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Verlauf der Rückbenennungsdiskussion

Von Sascha Kindermann

Die Diskussion über die Rückbenennung der Kinkelstraße in "Jüdenstraße" setzte 1985 durch einen Vorschlag der Spandauer FDP ein.34 An den Straßenschildern gab es damals keinen Verweis auf den früheren Namen, sondern nur eine Information über Kinkel. Nach Karl-Heinz Bannasch (FDP) war der Vorschlag zur Rückbenennung in Spandau gleichzeitig der erste zum Gedenken allgemein. Weitere Vorschläge, etwa zur Errichtung eines Mahnmals und zur Anbringung einer Gedenktafel am alten Postgebäude, seien - insbesondere von der SPD - eingebracht worden, um das FDP-Vorhaben zu verhindern ("Jüdenstraßen-Verhinderungsanträge").

Im September 1986 veranstaltete die FDP ein Gespräch auf der Zitadelle, zu dem sie den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinsky, den Spandauer Bürgermeister, Werner Salomon, und Parteivertreter einlud. Als die Geladenen schon erschienen waren, sagte der Bürgermeister nach Bannaschs Aussage ohne Angabe von Gründen ab.

Am 17.9.1988, am 50. Jahrestag der Umbenennung der Jüdenstraße, überklebte die FDP im Rahmen einer Aktion eines der Straßenschilder mit einem Schild "Jüdenstraße".35

Im Frühjahr 1994 forderte die Partei erneut, "der von den Nationalsozialisten im September 1938 umbenannten Straße nun unverzüglich ihren historischen Namen zurückzugeben" (Berliner Zeitung).36

Für den 23.8.1994 lud sie den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, nach Spandau ein,37 um Stätten jüdischer Vergangenheit zu besuchen und auf dem Marktplatz mit Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen.

Am 14.9.1994 wurde die Rückbenennung von einer Mehrheit aus SPD und CDU beschlossen. Die FDP war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) vertreten.38

Im selben Jahr äußerte Siegfried Schmidt, ein Mitglied der "Bürgeraktion", zu der sich die Gegnerinnen und Gegner der Straßenrückbenennung zusammengeschlossen hatten: "SPD-Bürgermeister Sigurd Hauff begründet das Einverständnis seiner Partei für die Rückbenennung damit, dass es einen steigenden Antisemitismus in Deutschland gibt." Schmidt weiter: "Ohne Beteiligung der Betroffenen erregt die Sache aber eher antisemitische Gefühle."39 "Die Juden" bekommen also den Frust derjenigen Bürger ab, die sich von Politikern übergangen fühlen.

Am 7.3.1996 fragte ein Leserbriefschreiber im Spandauer Volksblatt: "Wann hört Herr Bannasch endlich auf, die Rückbenennung der Kinkelstraße in Jüdenstraße zu fordern?" Mit der Kinkelstraße müsse man - wegen der Verbindung der beiden Personen - auch die benachbarte Carl-Schurz-Straße rückbenennen, meint der Schreiber. Durch die Gleichsetzung der beiden Straßen wird der Antisemitismus der Nazis ausgeblendet, der zur Auslöschung der "Jüdenstraße" führte. Ein anderer Satz impliziert die Vorstellung einer Übermacht "der Juden": "Wenn in Berlin für jeden Wirkungsort der Juden eine Straße benannt werden sollte, hätten wir bestimmt mehr Jüdenstraßen als zum Beispiel Berliner Straßen."40 Es wird das Bild einer überwältigenden Vielzahl von "Wirkungsorten der Juden" gezeichnet und wiederum ignoriert, dass es darum geht, eine konkrete Beseitigung eines jüdischen Namens durch die Nationalsozialisten zu revidieren.

Nach dem Beschluss vom Herbst 1994 wurde der Name "Jüdenstraße" nicht wiedereingeführt, sondern am 21.8.199641 entschieden sich CDU und SPD, das Rückbenennungsverfahren einzustellen.42 "Damit hatten Proteste von Anwohnern Erfolg." (Berliner Zeitung)43 Diese hatten Kosten für neue Briefbögen und Werbeplakate vermeiden wollen und befürchtet, der Name "Jüdenstraße" könne Neonazis anziehen.44 Die BVV beabsichtigte zudem, mit dem bestehenden Namen den Lyriker, Revolutionär und einstigen Spandauer Häftling Kinkel zu ehren.45 Als einzige Fraktion46 übte die GAL Kritik: "Damit wird die von den Nazis vorgenommene Umbenennung gutgeheißen".47 Auch Bannasch kritisierte die Einstellung des Verfahrens: Es "wäre [...] angebracht gewesen, in Spandau ein sichtbares Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen".48 "Keine Sternstunde" sei die Debatte um die Kinkelstraße gewesen, kommentierte zwei Tage nach der Entscheidung sarkastisch die Berliner Zeitung: "Die Beiträge [...] bewegen sich auf erstaunlichem Niveau. Tenor: Die großen Parteien dürften sich nicht zu fein sein, einmal getroffene Beschlüsse wieder zu kippen."4

Die Gründung eines "Forum Jüdische Geschichte Spandaus" wurde in einem Zug mit der Aufhebung des Rückbenennungsverfahrens beschlossen,50 damit "das schwarze Kapitel der nationalsozialistischen Umbenennung nicht vergessen wird." (Berliner Zeitung)51 Die offenbar auch "Forum Kinkelstraße" genannte Plattform nahm im Januar 1997 ihre Arbeit auf, wobei die Jüdische Gemeinde aus Protest gegen die gestoppte Rückbenennung der ersten Sitzung fernblieb.52 Das Forum setzte sich aus Repräsentanten der in der BVV vertretenen Parteien, der Kirchen und Kinkelstraßen-Anwohnern - "einige von ihnen erklärte Befürworter des Namens Jüdenstraße" (Berliner Zeitung)53 - sowie Vertretern des Bezirksamtes zusammen. Bannasch gibt an, auch in der BVV nicht vertretene Parteien seien zur Teilnahme eingeladen worden. Nur die FDP habe - mangels Bedeutung in der politischen Landschaft - außen vor bleiben sollen. Dennoch nahm Bannasch am Forum teil, noch bevor er der BVV angehörte. Auch Siegfried Schmidt gehörte dem Gremium an, "kam aber so gut wie nie" (Bannasch) und habe doch stets auf seine Mitwirkung verwiesen.54

Das Forum widmete sich u.a. der NS-Vergangenheit und sollte dazu dienen, dass "das Andenken an jüdische Bürger nicht in Vergessenheit gerät." (Berliner Zeitung)55 Es initiierte Projekttage an Schulen, Gesprächsrunden, Stadtführungen, Besuche von Gedenkstätten und Städten in Osteuropa usf.56 Auf Vorwürfe, nur eine Alibifunktion zu erfüllen, entgegnete das Forum, es sei kein "Ersatz für die Nicht-Rückbenennung." (Berliner Zeitung)57 Man beschäftigte sich auch mit der Kinkelstraße und kritisierte 1997 den vorhandenen Straßenschildzusatz als unzureichend, da er lediglich auf die "Umbenennung" von 1938 verweise. Ein zusätzliches Schild solle darüber hinaus den "nationalsozialistischen und antisemitisch motivierten Unrechtsakt" herausstellen und ein Denkmal die Maßnahme der Nazis als "Bruch der Geschichte" (Forum Jüdische Geschichte) charakterisieren.58 Vier Jahre später, 2001, wurden die Erläuterungstäfelchen an den Straßenschildern offenbar angebracht.59 Noch im selben Jahr wurde das Forum wieder aufgelöst, was Bannasch kritisiert: "Als ob der Antisemitismus sich an Legislaturperioden hält".60

Im September 1996 forderte die Arbeitsgruppe "Christen und Juden" der Synode des Evangelischen Kirchenkreises Spandau weiterhin die Rückbenennung. Es "bekomme diesem moralisch wichtigen Thema nicht, wenn es zum Spielball der Parteipolitik" (Berliner Zeitung) werde. In puncto Gedenken brauche man häufig zu lange, um zu angemessenen Entscheidungen zu gelangen.61

Ende September 1996 schrieb der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Jerzy Kanal, an Bezirksbürgermeister Konrad Birkholz (CDU): "Die Umbenennung von Straßen war eine Naziverfolgungsmaßnahme gegen Juden, die letztendlich zu Deportation und Vernichtung geführt hat."62

Auf der Gedenkveranstaltung am 9. November 1996 kam der Bürgermeister nicht auf den Streit um die Kinkelstraße zu sprechen und äußerte nach der Veranstaltung, er habe den Anlass für "nicht ganz passend", um eine solche Diskussion zu führen, befunden. Andreas Nachama von der Jüdischen Gemeinde dagegen ging "mit Spandaus Kommunalpolitikern hart ins Gericht" (Berliner Zeitung), denn seine Gemeindemitglieder könnten und wollten die Entscheidung gegen eine Rückbenennung nicht verstehen: "Was in den letzten Jahren in Deutschland passiert ist und passiert, vom großen Inferno in Mölln und dem Brand der Synagoge in Lübeck bis zur verunglückten Rückbenennung der Jüdenstraße in Berlin-Spandau, wirft die Frage auf, was für ein Deutschland dies ist, in dem wir uns hier bewegen." Entscheidungen wie die gegen die "Jüdenstraße" und die jüngsten Brandanschläge ließen ihn an der Perspektive für eine jüdische Gemeinschaft in Deutschland zweifeln.63

Ende 2001 konnte die FDP in die BVV einziehen64 und die Rückbenennung in der Koalitionsvereinbarung mit der CDU durchsetzen.65 Laut der Potsdamer Märkischen Allgemeinen Zeitung hatte die FDP in den Koalitionsverhandlungen die Rückbenennung "zu einer zentralen Forderung" gemacht.66 Swen Schulz (SPD) sah die Akzeptanz des Rückbenennungsvorhabens als den Preis, den die CDU für die Wahl ihres Bürgermeisterkandidaten habe zahlen müssen;67 sie habe sich an die FDP "verkauft".68

Am 9.11.2001 sprach Alexander Brenner, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, am Spandauer Mahnmal am Lindenufer und "mischte [...] einen Wermutstropfen in seine Rede" (Märkische Allgemeine Zeitung), indem er auf die Kinkelstraße zu sprechen kam, die man "noch immer nicht umbenannt" habe. Man sollte, so Brenner, an die vierhundert Jahre jüdischer Geschichte in Spandau anknüpfen.69

Nachdem laut der Märkischen Allgemeinen Zeitung am 23.1.2002 CDU und FDP die Rückbenennung hatten eigentlich wieder beschließen wollen,70 nutzten sie dann jedoch, so die Berliner Morgenpost, die von einem "brisanten Thema" spricht, ihre parlamentarische Mehrheit nicht. Laut Bannasch geschah dies in Ermangelung einer ausreichend "breite[n] demokratische[n] Basis", insofern als man von der SPD eine ablehnende Haltung erwartete.71 Ein Artikel der Märkischen Allgemeinen Zeitung hebt Schulz’ Aussage hervor, trotz 16-jähriger Debatte sei die Haltung der SPD noch "vollkommen offen".72 "Bauchschmerzen" plagten die Partei nach eigenen Angaben, und ein Sprecher meinte, die Rückbenennung sei als symbolischer Akt ungeeignet. Brenner kommentierte, wieder einmal sei "eine historisch wichtige, längst überfällige Entscheidung" nicht getroffen worden.73

Letztendlich wurde die Wiedereinführung des Namens "Jüdenstraße" im April 2002 vom Bezirksparlament beschlossen; dafür votierten die CDU, die FDP und vier SPD-Verordnete.74 Bannasch äußerte aus diesem Anlass gegenüber der Märkischen Allgemeinen Zeitung, in einer Zeit, "in der Mitbürger jüdischen Glaubens wegen ihrer Religionszugehörigkeit auf der Straße angegriffen werden, kann dieser Beschluss auch als Solidarität für die Jüdische Gemeinschaft gewertet werden."75

In der Märkischen Allgemeinen Zeitung vom 6.6.2002 geht es vor allem darum, wie die FDP die Rückbenennung durchgesetzt habe. Der Weg zum Namenswechsel erscheint als ein Parforceritt der schreienden Ungerechtigkeit. Nachdem die FDP die CDU dazu gebracht habe, sich an die kleine Partei zu verkaufen (s.o.), hätten sich beide Parteien gemeinsam gegen ein "Mehrheitsvotum der Anwohner" durchgesetzt. Die organisierten Anlieger würden dieses Verhalten als "beschämend und skandalös" bezeichnen. Die Veröffentlichung des Rückbenennungsvorhabens im Amtsblatt stehe bevor, "nur noch der wenig aussichtsreiche Rechtsweg" bleibe ihnen, schließt der Artikel.

Die Zeitung formuliert außerdem, mit Gedenktafeln wollten die Anlieger "auf die wechselvolle Geschichte der Straße aufmerksam machen" (Hervorhebung d.A.). Im Hinblick auf die Epoche der NS-Herrschaft und deren antisemitische Entfernung des Namens "Jüdenstraße" wirkt die Rede von einer "wechselvollen Geschichte" durchaus verharmlosend. "In der Geschichte geht es eben hin und her, das darf man nicht allzu ernst nehmen", könnte man als Subtext der Formulierung lesen. Als zartes Geschehen erscheint der Akt der Umbenennung an anderer Stelle im selben Artikel, wenn von der "während der Nazi-Zeit umgetauften Kinkelstraße" (Hervorhebung d.A.) gesprochen wird.76 Man kann sich leicht die Jüdenstraße als kleines Kind im Taufkleidchen vorstellen, dem recht freundliche Nazis mehr oder minder behutsam einen Namen verleihen.

Im August 2002 informierte das Bezirksamt im Amtsblatt über die bevorstehende Rückbenennung.77 Am 30.8.2002 wurde über die Kritik der SPD am Umbenennungsverfahren berichtet.78

Am 19.9.2002 schrieb der Betreiber von "Robby’s Bistro" in der Kinkelstraße einen offenen Brief. Der Gastronom zeigt sich empört über die bevorstehende Rückbenennung, deren negative Auswirkungen in erster Linie die Spandauer Geschäftsleute zu erwarten hätten; die angeblich drohende Schädigung der lokalen Wirtschaft ist Tenor seines Briefes. Wenn es heißt, die Namensänderung werde "in keinem Falle dazu beitragen, die bereits stak ramponierte Situation der spandauer Geschäftswelt neu zu beleben!" (Schreibweise i.O., Anm. d.A.), könnte man noch zustimmen, aber einwenden, nicht jede Maßnahme der Politik müsse doch primär der Wirtschaft nützen.

Der Verfasser bezieht sich positiv auf Bannaschs Ansatz, den Mittelstand und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern: "Das wäre eine lohnende Aufgabe für den FDP-Vorsitzenden und nicht die abstruse Strassenumbenennung in der heutigen Zeit!" (Schreibweise i.O., Anm. d.A.) "Abstrus" sei es also heutzutage, antisemitische Entscheidungen aus der NS-Zeit zu revidieren. Es stellt sich die Frage nach dem Warum. Weil in der heutigen krisenhaften Situation das unbedingte Primat der Ökonomie zu gelten habe? Oder weil endlich Schluss sein müsse mit dem Gedenken an den Holocaust? Die vermeintlich abstruse Qualität scheint eher mit dem Inhalt der geplanten Maßnahme zusammenzuhängen. Denn gleich darauf heißt es: "Selbst meine Gäste greifen sich verständnislos an den Kopf und kündigen nach Umbenennung in Jüdenstraße den Boykott meines Bistros an." Warum sollten sie das Geschäft boykottieren, ginge es ihnen um das wirtschaftliche Wohl Spandaus? Der Autor hat offenbar Verständnis für die Boykottidee, distanziert sich nicht.

Der Brief schließt mit dem Resümee: "Wenn also Herr Bannasch seine Politik ernst nehmen will, mehr Steuerkraft nach Spandau zu bringen und Firmenansiedlungen zu unterstützen, soll er schleunigst von dem unsinnigen Vorhaben ‚Jüdenstraße’ Abstand nehmen!" Diese Aufforderung impliziert eindeutig die Annahme, der Wechsel von "Kinkelstraße" zu "Jüdenstraße" wäre der Anziehung von Steuergeldern nach Spandau und der weiteren Ansiedlung von Unternehmen abträglich.79 Kurz: Das Jüdische, hier in Form des Straßennamens, schade der wirtschaftlichen Entwicklung.

Im Gegensatz zum Leben im Zeichen der "beeindruckende[n] Biographie" Kinkels sieht der Autor den Namen "Jüdenstraße" als ein Zurück in die tiefste Vergangenheit. Denn "vor siebenhundert Jahren herrschte in Spandau tiefstes Mittelalter!" Doch sogar noch weitreichender wäre der Rückschritt des Bezirks: "Bannasch versetzt mit der Umbenennung der Kinkelstraße Spandau zurück in die Steinzeit!"80

Der Text ist ein Musterbeispiel für latenten Antisemitismus: Von Juden ist überhaupt nicht die Rede, die Wirkung entfaltet sich ausschließlich durch die Implikationen der Worte.


Offener Brief vom 19.9.2002

Am 20.9.2002 wurde berichtet, die Bürgeraktion wolle "in letzter Sekunde" noch die Rückbenennung verhindern.81

Im September 2002 formulierte die SPD-Fraktion einen BVV-Antrag zur stärkeren Einbeziehung der Bürger bei künftigen Straßenumbenennungen. Denn die Änderung eines Straßennamens werde von den Anliegern "in der Regel als unmittelbarer Eingriff in ihre Privatsphäre empfunden und ist deshalb stark emotional belastet". Die anstehende Rückbenennung ausschließlich im Amtsblatt zu veröffentlichen und nur die Grundstückseigentümer zu unterrichten, sei "ein Relikt aus Zeiten obrigkeitsstaatlichen Denkens".82

Die "Bürgeraktion für den Erhalt der Kinkelstraße" brachte ein Flugblatt zum Tag der Rückbenennung, zum 1.11.2002, heraus. In diesem steht: "Nutzen Sie doch [...] diese Gelegenheit, zu erfahren, was dort von Herrn Bannasch und anderen »Offiziellen« zur Umbenennung und zum einhelligen Anwohnerprotest gesagt wird."


Aufrufflugblatt der Bürgeraktion zum 1.11.2002

Wie auch Bannasch hervorhebt, wird der als Gastredner geladene Alexander Brenner von der Jüdischen Gemeinde zwar zunächst unter "die Vertreter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin" gefasst, schließlich aber als "anderer »Offizieller«" bezeichnet. Bannaschs Kommentar: "Deutlicher geht es schon gar nicht mehr. Ich finde, dies ist [...] eine Unverschämtheit" - "da kommt der latente Antisemitismus raus".83 Die Bürgeraktion formuliert weiter: "Es wird aber wohl kaum verboten sein, zu dieser Veranstaltung, die im öffentlichen Straßenraum stattfindet, als interessierte(r) Anwohner hin zu gehen!" (Hervorhebungen i.O., Anm. d.A.) Bannasch interpretiert dies als indirekten Aufruf, die Veranstaltung zu stören.

Für den 28.10.2002 luden die Rückbenennungsgegner zusammen mit der evangelischen St. Nikolai-Gemeinde zu einer Bürgerversammlung in deren Gemeindesaal. Ein Kollege von Bannasch gibt an, "aus dem Kreise der Zuschauer [kamen] wirklich antisemitische Äußerungen: wozu man das denn brauche, und das ist doch alles genug." Offenbar geht es hier um den Wunsch, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, Verantwortung abzulehnen und Erinnerung abzuwehren. Außerdem sagt Bannasch, er habe "drauf aufmerksam gemacht, dass vor mir Vertreter der NPD gesprochen haben. Und habe die gezeigt."

Zur Versammlung schrieb Bannasch dem Tagesspiegel: "Als ich nach Aufforderung [...] das Wort ergriff, wurde ich mehrmals durch anwesende Vertreter der NPD unterbrochen. Antisemitische und undemokratische Zwischenrufe waren in der Folge mehrfach zu vernehmen. Die NPD-Vertreter wurden von mir als solche in meinem Redebeitrag für alle vernehmlich geoutet. Die Neonazis wurden weder des Raumes verwiesen noch an den unsäglichen Zwischenrufen gehindert. Weder der anwesende [...] Pfarrer [...] noch der Sprecher der sog. Bürgeraktion haben von ihren Rechten [...] Gebrauch gemacht. Auch hierzu findet sich keine Bemerkung in der entsprechenden Berichterstattung des Tagesspiegels. [...] Andere Zeitungen haben sehr wohl darüber berichtet." Bannasch behauptet außerdem, es habe auf der Veranstaltung geheißen, er werde noch sehen, was er davon habe, er solle aufpassen. Diese Drohungen hätten keinen Protest ausgelöst.84

Merkmale der Rückbenennungsdiskussion

Tag der Rückbenennung: 1. November 2002

Diskussion nach der Rückbenennung

Resümee

Verwendete Quellen

Anmerkungen:
34 Da es eindeutig die Spandauer FDP war, die die Rückbenennung initiierte und stets vorantrieb, wurde deren Vorsitzender Karl-Heinz Bannasch interviewt, so dass im Folgenden dessen Perspektive und die Aktivitäten seiner Partei eine besondere Stellung einnehmen.
35 Vgl. Schubert, Peter: Staatsschutz ermittelt nach Spandau-Vorfall. In: Berliner Morgenpost v. 5.11.2002.
36 Zit. n. Münner, Lothar: FDP fordert Rückbenennung der Kinkelstraße. In: Berliner Zeitung v. 12.4.1994.
37 Vgl. o.V.: Bubis in Spandau. In: Spandauer Volksblatt v. 18.8.1994.
38 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
39 Zit. n. ebd.
40 Thiele, Günter: Kinkelstraße soll Name behalten [Schreibweise i.O., Anm. d.A.]. In: Spandauer Volksblatt v. 7.3.1996.
41 Vgl. elm: Christen fordern weiter Jüdenstraße. In: Berliner Zeitung v. 14.9.1996.
42 Vgl. Kortmann, Kathryn: Arbeitsgruppe fordert die Präzisierung eines Schildes. In: Berliner Zeitung v. 11.6.1997.
43 Paul 1996.
44 Vgl. Münner, Lothar: Rückbenennung ist endgültig vom Tisch. In: Berliner Zeitung v. 15.5.1998.
45 Vgl. Kunert, Matthias: Erläuterungstafeln an der Kinkelstraße. In: Berliner Zeitung v. 13.9.2001.
46 Die FDP war nicht im Parlament vertreten.
47 Zit. n. bux / elm: BVV-SPLITTER. In: Berliner Zeitung v. 23.8.1996.
48 Zit. n. Münner 1998.
49 bux / elm 1996.
50 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
51 Paul 1996.
52 Vgl. Paul, Lennart: "Forum Kinkelstraße" will Nazi-Unrecht aufarbeiten. Jüdische Gemeinde bleibt aus Protest der Sitzung fern. In: Berliner Zeitung v. 11.1.1997.
53 Ebd.
54 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
55 Münner 1998.
56 Vgl. Kunert, Matthias: Den einzelnen Menschen suchen. In: Berliner Zeitung v. 6.5.1997.
57 Kortmann 1997.
58 Zit. n. ebd.
59 Vgl. Kunert 2001.
60 Eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
61 Vgl. elm: Christen fordern weiter Jüdenstraße. In: Berliner Zeitung v. 14.9.1996.
62 Zit. n. Paul 1996.
63 Vgl. ebd.
64 Vgl. Gäding, Marcel: Ein Fall für den Richter. Anwohner wollen gegen Rückbenennung der Kinkelstraße klagen. In: Berliner Zeitung v. 20.9.2002b.
65 Vgl. Schulz, Stefan: Brenner spürt Pogromstimmung. In: Berliner Morgenpost v. 5.11.2002.
66 Vgl. Kersten, Christian: Kinkelstraße: Streit um Umbenennung. In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 30.8.2002b.
67 Vgl. ebd.
68 Zit. n. Kersten, Christian: Kritik an Rückbenennung wächst. In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 6.6.2002c.
69 Vgl. Heinrich, Grit: Am Mahnmal Lindenufer wurde der Pogrome vom 9. November gedacht. In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 10.11.2001.
70 Vgl. Wobig, Grit: CDU und FDP wollen Rückbenennung. In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 23.1.2002.
71 Vgl. Ud: Jüdenstraße weiter in der Warteschleife. In: Berliner Morgenpost v. 25.1.2002.
72 Zit. n. Wobig 2002.
73 Vgl. Ud 2002.
74 Vgl. kusch: Bezirksverordnete für "Jüdenstraße". In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 26.4.2002.
75 Zit. n. ebd.
76 Vgl. Kersten 2002c.
77 Vgl. Gäding 2002b.
78 Vgl. Kersten 2002b.
79 Auch der spezielle Aspekt der Verursachung von Kosten für neue Briefköpfe etc. wird angeführt, spielt aber gegenüber der Thematisierung der gesamten ökonomischen Situation Spandaus in dem Brief nur eine periphere Rolle.
80 Vgl. Kühl, K.-J.: Umbenennung Kinkelstrasse in Jüdenstrasse [Schreibweise i.O., Anm. d.A.]. Offener Brief v. 19.9.2002.
81 Vgl. Gäding 2002b.
82 Vgl. SPD-Fraktion Spandau: Bürgerfreundliches Verfahren für Straßenumbenennungen. September 2002, http://www.spd-fraktion-spandau.de/bvv/bvv_0209.htm.
83 Eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
84 Vgl. ebd.

hagalil.com / 08-02-2004


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