als ob er ihr dieses
Wenige schuldig war, hatte er sich nicht gerührt und geduldig gewartet, bis
sie sich beruhigt hatte, und sich lediglich umgesehen, ob auch niemand sie
beobachtete. Sie hatte sich nur ganz langsam beruhigt und ihn aus ihrer
Umklammerung befreit, doch er war noch einen Moment stehengeblieben, wie um
zu demonstrieren, daß er nicht vor ihr fliehen wollte, und erst dann hatte
er ihre Hand gepackt und sie ins Haus gezogen.
Jetzt kamen ihr diese ganzen zwanzig Jahre
wie ein einziger, lange währender Abschied vor, zwanzig Jahre des
ungläubigen Staunens, wie er das Säuglingsalter hinter sich brachte, die
Kindheit, die Bar Mizwa und alle folgenden Geburtstage, die immer besonders
aurwendig gefeiert wurden. Als ob alle um sie herum ihr Wissen teilten,
wurde nie eine Frage gestellt, warum nur zu Ejtans Geburtstagen die nahen
und fernen Verwandten eingeladen wurden und warum seine Mutter nur für ihn
die Kuchen aus ihrer besonderen Rezeptsammlung backte. Und so hatte sie sein
vierzehntes, fünfzehntes, sechzehntes, siebzehntes, achtzehntes und
neunzehntes Lebensjahr begleitet, verwirrt vom ständigen Gefühl des
Verlustes, das sich auch dann nicht legte, als er größer und kräftiger wurde
als seine Altersgenossen.
Während der sieben Trauertage empfand sie
zum ersten Mal seit zwanzig Jahren eine gewisse Erleichterung, als ob sich
ihre Muskeln plötzlich entspannten, in dem Bewußtsein, daß das Schlimmste
bereits hinter ihr lag und es nun nichts mehr gab, was ihre Ruhe stören
könnte. Daß mit ihm auch sie selbst gestorben war. Tote fühlen keinen
Schmerz. Es tröstete sie sehr, als man ihr mitteilte, er sei auf der Stelle
tot gewesen und die Araber, die im Schutz des aufkommenden Sturmes von
hinten gekommen waren und ihn mit einem Stück Draht erdrosselt hatten,
hätten seinen Leichnam nicht geschändet.
In den letzten Trauertagen wurde die Zahl
der Gäste kleiner. Vor allem seine Freunde kamen seltener. Die wenigen
Besucher versammelten sich zu einem kleinen Kreis, und ein Mädchen brachte
ihnen Tee und Limonade und schnitt ihnen von dem gekauften Kuchen ab,
während Schulamit an ihren letzten Kuchen dachte, an die Eier, die wie
aufgefädelt auf der Arbeitsplatte gelegen hatten, an die Eiweißblasen um die
Dotter, die zwischen der zerbrochenen Schale in die Schüssel der
Küchenmaschine glitten, deren Quirle sich wie betrunken drehten, und an ihre
triefenden Finger, als jener Stich ihr Herz traf und den banalen Handgriffen
des Backens die Bedeutung von Endgültigkeit verlieh. Und auch daran dachte
sie: wie sie einmal das Fenster weit aufgerissen hatte, die Kinder aus den
Betten geholt und über ihre im Fensterrahmen zusammengepferchten Köpfe in
die kalte Luft gerufen hatte: »Atmet tief ein. Den ganzen Sommer lang werdet
ihr diesen Geruch nach Regen nicht mehr in der Nase haben. Es ist der letzte
Regen.«
Je länger das Begräbnis zurücklag, desto
mehr Gelächter stieg aus dem Kreis der Jugendlichen und begleitete die
Geschichten über Ejtans Schulstreiche. Dann stand Schulamit leise auf und
ging in ihr Zimmer, um ihr Gesicht vor ihnen zu verbergen, das sich beim
Hören seiner Streiche verfinsterte. Von dort aus hörte sie, wie Ejtan den
Biolehrer immer wieder mit Fragen drangsaliert hatte, etwa wie: »Der Magen
verdaut Fleisch, nicht wahr? Wieso verdaut er dann nicht sich selbst?« Sie
verschloß die Tür und hielt sich die Ohren zu, und nur hier und da drangen
vereinzelte Lachsalven zu ihr durch.
Am Ende der sieben Trauertage machte sie
die Bekanntschaft eines neuen Gefühls: der Sehnsucht nach der Angst, der
Sehnsucht nach der Zeit der Angst vor seinem Verschwinden, der Sehnsucht
nach dem Warten auf ihn, nach den wachsamen Ohren, die das Tapsen seiner
kleinen Sandalen erwarteten und Jahre später das Quietschen des Tors und die
Schritte der weichen Sohlen der Turnschuhe, und noch viel später das Poltern
der Soldatenstiefel. Sie hatte diese Geräusche von allen anderen
unterscheiden können und an ihrem Echo erkannt, das sich verzögerte wie ein
schlecht eingestellter Radiosender. Und nun diese Stille, die durch nichts
mehr gestört wurde, die letzte Ruhe und das Fehlen von Angst, und der
Wunsch, weniger zu werden, sich zu verkleinern, zu einem Korn zu werden, zu
Staub zu werden, zu seinem Grab hinausgetragen zu werden und dort, zwischen
den Stengeln, den Blättern und den Blüten unterzutauchen; die Erde zu
spüren, sich zwischen die Sandkörner und die Staubpartikel zu drängen, mit
dem Regen nach unten, nach unten gespült zu werden, durch einen Spalt
zwischen den Brettern des Sargs zu sickern und Ejtan zu berühren.
Manchmal, mitten in der Nacht noch immer
hellwach, ging sie in sein Zimmer und hielt sich dort auf, bis es draußen
hell wurde. Sie hatte die Arme fest gegen den Bauch gepreßt, die Hände
umfaßten krampfhaft die Ellbogen, so sehr mußte sie sich beherrschen, um
nicht die Schubladen zu öffnen und dort nach Gedichten zu suchen, die er
verfaßt hatte, oder nach Briefen, in denen er seinen Tod vorausgesehen
hatte. Sie hatte Angst, seine Kleider zu berühren, als wären sie aus
lebendigem Gewebe, das noch etwas von Ejtan enthielt, und sie starrte lange
auf die Seiko, die sie ihm vor seiner ersten Abiturarbeit gekauft hatte,
damit er sich die Zeit einteilen konnte, und die ihr zusammen mit seinen
übrigen Habseligkeiten in einem Bündel übergeben worden war und noch immer
die richtige Uhrzeit anzeigte, egoistisch ihr Eigenleben führte, frei von
ihrer Beziehung zu Ejtan. Bei ihrem Anblick erinnerte Schulamit sich an
Geschichten von treueren Uhren als dieser Seiko, Uhren, deren Leben mit den
Leben ihrer Besitzer stehengeblieben waren und den Moment des Todes verewigt
hatten. Und dann, immer noch die Ellbogen umklammernd, ging sie in die Küche
und machte sich bereit für die Reise in den nächsten endlosen Tag.
Die ganze Zeit über vergoß sie nicht eine
Träne, als ob der die Tränendrüsen aktivierende Mechanismus gestört war,
oder als weigerte sie sich noch, ihn zu beweinen, in der Hoffnung, er könne
plötzlich die Tür aufmachen und mit seinem schelmischen Lachen rufen: »Alle
mal lächeln - versteckte Kamera! Reingefallen!«
Als die sieben Trauertage vorüber waren,
kam nur noch seine Freundin Jael. Meist ging sie geradewegs in Ejtans
Zimmer, streckte sich auf der Matratze auf dem Teppichboden aus, wickelte
sich in die Decke, streichelte das Kissen, dessen Bezug seit seinem Tod
nicht mehr gewechselt worden war, ging auf in Ejtans Gerüchen und hörte
immer wieder die letzte CD, die er für sie beide aufgelegt hatte. Einmal,
nachdem Jael seit Stunden im Zimmer verschwunden und die Musik verstummt
war, lugte Schulamit besorgt hinein und sah sie schlafend in seinem Bett... |