SZ vom 06.11.1997
„Es gibt noch viele, die warten“
Erstmals muß Bonn KZ-Zwangsarbeiterin
individuell entschädigen
Zum ersten Mal in der
Rechtsprechung der Bundesrepublik ist einer jüdischen Zwangsarbeiterin
eine Entschädigung für in der NS-Zeit entgangenen Lohn zugesprochen
worden. Nach dem Urteil der 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichts muß
die Bundesregierung der in Israel lebenden Rywka Merin, die in Auschwitz
55 Monate lang Zwangsarbeit in der Munitionsfabrik „Union Metall
Weichsel“ leistete, eine einmalige Entschädigung in Höhe von 15 000 Mark
zuzüglich vier Prozent Zinsen zahlen (Az.: 1 O 134/92).
Das Bonner Urteil ist bemerkenswert,
weil das geltende Recht keine Entschädigung für Zwangsarbeit
vorsieht. Eine grundsätzliche Trendwende in der
Entschädigungsdebatte bedeutet es jedoch nicht. Der Klägerin Merin
steht nach Ansicht des Gerichts nur deshalb eine Zahlung zu, weil
sie bisher nicht nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 1965
abgefunden worden ist. Abgewiesen wurde dagegen die Klage auf
Nachzahlung der übrigen 21 Kläger, die in Auschwitz ebenfalls für
die Munitionsfirma Zwangsarbeit leisten mußten. Sie haben bereits
nach dem Bundesentschädigungsgesetz für ihre KZ-Haft Zahlungen sowie
laufende Renten erhalten. Damit sei auch die Zwangsarbeit
abgegolten, sagte der Vorsitzende Heinz Sonnenberger; dem Gericht
seien die Hände gebunden. Er forderte eine politische Lösung des
Streits um die Entschädigung von NS-Opfern: „Es gibt noch viele, die
warten.“
Die Frage der Lohnnachzahlungen
stellt sich bei den in der NS-Zeit insgesamt 12 Millionen in
Landwirtschaft und Industrie eingesetzten Fremdarbeitern vor allem
für die zivilen „Ostarbeiter“ und die in den Konzentrationslagern
inhaftierten Polen und Juden. Nur wenige der Zwangsrekrutierten sind
bisher entschädigt worden. Und nur wenige haben überlebt. Auch als
das NS-Regime wegen des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels von der
reinen Vernichtung auf das Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“
umschaltete, blieben die Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge derart,
daß sie schnell „verbraucht“ waren. In den eigens für die IG Farben
errichteten Lagern Auschwitz III (Buna) und IV (Monowitz) überlebte
ein Arbeiter im Durchschnitt drei bis vier Monate.
Die genaue Zahl der in den
Konzentrationslagern ausgebeuteten Arbeitssklaven ist folglich nicht
zu ermitteln. Eine Aufstellung des
SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts schätzt für Ende 1944 500 000 bis
600 000 KZ-Insassen, die „für den Arbeitseinsatz zur Verfügung
gestellt“ worden waren. Die Häftlinge wurden von der SS an die
Unternehmer vermietet – für drei bis vier Mark pro
Häftlingsarbeitstag –, erhielten selbst aber keinen Lohn. Der floß
dem Reich und der SS zu.
Sollte das Urteil vor der nächsten
Instanz Bestand haben, könnten Tausende ehemaliger Zwangsarbeiter
vornehmlich aus dem Osten Ansprüche auf ihnen vorenthaltenen Lohn
geltend machen – wenn sie das letztinstanzliche Urteil denn noch
erleben. Von den 22 Klägern sind zwei schon gestorben.
Aufsehenerregend an dem Prozeß ist indes, daß er überhaupt
stattfand. Bisher waren klagende Zwangsarbeiter von den Gerichten
regelmäßig wegen Fristüberschreitung abgewiesen worden. Hier setzt
das Bonner Urteil einen Präzedenzfall: Frau Merin, so das Gericht,
habe bis 1968 in Polen gelebt und deshalb ihre Ansprüche nicht
geltend machen können.
Elisabeth Bauschmid
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