Friedensprozeß statt Frieden
Uri Avnery war Abgeordneter der
Knesseth, friedenspolitischer Berater verschiedener Regierungspolitiker (u.
a. auch von Bruno Kreisky). Heute ist er prominenter Aktivist der
israelischen Friedensbewegung, Publizist und Journalist in Tel Aviv. |
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ZOOM: Wie sehen Sie die
Chancen für den Friedensprozeß im Nahen Osten nach dem Regierungswechsel in
Israel?
Uri Avnery: Der
sogenannte Friedensprozeß ist im Stocken. "Friedensprozeß" setze ich immer in
Gänsefüßchen, denn man hat sehr oft den Eindruck, daß der "Friedensprozeß" ein
Ersatz für den Frieden ist. Das heißt, daß der Prozeß an sich ein Selbstzweck
ist und die Leute vergessen macht, daß es um Frieden geht.
Es ist klar, daß eine
Anti-Friedensregierung ans Ruder gekommen ist. In dieser Regierung sind die
extrem Rechten vertreten, die extrem Religiösen und die Siedler. Sie wird es
sehr schwer haben, überhaupt einen kleinen Schritt zum Frieden zu machen. Die
Ideologie der Regierung ist gegen das Osloer Abkommen. Dazu muß man sagen, daß
schon das Osloer Abkommen kein besonders gutes Abkommen war. Auch die
vorherige Regierung hat sehr gezögert und geschwankt, bevor sie auch nur einen
Schritt zum Frieden gemacht hat. Jetzt hat sich die Lage noch verschlimmert.
Es ist sehr schwer vorauszusehen, wie sich diese Regierung im Verlauf der
nächsten Jahre benehmen wird.
ZOOM: Welche Steine
liegen am Weg zum Frieden im Nahen Osten?
Avnery: Die Regierung
wird verschiedenem Druck von verschiedenen Richtungen ausgesetzt sein. Von
innen wird sie Druck gegen jede Konzession den Palästinensern und den Syrern
gegenüber haben. Von seiten der Siedler wird es Druck geben, neue Siedlungen
aufzubauen oder bestehende Siedlungen zu erweitern. Noch stärker wird der
Druck sein, weitere Siedlungen im annektierten Gebiet von Jerusalem zu
gründen.
Auf der anderen Seite wird Druck von
seiten der Amerikaner bestehen, den "Friedensprozeß" weiterzuführen. Der
amerikanische Druck wird erst – wenn überhaupt – nach den amerikanischen
Wahlen eintreten. Bis zu den Wahlen kann man überhaupt keinen Druck erwarten,
sondern im Gegenteil die Unterstützung dieser Regierung. Denn es spielt bei
den amerikanischen Wahlen die jüdische Lobby eine große Rolle. Diese ist
mindestens zur Hälfte gegen Frieden und gegen Rabin gewesen. Die andere Hälfte
unterstützt die Regierung Israels unter jeder Bedingung. Jetzt haben wir also
100 Prozent der amerikanischen Juden, die diese Politik von Netanyahu
unterstützen. Kein amerikanischer Kandidat kann das ignorieren. Wir können
einfach nicht erwarten, daß Clinton vor den Wahlen irgendetwas tun wird, um
irgendeinen Druck auszuüben, der von den organisierten amerikanischen Juden
als antiisraelisch gedeutet wird.
Die arabischen Staaten üben natürlich
Druck auf Amerika aus. Denn alle proamerikanischen arabischen Regime haben
eine Heidenangst, daß, wenn der "Friedensprozeß" zum Stocken kommt, die
Stimmung in der arabischen Welt zugunsten der islamischen Fundamentalisten
umschlagen wird. In Ägypten, Jordanien, den Golfstaaten und Saudi-Arabien
werden die Fundamentalisten, die meistens noch isolierte Elemente sind, einen
ganz anderen Charakter annehmen, wenn sich die arabische Öffentlichkeit gegen
Amerika wendet, wenn die arabische Öffentlichkeit zu der Überzeugung kommt,
daß der ganze "Friedensprozeß" nur ein Betrug war, nur ein
amerikanisch-israelischer Kniff. Das wird der Hamas-Bewegung bei den
Palästinensern und den parallelen Bewegungen einen gewaltigen Auftrieb geben.
Dazu muß man den Druck von innen zählen.
Es hängt davon ab, ob und wie sich die Friedensbewegung aufrafft, um von unten
Druck auf die Regierung auszuüben. Und vielleicht als Hauptelement, der Druck
von seiten der Palästinenser. Die Palästinenser haben keine Machtmittel, um
auf Israel Druck auszuüben. Aber wenn es zu einer weiteren gewalttätigen
Auseinandersetzung kommt, zu einer Intifada mit einem neuen Charakter, dann
wird auch das auf die Regierung Druck ausüben.
Es ist schwer vorauszusehen, wie diese
verschiedenen Bedingungen in den nächsten drei, vier Jahren aufeinandertreffen
werden und welche Elemente ausschlaggebend sein werden. Ich würde nicht wagen,
da heute Prophezeiungen darüber abzugeben.
ZOOM: "Land für Frieden"
als Formel wurde von Netanyahu durch die Formel "Sicherheit für Frieden"
ersetzt. Hat das neue Konflikte verursacht? Sind deswegen Kriegsanlässe in der
nächsten Zukunft zu befürchten?
Avnery: Die Frage ist,
was man Krieg nennt. Wir haben zwei verschiedene Fronten: die palästinensische
und die syrisch-libanesische. Die Palästinenser unter Yassir Arafat werden
solange Geduld haben, wie sie können. Sie sind am Charakter der
Netanyahu-Bewegung und dem fehlenden amerikanischen Druck noch nicht ganz
verzweifelt. Sie warten noch. Sie glauben vielleicht diesen Parolen, daß
Netanyahu in Wirklichkeit ein Pragmatiker wäre, und all diesen Unsinn. Das
könnte sie veranlassen zu warten. Man muß immer bedenken, daß, wenn der
"Friedensprozeß" offiziell zusammenbricht, dann auch Arafat und seine
palästinensische Regierung in einer Zwangslage sind. Und das ist auch der
Grund, warum er versucht, das zu verschieben, solange er kann. Denn wenn
endgültig feststeht, daß der "Friedensprozeß" gescheitert ist, dann ist die
nächste Frage für die Palästinenser, was tun wir denn jetzt?
Die Opposition der Hamas-Bewegung, der
islamischen Fundamentalisten bei den Palästinensern, ist vorläufig noch
lahmgelegt. Weil die öffentliche Meinung bei den Palästinensern dem Frieden
noch eine Chance geben will. Wenn die öffentliche Meinung bei den
Palästinensern zu der Überzeugung kommt, daß das zu Ende und eine Illusion
ist, daß es ein Betrug ist, dann wird die Hamas-Bewegung bei den
Palästinensern ganz andere Möglichkeiten als heute haben. Wenn es so weit ist,
wird Arafat nicht solange warten bis die Hamas-Bewegung in der Öffentlichkeit
siegt, sondern er wird ihr zuvorkommen, und er wird selbst das tun, was die
Hamas-Bewegung tun will. Das heißt, wenn es wirklich zum Stocken kommt, dann
wird früher oder später eine neue Runde der Gewalt bei den Palästinensern
ausbrechen, eine neue Intifada. Das ist so eine Schlagwort, da muß man
bedenken, daß es nicht eine Wiederholung der alten Intifada wird, denn heute
herrscht auf dem Boden eine ganz andere Situation vor.
Wir haben heute praktisch einen
palästinensischen Staat im Ghazastreifen, palästinensisch verwaltete Städte im
Westjordanland. In allen diesen Orten gibt es palästinensische Streitkräfte,
Polizei genannt, aber zum großen Teil militärisch: ungefähr 40.000. Das ist
eine neue Situation, und keiner weiß, wie sich die benehmen werden. Das ist
keine militärische Gefahr für Israel. Die Übermacht Israels ist so unglaublich
gewaltig, daß das gar keine Frage ist. Aber wenn eine Reihe von Gewalttaten
oder eine Art Volksaufstand zustande kommt, dann ist es sehr fraglich, wie
Israel darauf reagieren kann. Denn die Idee, diese Städte und besonders den
Ghazastreifen zurückzuerobern – das ist militärisch nicht sehr schwer –, ist
unpopulär. Das würde ja alles, was in den letzten Jahren erreicht wurde,
zunichte machen, und es würde die arabischen Staaten geradezu dazu zwingen,
die Beziehungen mit Israel, die sie gerade aufgenommen haben, abzubrechen. Das
bedeutete einen schrecklichen Schlag für König Hussein, Präsident Mubarak und
König Fahd. Das wäre auch ein gewaltiger Rückschlag für die amerikanische
Politik im Nahen Osten.
ZOOM: Wann befürchten
Sie eine Eskalation an dieser, wie sie es genannt haben, ersten Front?
Avnery: Das sind alles
Sachen, die man konstatieren , aber die man nur sehr schwer prognostizieren
kann – was und wann geschehen wird. Ich habe beispielsweise ein Jahr vor der
Intifada eine Art futuristische Geschichte veröffentlicht, in der ich die
Intifada geschildert habe, wie ich sie mir damals vorgestellt habe– im Prinzip
dasselbe, aber in anderer Form. Trotzdem hat einen Tag vorher keiner geahnt,
daß morgen früh die Intifada ausbricht. Wenn die Bedingungen für so etwas
bestehen, dann kann sie jederzeit ausbrechen. Da genügt der kleinste Anlaß,
irgendein Vorwand. Es war damals ein Verkehrsunfall, der auslösend war. Wer
weiß, wann, wo und wie es passieren wird? Aber die Gefahr besteht, und dann
kann es zu einer sehr gewalttätigen Auseinandersetzung kommen, die alle
möglichen Formen annehmen kann: von Selbstmordaktionen wie Sprengung von
Autobussen usw. bis zu Auseinandersetzungen mit den palästinensischen
Streitkräften, Angriffen auf Siedlungen ...
ZOOM: Worin besteht die
zweite Hauptfront?
Avnery: An der anderen
Front, der syrisch-libanesischen, ist die Situation noch schlimmer. Bei den
Palästinensern ist es noch nicht so eindeutig, denn die Regierung wird
gezwungen sein, einige Zugeständnisse, den alten Abkommen entsprechend, zu
machen. Ich weiß nicht, irgendetwas wird passieren. Netanyahu wird Arafat
treffen. Dabei braucht gar nichts herauszukommen, aber das Treffen selbst ist
bereits ein Akt, und ich nehme an, daß am Ende Netanyahu einen Teil Hebrons
räumen wird. In Wirklichkeit ist der größte Teil Hebrons von der israelischen
Armee bereits geräumt. Es braucht nur offiziell zugegeben zu werden.
An der syrischen Front ist das bei weitem
schroffer. Da ist überhaupt nichts im Gange. Denn Rabin und Perez haben
versprochen, den ganzen Golan zu räumen. Es ging überhaupt nur noch um ein
paar Kilometer. Aber im Prinzip ist man einverstanden gewesen, den ganzen
Golan zu räumen. Die heutige Regierung sagt, nichts wird geräumt. Es besteht
also überhaupt keine Basis für die Wiederaufnahme von Verhandlungen. Wenn dem
so ist, wird Präsident Assad ganz sicherlich die Hisbollah dazu benutzen, um
militärischen Druck auf Israel auszuüben. Die Kämpfe mit der Hisbollah im
Libanon werden sich verstärken und bei weitem blutiger werden. Die Hisbollah
ist heute eine reguläre Armee, stark motiviert, hauptsächlich vom Iran
unterstützt. Sie hat eine doppelte Funktion: Befreiungsarmee gegen die
israelische Besatzung im Südlibanon zu sein und zur selben Zeit eine
fanatische religiöse "Heilige Krieg"-Truppe. Assad nutzt das aus, um auf
Israel Druck auszuüben.
ZOOM: Die Gefahr dieser
direkten Konfrontation Israels mit Syrien besteht ihrer Wahrnehmung nach
nicht?
Avnery: Die Möglichkeit,
daß zwischen Israel und Syrien direkte Feindseligkeiten ausbrechen, ist
unwahrscheinlich. Aber ich würde es nicht ganz ignorieren. Assad kann sich
eines Tages sagen, ich mache den Krieg. Ich werde den Krieg zwar verlieren,
aber ein verlorener Krieg, der alles wieder in Bewegung bringt, ist besser als
die Situation, in der alles erstarrt und aussichtslos ist. Ich habe Golda Meir
seinerzeit gewarnt, daß die Ägypter das tun würden. Die hat mich praktisch
ausgelacht, und dann kam der Yom-Kippur-Krieg. Bei dem war allen Arabern klar,
daß sie ihn verlieren würden. Der Erfolg, den sie am Anfang hatten, hat sie
selbst und alle überrascht. Sie haben den Krieg angefangen, obwohl sie wußten,
daß sie den Krieg verlieren würden. Mit dieser Idee, daß es besser ist, den
Krieg zu verlieren, aber alles wieder in Gang zu bringen. Das heißt, diese
Gefahr ist nicht ganz außer acht zu lassen. Ich würde aber sagen, sie hat eine
geringere Bedeutung.
ZOOM: Die Beziehungen
zwischen Türkei und Syrien, die sich kurze Zeit entspannten, spielen hier in
diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle? Gleichzeitig hat die Türkei ja
noch ein aufrechtes Sicherheitsabkommen mit Israel.
Avnery: Es ist eine ganz
alte israelische Idee – was eigentlich zeigt, wie wenig sich verändert hat
seit den Zeiten Ben Gurions –, einen Ring der Peripherie herzustellen. Das
heißt, die arabische Welt ist unser Feind, also versuchen wir ein Bündnis mit
allen antiarabischen Staaten zu machen, die die arabischen Staaten umringen,
nämlich: Türkei, damals der Iran des Schah, Äthiopien, sogar Tschad war dabei.
Jetzt sind wir auf dem Weg zum Frieden
mit der arabischen Welt, und trotzdem wurde – noch von der Arbeiterpartei –
diese alte Idee wiederbelebt, ein Militärbündnis mit der Türkei, das gegen
Syrien und die arabische Welt gerichtet ist, einzugehen. Ich habe die Logik
dabei nicht ganz verstanden. Aber es zeigt doch nur, daß die alten Ideen noch
nicht gestorben und die neuen noch nicht wirklich im Bewußtsein verankert
sind. Dieses Bündnis steht jetzt mit der neuen Regierung in der Türkei in
Frage. Es ist ein Druckmittel auf Syrien, aber nicht nur auf Syrien.
Im Grunde verstehen Israelis und
Amerikaner die arabische Welt nicht. Sie verstehen nicht, wo die arabische
Solidarität besteht. Es ist sehr offensichtlich, wo sie nicht besteht. Wo sie
verschiedene Interessen haben und gegeneinander kämpfen usw. Aber unter
alledem ist bei den Massen der Völker eine sehr starke Strömung der
Solidarität im Gange. Und die Bedrohung Syriens durch ein Bündnis zwischen
Türkei und Israel wird auf alle arabischen Völker einen psychologischen
Einfluß haben. Das sieht man schon an Ägypten. Mubarak, Hussein und Arafat
haben sich mit Assad versöhnt. Weil die Bedrohung der Araber durch die
Türken–ein bei den Arabern überaus verhaßtes Volk – Reaktionen in der ganzen
arabischen Welt erzeugt. Es handelt sich bei denen, die das Bündnis
Israel–Türkei geschmiedet haben, um Militärs, die diese Effekte nicht bedacht
haben. Militärs denken bekanntlich in sehr primitiven Kategorien.
ZOOM: Gibt es
Handlungsspielräume, und entsteht durch die neue Regierung ein Neuaufbruch für
die Friedensbewegung in Israel? Gibt es überhaupt noch eine Friedensbewegung,
sammeln sich die Gruppen und Initiativen neu, und wo setzen die inhaltlich an?
Avnery: Friedensbewegung
ist so eine euphemistische Beschreibung. Es hat nie eine
Friedensbewegung gegeben, sondern verschiedene Organisationen. Und ich würde
sagen, hauptsächlich gibt es zwei Tendenzen. Als Rabin und die Arbeiterpartei
an die Macht kamen, hat sich die größte Friedensbewegung Peace Now– Frieden
Jetzt, Shalom Achschaw– Rabin zur Verfügung gestellt und sich praktisch zur
Ruhe gesetzt. Sie hat jede Aktion eingestellt und im Laufe der drei Jahre so
gut wie überhaupt nichts getan, weil sie gesagt hat, jetzt sind wir an der
Regierung, Rabin macht Frieden. Wir dürfen diese Regierung nicht kritisieren,
wir müssen sie bedingungslos unterstützen, und sie gegenüber der Rechten nicht
schwächen. Und so hat Peace Now praktisch alles angenommen, was Rabin
angestellt hat: die Deportation der 415 islamischen Sympathisanten am Anfang;
dann die Nichteinhaltung der Termine aus dem Osloer Abkommen unter der Parole,
keine Termine sind heilig; die Nichtfreilassung eines großen Teils der
palästinensischen Häftlinge; die Weiterführung der Besiedlungen.
Man darf nie vergessen unter Rabin und
Perez hat sich die Siedlerbevölkerung um 40 Prozent vergrößert. Die
Siedlerpolitik ist forciert weitergegangen. All das hat Peace Now mehr oder
weniger ohne Protest angenommen. Auch weil Peace Now sehr stark mit der
Arbeiter- und der Meretz-Partei verbunden ist, praktisch von diesen beiden
kontrolliert wird. Der Führer von Peace Now hat sich zur Wahl für die
Arbeiterpartei zur Verfügung gestellt. Das hat dazu geführt, daß Peace Now in
den letzten drei Jahren überhaupt nichts getan hat und die Straße den
Rechtsradikalen überlassen hat. Alle Demonstrationen, die man gesehen hat,
waren rechtsradikal.
Dann gibt es die zweite Tendenz, meine
Freunde und ich haben am Anfang der Rabin-Regierung eine neue Friedensbewegung
aufgestellt, genannt Gush Shalom, Friedensblock. Die hat gesagt, wir
unterstützen das Osloer Abkommen, aber wir protestieren, kritisieren, gehen
auf die Straße. Wir haben seitdem mehr als hundert Demonstrationen
veranstaltet. Obwohl wir überhaupt kein Geld bekommen und gar nicht die
Möglichkeiten wie eine Bewegung wie Peace Now haben. Aber wir haben durch
unsere Aktivitäten eine Unzufriedenheit von unten innerhalb von Peace Now
erzeugt und dadurch Peace Now selbst in Bewegung gebracht. Zu der zweiten
Tendenz würde ich zum Beispiel die Gruppe von israelisch-palästinensischen
Ärzten zählen, die wunderbare Sachen in den besetzten Gebieten machen ...
Ein dritter Faktor: Seit dem Vorabend der
Ermordung Rabins hat sich eine Bewegung von Anhängern Rabins gebildet, mit
sehr starker finanzieller Unterstützung von einigen Millionären, für die Leute
wie wir viel zu radikal sind. Die Demonstration, bei der Rabin ermordet worden
ist und bei der wir alle natürlich teilgenommen haben, war organisiert von
dieser Bewegung. "Eine ganze Generation ist für den Frieden" – im Hebräischen
so ein Wortspiel. Die ist auch noch da, aber die ist noch gemäßigter als Peace
Now. Sie hat die Mittel, alle mögliche Sachen zu veranstalten.
In dieser neuen Situation, wo die
Arbeiterpartei nicht an der Regierung und Peace Now auch nicht im Parlament
ist, besteht die Hoffnung, daß auch Peace Now wieder aktiver wird. Besonders
wenn die Regierung Sachen unternimmt, die bei Peace Now und diesen Leuten
Erregung hervorruft. Man muß immer bedenken, um überhaupt zu verstehen, was
Peace Now ist, daß sie keine Mitglieder hat. Peace Now hat einen kleinen Kern
von ein paar Dutzend Aktivisten, eine Führung, die nie von jemandem gewählt
wurde, die ist einfach da, bald schon seit 15 Jahren unverändert. Sie ist eine
Art Miliz. Wenn wir Gush Shalom mit einer Kommandotruppe vergleichen, so würde
ich Peace Now mit einer Miliz vergleichen. Deren Aktionsfähigkeit hängt davon
ab, daß die Erregung in einem genügend großen Teil der Bevölkerung da ist.
Peace Now kann nicht 100.000 Leuten befehlen, zum Rabin-Platz nach Tel Aviv zu
kommen. Darum hat sie auch oft Angst zu Demonstrationen aufzurufen, weil dann
statt 100.000 plötzlich nur 100 Menschen da sind. Das ist ihnen schon mehrmals
passiert. Auch, daß unsere Aktion größer war als ihre. Peace Now ist darauf
angewiesen, daß etwas passiert. Nach dem Massaker von Sabrah und Shatila waren
fast 400.000 Menschen da. Es besteht also die Hoffnung, daß das langsam wieder
in Gang kommt und daß dann die Friedensbewegung ein wichtigerer Faktor wird,
als sie es heute ist.
Vorläufig sammeln wir die Basis für neue
Aktionen. Wir gehen zum Beispiel nächsten Samstag mit 50 führenden
Journalisten zu Jassir Arafat nach Ghaza. Wir werden eine Rundfahrt in Ghaza
machen. Dasselbe haben wir vor zwei Wochen in Hebron gemacht. Daß die
überhaupt sehen, wie diese verrückte Situation dort heute aussieht. Wir wollen
eine breitere Schicht von Meinungsmachern gewinnen. Das Hauptziel unserer
Organisation ist, durch die Medien an die Öffentlichkeit zu kommen.
ZOOM: Gibt es Yesh Gvul
und die selektiven Wehrdienstverweigerer noch?
Avnery: Es gibt zwei
verschiedene Arten von Verweigerern. Prinzipielle Kriegsdienstverweigerer gibt
es so gut wie gar nicht mehr. Einer der drei ist ausgewandert. Was wichtig
war, ist die Organisation Yesh Gvul, deren Mitglieder speziell den Dienst im
Libanon und in den besetzten Gebieten verweigert haben. Im Libanon sind 150
Verweigerer in die Gefängnisse gekommen und in den besetzten Gebieten auch
einige Dutzend. Obwohl die Erscheinung bei weitem größer war. Denn unsere
Armee ist nicht so blöd wie die meisten. Es hängt immer von den direkten
Vorgesetzten ab, wie die reagieren. Meistens haben die Vorgesetzten gesagt:
"Weißt Du was, wir erledigen das in Ruhe. Du willst hier nicht dienen, geh in
eine Kaserne nach Tel Aviv und mach dort Küchendienst."
Die offizielle Bewegung ist kleiner
gewesen, als sie hätte sein können, obwohl in der Friedensbewegung darüber
immer eine sehr starke Diskussion stattgefunden hat. Leute haben fanatisch
dafür argumentiert. Für die war das Alpha und Omega der Friedensarbeit die
Verweigerung. Andere Leute haben gesagt, es ist ein Fehler, denn in der
Situation in den besetzten Gebieten ist es gerade wichtig, daß diese Leute
dort anwesend sind. Denn sehr oft hängt das Leben anderer Leute davon ab, daß
jemand da ist, der nein sagt. Daß jemand, der mitten in einer arabischen Stadt
die Wahl hat zu schießen oder nicht oder den Leuten die Knochen zu brechen
oder nicht, guten Willens ist. Ein einziger Mensch, der dabei ist und sagt:
"Du hör mal, das können wir nicht tun, das sollen wir nicht tun", kann
auslösen, das zu verhindern. Und wenn es doch passiert, daß Zeugen da sind,
die aussagen können. Daher war das für uns immer ein Problem. Peace Now war
absolut gegen Verweigerung, die Meretz-Partei auch.
Ich selbst war Soldat, und ich muß sagen,
ich war im inneren Widerstreit. Einerseits hat die moralische Entscheidung
eines einzelnen, zu sagen, ich diene nicht, einen moralischen Wert, der wirkt.
Andererseits war ich mir sehr bewußt, daß die Anwesenheit von anständigen
Soldaten an wirklich vielen Plätzen in den besetzten Gebieten auch sehr großen
Wert hat. Und deswegen habe ich mich nie ganz entschieden, wofür ich
eigentlich bin. Ich habe beide unterstützt.
ZOOM: Was wären die
Aufgaben für europäische Friedensarbeit in bezug auf die israelische
Friedensbewegung?
Avnery: Es gibt da eine
gewisse Zurückhaltung. Es gibt massenhafte Unterstützung für humanitäre
Arbeit, für was weiß ich: Schülerbegegnungen zwischen palästinensischen und
israelischen Kindern ... Als ob das irgendeinen Sinn hätte. Ich würde sagen,
es ist nicht wertlos und hat einen gewissen Sinn, aber für wirklich politische
Aktionen, um die es eigentlich geht, für die ist keine Unterstützung und kein
Geld da.
Wir haben in Israel Dutzende von
Organisationen, die wir überhaupt nicht kennen. Die existieren auf dem
Briefbogen und holen massenhaft Geld aus dem Ausland. Zum Beispiel von der EU.
Ich habe eine Organisation kennengelernt, ich nenne sie nicht mit Namen, die
haben ein wunderbares Büro. Ich bin vor Neid geplatzt. Wo kommt das Geld her,
habe ich sie gefragt? Sie bekommen von der EU eine viertel Million Dollar. Das
ist eine ganze Industrie und Inszenierung mit Hochglanzbroschüren und
Scheintreffen ...
Aber die Leute haben vielleicht
Hemmungen, wirklich politische Aktionen zu unterstützen, die gegen die
Regierung gerichtet sind. Vor allem die Leute aus Österreich und Deutschland,
die sagen, gegen die Regierung in Israel, das ist nicht schön – die haben dann
moralische Angst.
ZOOM: Da wäre eine etwas
andere Partnerschaft für politischen Frieden gefordert.
Avnery: Ich würde sagen,
ja. Netanyahu hat Dutzende Millionäre, die ihn unterstützen. Auf der anderen
Seite ist sehr wenig Geld, das fließt so wischiwaschi für nette Sachen. Ich
finde das ja ganz nett, aber was hat das damit zu tun, was wirklich passiert.
ZOOM: Herzlichen Dank
für das Gespräch.
Das Interview führte Peter Steyrer Anfang
Juli im Rahmen der Sommerakademie in Schlaining / Österreich.
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ZOOM / 1998
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