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Judentum?
Was das für mich bedeutet?

Bis zum Tag meiner Geburt war eigentlich alles in Ordnung für mich, und ich kam gut mit mir und der Welt zurecht. Daß ich Jude bin hat man mir, wie so vieles andere auch, als Kind dann erzählt. Eine ganze Zeit vermochte ich mit dieser "Information" wenig anzufangen. Mit der Einschulung sollte sich das ändern. Wenn die anderen, die meisten, im Katechismusunterricht waren, gingen meine Schwester und ich zu Rabbi Mandel, ein freundlicher und lustiger etwas rundlicher alter Mann, der uns kleinen Quälgeistern etwas beibringen sollte und das auch tat.

Es war heiß in jenem Spätsommer 1965 und auch unserem Rabbi war es warm. Das Jackett  blieb am Haken, die Ärmel hochgekrempelt. Er wischte sich mit einem riesengroßen weißen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Da sah ich sie, seine "Nummer". Bisher hatte ich das noch nie "bewußt" wahrgenommen, erst jetzt fiel mir auf, daß es noch ein paar andere "Numerierte" in meiner kleinen Welt gab. Mir fiel auch auf, daß dies bei denen aus dem anderen Religionsunterricht nicht so war. Das war meine erste bewußte Feststellung in Sachen jüdischer Identität. Wenige Jahre später, mittlerweile war ich in Deutschland, fuhren wir ins Landschulheim und vorher wurden wir vom Schularzt untersucht. Es schien so, als sei alles in Ordnung mit mir, nur auf seine Fragen ob ich Voll- oder Halb- oder Viertel- oder was auch immer für ein Teiljude sei, wußte ich so recht nichts anzufangen. Erst geraume Zeit später wurde mir klar, was er eigentlich gemeint hatte.

Mich durchfuhr blankes Entsetzen bei dem Gedanken daran, wer mich da möglicherweise untersucht hatte. Ob er einer von "diesen" Medizinern war? Von seinem damaligen Alter her hätte das durchaus sein können. Der Sportunterricht und das Landschulheim konfrontierte mich mit einem weiteren "kleinen Unterschied". Die Gemeinschaftsduschen brachten es an den Tag, da war doch etwas anders. Die verkrampfte Peinlichkeit der Erzieher vermochte ich nicht zu verstehen, alles reine Formsache. Mit dem Wechsel zum Gymnasium verwischen sich die Spuren und die Barmitzwa sollte das vorerst Letzte sein, daß mich an das erinnerte was ich eigentlich bin. Politische Einflüsse und der Zeitgeist ließen mich in eine links orientierte Szene gelangen. Das Studium von Wissenschaft und Philosophie trug ebensowenig wie die darauf folgende, mittlerweile verworfene, Karrierefindung, zur Erinnerung an mich selbst bei.

Aber dennoch, es war eben alles etwas anders. Ich vermied jede Diskussion zum Thema "Glaubenszugehörigkeit" und präzisen Frage zu dem was ich denn nun sei, entgegnete ich einfach: nichts. So wurde ich, ohne jemals ein Wort dazu beigetragen zu haben, von meinem Umfeld zum Austreter der katholischen Kirche "gemacht". Das paradoxe daran war, daß jeder dieses Märchen sehr gut nachvollziehen konnte: Als politisch links Orientierter erschien das jedem einleuchtend. Mir persönlich mochte das nicht gefallen, aber es ersparte mir eine ganze Reihe peinlicher und schlicht dummer Fragen. So war ich damit "fein raus". Diese Unterhaltungen zu unserer vergangene Geschichte hatten immer etwas beklemmendes für mich. Die maßlose Ignoranz welche mir immer wieder begegnete war niederschmetternd, zumal ich mittelbar auch betroffen bin. Wer von uns ist das nicht? Aber das macht es nicht leichter, etwa nach dem Motto: "geteiltes Leid ist Millionstel Leid", davon habe ich nie etwas gemerkt, diese Art der Solidarität hat etwas recht Absonderliches an sich...

Viele fanden es "schick" sich mit dieser Geschichte auseinander zu setzen: das war ja alles so schrecklich, damals, aber es ist schon so schrecklich lange her, nicht wahr, und heute ist ja alles anders, ganz anders und viel besser. Erstaunlich ist nur, daß eigentlich niemand direkt etwas damit zu tun hatte. Hört man ältere Leute so reden, dann ist es ein Wunder wie das überhaupt hat geschehen können: "...da hatten wir ja nichts mit zu tun..." "...ich war ganz wo anders stationiert..." "...das haben wir ja nicht gewußt..." oder die etwas mutigeren: "...das haben wir erst nach dem Krieg erfahren..." Goebbels Propaganda war sehr effektiv und wer das nicht mitbekommen hat muß blind und taub gewesen sein und das waren sie alle nicht, dafür haben die Nazis unserem Planeten zu sehr "eingeheizt".

Mir drängte sich unweigerlich der Verdacht auf, daß das Interesse der Leute an den Juden nicht im Geringsten etwas mit den Menschen zu tun hat, sie sind nur an der "Action" interessiert. Manchmal meine ich, das alles hat etwas von einer großen Veranstaltung an sich und die Frage ob von meinen Leuten auch jemand dabei war bereitet mir tiefes Unbehagen um ihren tatsächlichen Sinn. Das Interesse gleicht dem der Gaffer bei Unfällen auf der Autobahn. Zu bieten haben wir ja etwas: in Israel ist es nie "langweilig", irgendein Blutbad kann immer wieder recht medienwirksam das allgemeine Interesse bannen und läßt sich gut vermarkten. Die Menschen? Niemand schert sich um sie, sie sind nur die Statisten. Wir sind da nicht viel besser, in der Präsentation eigenen Layouts.

So zum Beispiel Steven Spielberg, der da Vergangenes perfekt gekonnt inszeniert und sehr gut vermarktet hat. Der Erfolg mag ihm gegönnt sein, aber ich beneide ihn dennoch nicht, denn, soweit ich weiß, erging es seinen Leuten nicht anders und ich meine vielleicht, er hat das verdrängt. Wenn es denn so ist, vermag ich ihn ein wenig zu verstehen, warum soll es ihm besser gehen als mir, vielleicht fällt es ihm auch irgendwann wieder ein. Zu Weilen tendiere ich dazu extrem zynisch zu sein, aber habe ich denn die Wahl? Ich denke an olympisches, wenn ich zum Schicksal unseres Volkes gefragt werde oder die Geschichte des auserwählten Volkes aufs Tapet kommt: "dabei sein ist alles". Auserwählt wozu und wobei zu sein? Medaillen gab es bisher jedenfalls keine, zumindest keine für das Jiddischsein. Wir sind ja alle so toll, so klug, so gebildet und das schon so lange Zeit und immer wieder. Auf die Idee, daß das eine elementare Notwendigkeit war und ist und es immer nur ums nackte Überleben und den Fortbestand unseres kleinen Volkes ging, kommt niemand. Daran ist nichts mystisches und G-tt hat da sicher nichts mit zu tun.

Mancher von uns hat in den letzten Jahrtausenden sicher öfter verflucht Jude zu sein als sich als solcher wohl gefühlt zu haben. Wir sind so großartig und einmalig, daß wir sogar in Puncto Genozid, auch nach über Fünfzig Jahren immer noch sie Hitliste anführen. Da liegt das Interesse, nicht an den Menschen, niemanden interessiert tatsächlich was und wer wir sind. Die nicht enden wollenden bohrenden Fragen, die immer heraufbeschworene Versöhnung und die Vergebung, alles Dinge mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann. Mir würde es schon reichen, wenn überhaupt niemand mehr etwas tut, nicht für uns, das ist ohnehin klar, aber wenn es möglich ist auch nicht gegen uns.

Vor ein paar Jahren war ich mal in Auschwitz. Nein, nicht per Zufall vorbei gefahren, absichtlich hingereist. Da fanden wir "uns" sehr schnell zusammen, wie zufällig. Die wenigen Älteren in der Gruppe, die damals "dabei waren" haben eigentlich überhaupt nichts gesagt. Sonst hat auch niemand etwas gesagt. Von "anderen" Gruppen wehten Wortfetzen herüber "grausam", "schrecklich", "unfaßbar".... Am Abend saßen wir zusammen, zuerst war die Stimmung sehr düster, aber nach einiger Zeit kam es zu Unterhaltungen. Themen: alles mögliche, Juden quatschen eben gerne, so heißt es doch. Die älteren reden von den Enkeln, die anderen von der Familie, den Freunden, dem Geld, der Liebe, einer erzählte dumme Witze.... "Darüber" hat niemand geredet. Etwas später kam eine sehr junge Frau zu uns und frage "vorsichtig" was es denn zu "feiern" gäbe. Sie hat erst nicht mitgekriegt "wer" wir sind, niemand hat es ihr gesagt, wozu auch. Sie wunderte über die etwas "sonderbare" Stimmung. Ob sie begriffen hat was tatsächlich vor sich ging? Was hätten wir den tun sollen? Welche Fragen soll man noch stellen auf die es niemals eine Antwort gibt, und sollen wir es entsetzlich "finden", da gibt‘s nichts zu finden, jeder weiß es. Vielleicht war es ein wenig das Bewußtsein davon gekommen zu sein? Das ist so ziemlich alles was mir dazu einfällt.

Einen Bedarf an politischen Sektionsprotokollen zu Ursache und Wirkungsprinzipien verspüre ich nicht, denn sie bringen, meiner Auffassung nach, absolut nicht. Warum sollten sie auch? Präventive und umfassende Aufklärung ist nötig und nicht nur die Feststellung statistischer Daten, denn es geht um alle Menschen und um ihre Zukunft. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" So meinte Immanuel Kant schon vor Zweihundert Jahren. Die Mahnung, man müsse aus der Geschichte lernen mag ja rührig sein, aber wann bitte hat die Menschheit irgendwann irgend etwas aus dieser Geschichte gelernt? Warum sollte das jetzt anders sein und warum sollte das für uns besser sein? Was tatsächlich geschieht bedarf hier keiner weiteren Ausführung.

Jedesmal wenn mir jemand in nur allzu bekannten Tonfall sagt "Ach, sie sind Jude..." wird mir immer wieder bewußt, daß sich überhaupt nichts geändert hat in den Köpfen und vor allem in der Seele der Menschen. Insofern erscheint mir auch das Argument die Erinnerung lebendig zu erhalten sehr fragwürdigen Inhalts, denn tatsächlich hat niemand irgend etwas vergessen. Wer was nicht vergessen hat, ist eine andere Frage, aber in der Banalität des Alltäglichen findet sie ihre deutliche Beantwortung. Was es bedeutet Jude zu sein ist die falsche Frage. Was ist es sollte es heißen. Der religiöse Aspekt erscheint hier nicht unbedingt vordergründig, auch wenn er hintergründig seine tiefe Bedeutung hat. Judentum? Auf eine Glaubensgemeinschaf beschränkt sich das sicher nicht und läßt sich so nicht definieren. Ich tue mich sehr schwer mit dem Exklusivausdruck "Judentum".

Judentum: alles was den Juden angeht? Das trifft es schon eher. Ein Mißverständnis mit dem ich immer wieder konfrontiert werde, ist der Vergleich zu anderen "Glaubensgemeinschaften". Paradox ist dabei, daß die, die eigentlich als unsere "direkten Widersacher" gelten sehr viel besser nachvollziehen können was gemeint ist, als die christlichen Gemeinschaften. Radikale Elemente meine ich nicht, denn die sind in jeder Form und jeder Richtung eine Katastrophe. Erinnern wir uns an das Schicksal Izhak Rabins, das sollte genügen. Da werde ich mit Feststellungen konfrontiert mit denen ich absolut nichts anfangen kann. Das geht sogar so weit, daß nur Jude ist, wer koscher ißt. Wenn ich dann antworte, daß es ein Zustand ist, wie das Leben selbst, versteht es niemand. Gut, ich verstehe es selber oft auch nicht, ich weiß nur, daß es ein Teil meiner Identität ist, den ich lange verloren und auch vermißt habe.

Genauso unsinnig erscheint mir dann die Feststellung christlicher Mitmenschen, ich habe den Weg zu meinem Glauben gefunden. Wie die nur darauf kommen? Ich hatte ihn nie verloren und darum geht es überhaupt nicht. Für mich ist er nur ein Teil des Ganzen. Ich vermag es nicht präzise zu definieren, ich weiß nur, daß es so ist. Mittlerweile fühle mich wohl dabei mich ein wenig wiedergefunden zu haben. Als ich sechs Jahre alt war fragte ich unsern Rabbi, ich erwähnte ihn eingangs:  "Was ist das Jude sein?" Seine Antwort auf eine Kinderfrage war einfach und sehr klar: "Das mußt du für dich finden"....."wenn du es gefunden hast, wirst du es wissen". Er sollte Recht behalten.

Achim (39 Jahre, NRW)


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