Die Gegend rund um
die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße ist Jewish Disney
World. Die Legendenbildung "um das jüdische Viertel" gedeiht, und so
wird Schweinefleisch schon mal koscher. Das Etikett "jüdisch" sorgt
für Publikum: Immer mehr Touristen und Berliner kommen, um "jüdische
Orte" zu erleben. Der Vermarktung und Verkitschung des
"Jüdischen" beschäftigt jetzt Sozialwissenschaftler.
Die Bildungsreferentin Iris Weiss bietet einen Stadtrundgang zum Thema "Jewish
Disneyland" an. Denn der Mythos vom jüdischen Viertel ist längst auch Produkt.
Am Leben gehalten wird er von einem Angebot an plakativen Insignien jüdischer
Kultur. Zum Beispiel hebräische Schriftzüge an Ladentüren, Bagelshops,
Klezmerkapellen und koschere Speisekarten. Drei jüdische Restaurants gibt es in
der Spandauer Vorstadt - aber noch mehr Lokale, die den Eindruck erwecken,
jüdisch zu sein. Zum Beispiel das "Mendelssohn". Die Küche serviert Schnitzel
mit Rahmgemüse, ein Gericht, das kein koscherer Speiseplan erlaubt.
"In Berlin sind die meisten Veranstaltungen, die als ,jüdisch' firmieren von
Nichtjuden für Nichtjuden", hat Iris Weiss festgestellt. Diese Tatsache sei
zunächst nicht kritikwürdig, meint Weiss. Sie, die selbst aus einer
deutsch-jüdischen Familie stammt, stört jedoch die Reproduktion von Klischees
dabei. "Mit der Realität von Juden in Berlin heute hat diese Folklorisierung und
Romantisierung nichts zu tun", meint sie.
Das "Hackesche Hof Theater" zum Beispiel, vor dem ihr Rundgang beginnt, bietet
zweimal die Woche "jiddische Klezmer"-Konzerte an. Klezmer ist traditionell die
Musik der Ostjuden. Andere zeitgenossische jüdische Musikformen sind nicht im
Programm. Für Weiss ein Zeichen, dass jüdische Kultur auf das Stereotyp des
"Ostjuden mit Kippa und Schläfenlocken" reduziert wird. So würden auch heute
wieder "Juden zu Exoten gemacht".
Weitere Stationen ihrer Führung sind ein Spielzeugwarenladen, der inzwischen
auch siebenarmige Leuchter und andere Judaika in Schaufenster stehen hat, oder
das Haus der "Jerusalem Gemeinde". Diese wirbt mit jüdischen Symbolen und dem
Feiern des jüdischen Laubhüttenfestes neue Mitglieder für ihre - allerdings
christliche - Freikirche.
Doch der Mythos des "jüdischen Viertels" wird auch von ihren Stadtführerkollegen
vorangetrieben, sagt Weiss. Jede Woche werden etwa zehn Rundgänge zu den
"jüdischen Orten" in der Spandauer Vorstadt angeboten. Bei den meisten werde
indes nur über die Vergangenheit gesprochen, kritisiert sie. Die Tatsache, dass
heute 12.000 Juden in der Stadt leben, würde kaum erwähnt, ebensowenig wie die
rege Arbeit des jüdischen Kulturvereins oder die immer wieder zu beklagenden
Schändungen des Moses-Mendelssohn-Gedenksteins am ehemaligen Jüdischen Friedhof
an der Großen Hamburger Straße. Stattdessen rutsche den Kollegen eher noch eine
antisemitische Äußerung aus dem Mund, hat Weiss erlebt.
Wer "jüdisches Leben" in der Spandauer Vorstadt sucht, geht vor allem dorthin,
"um zu verstehen, warum der Holocaust passieren konnte", hat Weiss in ihrer
jahrelangen Arbeit als Stadtführerin erfahren. "Damit macht man indes wieder die
Juden verantwortlich", findet sie. "Man muss die Täterseite untersuchen, um den
Holocaust zu begreifen."
Die Vermarktung von jüdischen Bräuchen und Kultur, wie Weiss sie mit "Jewish
Disneyland" anprangert, wird indes nicht nur in Berlin betrieben. Das Phänomen
findet sich in ganz Europa. Es ist im polnischen Krakau genauso zu beobachten
wie im italienischen Städtchen Pitigliano. Die in Paris lebende
Sozialwissenschaftlerin Diana Pinto stellt deswegen nicht von ungefähr in ihrem
Essay "zu einer neuen europäisch jüdischen Identität" die Frage: "Wie sollen
Juden an die entstehenden ,jüdischen Räume' herangehen und intervenieren, die in
steigendem Maße von Nichtjuden initiiert, bevölkert und sogar verwaltet werden?"
Iris Weiss macht jetzt Stadtführungen zum Thema. Das ist schon mal eine Antwort.
"Jewish Disneyland" am 3. und 10. Dezember um 13. 30 Uhr. Start S-Bahnhof
Hackescher Markt taz, 20.11.2000, KIRSTEN
KÜPPERS
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haGalil onLine
22-11-2000
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